Europa Zwei für 410 Millionen
Die Bässe wummern, aus den Lautsprechern schallt "Burning Heart" der US-amerikanischen Rockband Survivor. Es passt nicht so recht zu dem älteren Mann mit den graumelierten Haaren und dem schwarzen Nadelstreifenanzug, der gerade durch ein Spalier jubelnder CDU-Delegierter in Rotenburg an der Fulda schreitet. Einige heben Pappschilder in die Höhe, auf denen steht: "Juncker for President".
Jean-Claude Juncker erklimmt die Bühne, er sieht müde aus. Es ist Mitte Mai, der 37. Tag seiner Kampagne. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier wünscht viel Kraft. "Ich hätte lieber ein Bier", flüstert Juncker Bouffier zu. "Ein Bier für Jean-Claude!", ruft Bouffier.
"Ich komme mir vor wie Obama", sagt Juncker in seiner Rede. Der US-Präsident müsse im Wahlkampf ja auch einen ganzen Kontinent bereisen, "nur dass Obama die Air Force One hat und ich nur einen Bus".
Wenige Tage zuvor beginnt Martin Schulz auf der Autobahn 1 hinter Bremen der Magen zu knurren. Seine Wahlkampfdelegation rollt auf eine Autobahnraststätte, der Kandidat steigt aus, hinter den Fahrzeugen erblickt Schulz die Leuchtreklame eines Schnellrestaurants. Der Hunger verwandelt sich in Wut.
"Burger King???"
"Könnt ihr mir nicht etwas Ordentliches suchen?"
Seine Mitarbeiter reagieren nicht, sie kennen die gelegentlichen Attacken des Chefs. Sie sind nicht ernst gemeint, es ist seine rheinische Art des Stressabbaus. Der Mitarbeiter sagt nun, es gebe ein Serways-Restaurant als Alternative.
"Serways??", brüllt Schulz.
Es folgt ein nicht zitierbarer Kraftausdruck.
Schnaubend läuft er über den Parkplatz. Der Tag war lang, in den vergangenen Stunden hat er fünf Städte besucht, ein Stahl- und ein Heizkraftwerk, eine Sozialeinrichtung, er hat auf zwei Marktplätzen geredet, Interviews gegeben, telefoniert, Termine abgesteckt. Und jetzt, zum Abschluss dieses Tages, gibt es für den Präsidenten des Europäischen Parlaments eine Currywurst mit Pommes auf einer Raststätte hinter Bremen.
Europa ist in diesen Wochen Schauplatz eines einzigartigen Experiments. Noch nie haben zwei Kandidaten miteinander direkt um das höchste Regierungsamt in Brüssel konkurriert. In dieser Woche findet die erste Europawahl statt, bei der die 410 Millionen Wahlberechtigten nicht mehr bloß eine Partei wählen sollen. Diesmal soll es um Gesichter gehen, um zwei Kontrahenten.
In 28 Ländern stehen sich Martin Schulz, 58, und Jean-Claude Juncker, 59, gegenüber. Sie werben für Unterstützung und Kooperation zwischen Estland und Portugal, zwischen Irland und Griechenland. Aber kann dieses Experiment gelingen? Kann ein Wahlkampf in so vielen verschiedenen Ländern funktionieren?
Die Wahl fällt in eine Zeit, in der sich Bürger und Brüssel so fremd sind wie nie. In den letzten fünf Jahren ist die Wirtschaft vieler Länder Südeuropas eingebrochen, die Schulden sind explodiert, in manchen Regionen ist jeder zweite junge Mensch arbeitslos. Die Euro-Krise hat sich in eine Identitätskrise des Kontinents verwandelt. Dabei kämpften die Parteien bereits vor fünf Jahren gegen das Desinteresse an der EU.
Um die europamüden Menschen aufzuwecken, haben die Parteienfamilien die Spitzenkandidaturen erfunden. Aber sind die Unterschiede zwischen der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) und den europäischen Sozialisten (PES) überhaupt groß genug, um echten Wettbewerb zu entfachen?
Selbst wenn es gelingt, steht dem Gewinner der schwierigste Kampf erst bevor. Denn es geht bei diesem Wahlkampf auch um die Frage, ob es überhaupt möglich ist, Europa demokratischer zu machen. Viele Staats- und Regierungschefs wehren sich dagegen, dass ihnen das Europäische Parlament einen Kommissionspräsidenten aufzwingen will.
