Verkehr „Gefahren wie Wildsäue“
Notarzt Burkhard Hinz fragt, ob man die Bilder wirklich sehen wolle, dann fährt er seinen Laptop hoch und bewegt den Mauszeiger über den Bildschirm. "Wo sind die denn bloß?", sagt er, beugt sich etwas vor, weil das Sonnenlicht in der Einsatzzentrale blendet, dann findet er die Fotos, die er mit seinem Handy machte. Am Freitag, 8. April 2011, irgendwann am späten Nachmittag, als er den Menschen nicht mehr helfen konnte.
Der 54-jährige Mediziner am Krankenhaus Güstrow kennt die Bilder, sie begleiten ihn oft bis in den Schlaf. Anfangs klickt Hinz so schnell weiter, dass man kaum folgen kann. Zu sehen sind: Autos, ausgebrannt und grotesk verformt, ineinander verkeilt, auf der Seite liegend, halbiert. Sanitäter hinter Rauchschwaden. Ein Mensch, der hinterm Steuer verbrannte. Feuerwehrleute mit Atemschutzmaske. Ein Rettungshubschrauber, der startet, um Schwerverletzte wegzubringen von diesem Ort auf der Autobahn 19 in Mecklenburg-Vorpommern, wo an diesem Tag 8 Menschen starben und 44 schwerer verletzt wurden.
Der Massen-Crash zwischen Güstrow und Rostock, in den 83 Autos mit knapp 150 Insassen verwickelt waren, ist einer der schlimmsten Unfälle der deutschen Straßenverkehrsgeschichte. Er begann mit einem Sturm, der über die staubtrockenen Felder fegte und auf die Autobahn eine Sandwolke blies, die den Fahrern die Sicht erschwerte. Er endete mit einem Feuer, das vom scharfen Wind angefacht wurde und sich von einem Auto zum nächsten fraß. "Es war die Hölle", sagt Hinz, der mit dem Hubschrauber kam und der erste Arzt am Unfallort war.
Was war genau geschehen zwischen den Ausfahrten Laage und Kavelstorf? Hatte sich dort in der Zeit von 12.30 bis 12.50 Uhr eine Katastrophe ereignet, die unausweichlich war? Stimmt es, was der damalige Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer am Tag des Infernos sagte: "Selbst höchsten Anstrengungen bei der Verkehrssicherheit werden durch solche extremen Naturgewalten Grenzen gesetzt"? Trugen die Landwirte eine Mitschuld, weil sie zu wenige Hecken zum Schutz gegen Verwehungen angelegt hatten?
Polizei, Staatsanwaltschaft und Unfallanalytiker von der Dekra benötigten drei Jahre, um Antworten zu finden. Sie interessierten sich besonders für das Geschehen auf der Fahrbahn Richtung Norden, auf der 60 Pkw und Lkw ineinanderkrachten und alle acht Opfer zu beklagen waren. Jetzt glauben die Ermittler, dass es nicht der Sandsturm oder fehlende Sicherheitsvorkehrungen waren, die diese Männer und Frauen das Leben kosteten: Es war vor allem menschliches Versagen. "Einige Autofahrer sind gefahren wie Wildsäue", sagt ein Ermittler.
Voraussichtlich Ende dieser Woche wird die Staatsanwaltschaft gegen sechs Pkw- und zwei Lkw-Fahrer Anklage erheben oder Strafbefehle beantragen. Fünf von ihnen wird fahrlässige Tötung vorgeworfen, einem weiteren fahrlässige Körperverletzung, zweien die Gefährdung des Straßenverkehrs. Die Ermittlungsbehörden stützen sich auf ein Wettergutachten und etliche Zeugenaussagen zu den Sichtverhältnissen. Sie halten es für belegt, dass der Sandsturm mindestens 600 Meter vor der Unfallstelle zu sehen war; die Beschuldigten hätten langsamer fahren müssen.
Laut dem "Sichtfahrgebot" muss man "innerhalb der übersehbaren Strecke" anhalten können. Die Sicht im Sandsturm betrug nicht einmal zehn Meter, die Autofahrer hätten mit kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit unterwegs sein dürfen. Nach Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft fuhren die Beschuldigten aber mit mehr als 80 Stundenkilometern in die Sandwolke. Das taten zwar auch etliche andere Unfallbeteiligte, allerdings ist laut Staatsanwaltschaft nur den acht Fahrern nachzuweisen, dass ihr Fehler gravierende Folgen hatte.
Ihre Autos krachten auf die Fahrzeuge anderer Manschen, die langsamer fuhren oder wegen der schlechten Sicht angehalten hatten. Mindestens sechs der acht Opfer sollen dadurch tödliche Verletzungen erlitten haben oder in eine Situation geraten sein, aus der es wenig später wegen des Feuers kein Entrinnen mehr gab. Einer der Beschuldigten ist wohl nicht nur verantwortlich für den Tod seines Mitfahrers, sondern auch für den eines anderen Opfers. Ein weiterer soll mit Tempo 150 in die Unfallstelle gerast sein.
Es ist nicht unüblich, dass die Rekonstruktion eines Massenunfalls mehrere Monate dauert. Der Fall Rostock sei aber "besonders kompliziert" gewesen, sagt Jörg Ahlgrimm, 64, Chef der Dekra-Unfallanalyse. Die Arbeit der Ermittler litt unter einer miserablen Spurenlage und darunter, dass Zeugen wenig oder Widersprüchliches über das berichteten, was sich auf der A 19 abgespielt hatte.