Denn im Lissabon-Vertrag ist geregelt, dass die Staats- und Regierungschefs jemanden für den Posten vorschlagen. Erst danach stimmt das Parlament darüber ab. Auf einmal haben die Kontrahenten in Europa, Schulz und Juncker, eine gemeinsame Gegnerin: Bundeskanzlerin Angela Merkel.
An einem Dienstag im Mai besucht Martin Schulz Lissabon, Straßenwahlkampf. In Portugal hingen noch Monate zuvor Fotos von Merkel mit einem Hitlerbart, Deutschland wird hier von vielen als übermächtig wahrgenommen. Nun sollen sie einem Deutschen zur Kommissionspräsidentschaft verhelfen, als Nachfolger ihres Landsmanns José Manuel Barroso?
Drei Kreuzfahrtschiffe liegen an diesem Tag im Hafen, Tausende Touristen streifen durch die Altstadt. Mittendrin walzen sich Kameraleute, Fotografen und die portugiesische Parteijugend der Sozialisten durch die Straßen. In der Mitte läuft Martin Schulz und schwitzt.
Als Schulz in einem Start-up-Büro in der Innenstadt haltmacht, springt ein junger Mann mit Locken und weißem T-Shirt vom Schreibtisch auf. Schulz steht ihm gegenüber, im Büro wird der Platz eng.
"Mein Name ist Martin Schulz, ich kandidiere für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission."
Es entsteht eine Pause, beide schweigen sich an. Schulz: "Und, was machen Sie hier genau?"
"Wir sind eine Internetfirma mit Sitz in London und Lissabon."
Der Kandidat scheint dem jungen Mann so unbekannt zu sein wie die Europäische Kommission.
In Portugal können die wenigsten Passanten Schulz identifizieren. Als er durch Lissabon läuft, bleiben immer wieder Menschen stehen, ungläubige Blicke. Eine Frau fragt auf Französisch: "Wer ist das?" Schulz winkt, als er von einer Gruppe deutscher Urlauber angehalten wird.
Es ist eines der Probleme des Wahlkampfs. Beide, Schulz und Juncker, müssen Identität herstellen über Grenzen, sie müssen sich auf verschiedene Kulturen einlassen und in fremden Sprachen begeisternde Reden halten. Der Wahlkampf wird so auch ein Kampf der besten Sprachtalente. Schulz spricht fließend Französisch und Englisch. Auch in Spanien und Italien hält er seine Reden in den Landessprachen. Juncker verhandelt ebenso sicher in fließendem Englisch, Deutsch und Französisch.
Manchmal geraten den Kandidaten allerdings die Vokabeln durcheinander. Anfang vergangener Woche, im Wahlkampfendspurt, fällt Jean-Claude Juncker bei einer Podiumsdiskussion ein Wort auf Französisch nicht ein. "Wie sagt man Panzer?", fragt er den Konservativen Bruno Le Maire auf Deutsch. "Char", antwortet der. In Madrid hat Juncker am Ende zwei Übersetzungskopfhörer um den Hals hängen, weil keiner richtig funktioniert. "Das nächste Mal lerne ich Spanisch", spottet er.
Der Luxemburger besucht während seiner zweimonatigen Kampagne 32 Städte in 18 Ländern der EU, von Helsinki bis Madrid, von Zypern bis Dublin. Er gab bisher 27 Pressekonferenzen und mehr als 300 Interviews. Für die weiten Reisen charterte er ein kleines Flugzeug, sonst war er in einem eigenen blauen "Juncker for President"-Bus unterwegs.
In Sofia empfingen ihn 15 000 Fans im örtlichen Fußballstadion, in Braunschweig trat er im Eintracht-Stadion auf, er diskutierte mit Unternehmern, drückte auf dem Wiener Naschmarkt die Hände von Falafel-Verkäufern und besuchte das Münchner BMW-Werk. Sein Kontrahent Martin Schulz hatte in manchen Wochen noch mehr Termine. Der Wahlkampf wurde zu einer Reise durch die Kulturen, auf der die Kandidaten an manchem Morgen nicht mehr wussten, wo sie eigentlich gerade übernachtet hatten.
Freitag, 9. Mai, Florenz, Piazza della Signoria. Die Scheinwerfer strahlen noch auf die Bühne im ehrwürdigen "Saal der Fünfhundert" des Palazzo Vecchio, gerade ist eines der insgesamt neun Fernsehduelle mit Juncker und Schulz zu Ende gegangen. Austragungsort diesmal: Italien; Sprache: Englisch.
Martin Schulz läuft durch die Menge, die Zuschauer wurden streng ausgewählt, einige Studenten internationaler Fakultäten, dazu viele Männer in Anzug, einzelne Parteianhänger, Spin-Doktoren. Am Ende des Raumes öffnet sich ein Fahrstuhl, Schulz schiebt sich hinein, die Tür schließt sich.
"Anderthalb Stunden verlorene Zeit", schimpft er. "Wir haben nicht über Jugendarbeitslosigkeit geredet, nicht über Wirtschaft, nicht über den Euro."
"Nicht über den Eu-Ro!", wiederholt er. Stattdessen habe man eine halbe Stunde für institutionelle Fragen verschwendet. "Das ist eine Blase hier, das dreht sich nur um sich selbst."
Schulz und Juncker kämpfen gemeinsam gegen das Desinteresse an der Wahl. Selbst manchem gebildeten Bürger fällt noch kurz vor der Entscheidung schwer, die Spitzenkandidaten der gemeinsamen Parteienfamilien zu benennen. Es ist für viele einfach nicht spannend genug.
Das Problem ist, dass sich Schulz und Juncker in kaum einem Standpunkt voneinander unterscheiden. Beide sind überzeugte Proeuropäer, wollen mehr Demokratie in Brüssel, wollen den Ländern und Regionen dort Macht zurückgeben, wo es geht. Selbst Schuldenvergemeinschaftung können sich der Konservative und der Sozialdemokrat vorstellen, auch wenn beide es bestreiten. Das begeistert nicht einmal zur besten Sendezeit. Die Debatte am Vortag in Deutschland verfolgten weniger als zwei Millionen Zuschauer. Ein Krimi im Ersten war unschlagbar. Auch "Germany's Next Topmodel" lief deutlich besser.
Es ist das Dilemma beider Kandidaten. Eine europäische Öffentlichkeit mag hier und dort existieren, aber der Mehrheit ist die Europawahl egal. Auf einen Wahlkampfauftritt in Großbritannien verzichteten Juncker und Schulz. Europa ist auf der Insel so unbeliebt, es würde nur nach hinten losgehen.
Anfang Mai läuft Jean-Claude Juncker im Berliner Konrad-Adenauer-Haus CDU-Generalsekretär Peter Tauber in den Arm. Tauber hat für den Luxemburger eine kleine Party nach dem ersten deutschen Fernsehduell organisiert. Tauber will jetzt ein Foto machen.
Er hat ein dunkelblaues Polohemd mitgebracht, auf dem "TeAM Europa" steht. AM - das steht für Angela Merkel, die mit dem Europaparlament aber nichts zu tun hat. Juncker winkt ab, er hat keine Lust auf den Generalsekretär einer Partei, die bislang im Wahlkampf keine große Hilfe war und lieber die Kanzlerin auf Plakate druckt als ihn.
Seit Monaten schwelt ein Streit zwischen Juncker und Merkel. Vordergründig geht es für Juncker um fehlende Unterstützung im Wahlkampf. Dahinter steckt eine grundsätzliche Auseinandersetzung, der sich Juncker genauso stellen muss wie Martin Schulz. Es geht um die Macht in Europa: Wer darf den nächsten Kommissionschef bestimmen? Das Europaparlament oder die Staats- und Regierungschefs?
Lange hatte sich Merkel dagegen gewehrt, dass die europäischen Konservativen einen Spitzenkandidaten aufstellen. Sie fürchtete, dass die Kommission zu einer mächtigen europäischen Regierung wird. Erst als die Sozialdemokraten Martin Schulz zu ihrem Kandidaten machten, lenkte Merkel ein. Juncker bekam das zu spüren.
Auf dem Europaparteitag der CDU in Berlin Anfang April ist für ihn gerade mal ein Grußwort vorgesehen. Drei Wochen später macht Juncker bei einem Besuch vor der Düsseldorfer CDU-Landtagsfraktion seinem Ärger Luft. Ein Abgeordneter fragt, warum in Deutschland keine Plakate vom Kandidaten hingen.
Da platzt Juncker der Kragen. "Es reicht mir!"
Er habe unzählige Interviews gegeben, "aber Interviews ersetzen keine Plakate". Er könne der Bundespartei keine Vorschriften machen. "Aber es erweckt das Gefühl, es gäbe uns gar nicht."