Schon bei Tageslicht-Unfällen mit nur zwei Autos fällt es vielen Beteiligten und Beobachtern schwer, das Geschehen zu rekonstruieren. Am Massencrash waren mehr als 40-mal so viele Fahrzeuge beteiligt - und die Sicht war so schlecht wie bei extremem Nebel.
"Es kam mir vor, als hätte ein Riese eine Decke auf die Autobahn geworfen", sagt der Berufsschullehrer Steffen Geufke, 43. Als er die Sandwolke sah, bremste Geufke seinen VW Passat herunter, doch er tat es wie viele andere zu spät und nicht entschlossen genug. So knallte er auf ein anderes Fahrzeug, einen VW Bulli. Die Ermittlungen gegen Geufke und etliche andere, die zu schnell gefahren sein sollen, wurden im März eingestellt, weil nicht nachzuweisen war, dass jemand durch ihr Fehlverhalten zu Schaden kam.
Auch Geufke war nur ein bisschen benommen, als er nach einer Weile aus seinem Wagen ausstieg. Sand peitschte ihm in die Augen, die Luft war heiß und rauchig vom Feuer, das etwas entfernt ausgebrochen war. Der Vater zweier Töchter ging auf wackligen Beinen blinzelnd und hustend zur Leitplanke, wo sich bereits einige andere Unfallbeteiligte versammelt hatten. "Wir waren alle komplett durcheinander", sagt er.
Besonders der Lärm blieb Unfallbeteiligten und Nothelfern in Erinnerung. Sie hörten Fahrzeuge, die in den Pulk krachten; den Wind, der mit einer Geschwindigkeit von etwa 80 Stundenkilometern über die Autobahn pfiff; das lodernde Feuer, das auch etliche Explosionen auslöste, einer der Lkw hatte Gaskartuschen geladen. Die Geräuschkulisse sei so "verwirrend" gewesen, dass die Schreie der Verletzten, die in ihrem Auto um Hilfe riefen, nur sehr schwer zu orten gewesen seien, sagt Hinz.
Weil die Zeugenaussagen nicht genügend hergaben, um Raser aufzuspüren, waren die Dekra-Experten auf Beweise wie Bremsspuren angewiesen. Doch auch daran fehlte es. Die moderne Unfallanalyse ist schon schwierig genug, auch weil die Autos heute "keine gesunde Farbmischung" mehr haben, wie Chefanalytiker Ahlgrimm bemängelt. Vor 30 Jahren konnte man durch den Lack-Abrieb, den es bei jedem Crash gibt, viel leichter herausfinden, welche Fahrzeuge einander berührt hatten. Heute sind weit mehr als die Hälfte aller Autos schwarz oder silbergrau - das macht die Sache aufwendiger.
Auf der A 19 war die Situation besonders verfahren, weil das Feuer Aluminiumteile und Kunststoffschürzen schmelzen ließ, mit deren Hilfe man die Heftigkeit von Zusammenstößen hätte abschätzen können. Das Feuer griff zudem die Fahrbahn und damit die Bremsspuren an, die Rückschlüsse über Geschwindigkeiten und Bremsversuche möglich gemacht hätten.
Den Analytikern blieb die Möglichkeit, sich mithilfe von Luftaufnahmen und mehr als 2000 Fotos der beschädigten Fahrzeuge an die Lösung heranzutasten. Am Computer wurden Abbildungen verformter Pkw-Teile wie Puzzlestücke aneinandergelegt und Theorien für alle Fahrzeugpositionen entwickelt - bis fast alles zueinanderpasste. Ein komplexes Unterfangen, weil der Pulk eines Massenunfalls einem Haufen Billardkugeln gleicht, die dicht zusammenliegen: Kommt von hinten ein weiteres Fahrzeug angeschossen, gerät alles aufs Neue in Bewegung - Autos rutschen, fallen auf die Seite, heben manchmal ab und landen weiter vorn.
Es waren vor allem die am Unfall beteiligten Lkw, die die Lage stark veränderten. Ein Lastwagen, der von einem anderen einen Stoß bekam, begrub einen Mittelklassewagen unter sich; Fahrer und Beifahrer überlebten schwer verletzt. Andere traf das Schicksal noch härter. Die Lkw schoben laut Dekra einige Autos so eng zusammen, dass die Insassen ihre Türen nicht mehr öffnen konnten.
Das wurde spätestens dann zum Problem, als es im Motorraum eines Wagens einen Funkenschlag gab. Ein Feuer brach aus, wurde vom Wind angefacht und fand ausreichend Nahrung: Benzin war ausgelaufen, und einer der Lkw hatte Dachpappe geladen, die erst am nächsten Tag komplett gelöscht werden konnte.
Es wird niemals geklärt werden, ob die Menschen, die in dem Pulk umkamen, noch leben könnten, wenn es das Feuer nicht gegeben hätte. Die Staatsanwaltschaft hält es allerdings für erwiesen, dass es fünf der Beschuldigten waren, die die Brandopfer in ihre ausweglose Lage brachten; das reichte für den Vorwurf der fahrlässigen Tötung. Nur im Fall eines Ehepaars aus Bad Doberan konnte nicht geklärt werden, welcher andere Autofahrer ihrem Pkw den entscheidenden Stoß verpasst hatte. Der 74-jährige Mann und seine 65-jährige Frau verbrannten in ihrem Fahrzeug.
Unfallzeugen und Nothelfer berichten, dass einige Eingeschlossene versucht hätten, die Windschutzscheibe zu zertrümmern. Aber das heutige Glas ist so widerstandsfähig, dass das ohne schweren Hammer nicht gelingen kann. Die modernen Autos, die sonst vielen Menschen durch ausgefeilte Sicherheitstechnik das Leben retten, wurden so zu Todesfallen.