Die SPD macht es anders und plakatiert Schulz großflächig. Im fünften Stock des Willy-Brandt-Hauses hat Matthias Machnig sein Büro bezogen, bereits unter Gerhard Schröder war er erfolgreicher Kampagnenmanager. Ihm arbeiten 80 Mitarbeiter in der Parteizentrale zu. In seltener Einigkeit verfolgen Schulz, Machnig und Parteichef Sigmar Gabriel das Motto der Wochen: immer gegen Merkel. In den Umfragen für das deutsche Europaergebnis liegt die SPD trotzdem weit hinter der Union.
An einem Sonntag Mitte Mai schlängelt sich Schulz' Wahlkampfbus durch die engen Straßen der andalusischen Stadt Málaga, da kommt dem Kandidaten das TV-Programm des Vortags in den Sinn: der Eurovision Song Contest. Er dreht sich zu seiner niederländischen Mitarbeiterin.
"Habt ihr das nicht gewonnen gestern?"
"Nein, Conchita Wurst hat gewonnen."
Schulz hält einen Moment inne, dann verzieht sich sein Gesicht.
"Conchita wer? Conchita Wurst??", Schulz guckt ungläubig, er will gerade noch einmal nachfragen, da unterbricht ihn eine andere Mitarbeiterin. "Martin, nur damit du es weißt, du hast ihr gestern auf Twitter gratuliert." Dann hält der Bus, der nächste Termin.
Es sind harte Wochen gewesen für Martin Schulz und Jean-Claude Juncker, wenige Tage bleiben für die letzten Wahlkampfauftritte. Funktioniert hat dieser Wahlkampf vor allem dort, wo die beiden ohnehin ihre Anhänger hatten. Für Schulz in Nordrhein-Westfalen, im sozialistisch geprägten Andalusien und auf Malta, bei den Gegnern Berlusconis in Italien. Bei Juncker in Osteuropa und in einigen Südländern.
Viele Teile des Kontinents haben beide aber gar nicht erreicht. Die euroskeptischen Länder wurden kaum oder gar nicht besucht. Und immer wieder schien auf, wie schwer es ist, mit ausländischen Bewerbern an die eigene Bevölkerung heranzukommen. Selbst in Deutschland sagen laut einer repräsentativen Umfrage von TNS Infratest für den SPIEGEL nur 21 Prozent der Bevölkerung, ihr Interesse an der Europawahl sei dadurch gesteigert worden, dass es Spitzenkandidaten gebe. Den großen Rest ließ das Ganze eher kalt.
So gesehen ist das Experiment mit der europaweiten Demokratie erst einmal gescheitert. Aber Fakten hat es trotzdem geschaffen, Fakten, die machtpolitisch zählen. Nach Wochen der Kampagne ist es mittlerweile nämlich kaum vorstellbar, dass ein anderer als Juncker oder Schulz Kommissionspräsident werden kann. Die Regierungschefs haben ihre besondere Position verloren. 78 Prozent finden es gut, dass die Wähler über den Kommissionspräsidenten mitbestimmen können. Nur 13 Prozent sagen, die Regierungschefs sollten allein entscheiden dürfen. Das ist ein Fortschritt für die Demokratie in Europa.
Dienstag vergangener Woche, über Paris: Junckers Learjet beginnt den Landeanflug, er raucht eine Zigarette, die Kabine füllt sich mit Qualm.
"Die Europäer können sich noch nicht vorstellen, dass die Parteien es ernst meinen mit den Spitzenkandidaten", sagt Juncker. Dafür habe der Wahlkampf viel zu spät begonnen. Er drückt die Zigarette aus, zieht ein Fazit. Es gebe ihn einfach nicht, "den direkten Draht zwischen Bürgern und der Brüsseler Politik", sagt Juncker. "Noch nicht."
Martin Schulz sitzt auf dem Rückweg aus Südspanien in seinem Charterflugzeug und schaut aus dem Fenster. An Bord hat er Lachs und Spargel gegessen, jetzt sieht er unter sich die Sierra Nevada vorbeistreifen.
"Es grüßen von Ferne", singt Schulz, "die silberne Sterne - Granada."
Er kommt in Fahrt, es folgt eine Oper, dann diverse Gedichte, am Ende französisches Chanson. Als das Flugzeug den spanischen Luftraum verlassen hat, zieht auch Schulz Bilanz.
War dieser Wahlkampf erfolgreich? "Ganz einfach", sagt Schulz, die Krawatte ist abgelegt, ein Knopf des Hemdes geöffnet. "Wenn einer von uns beiden Kommissionspräsident wird, war er erfolgreich."