Italien „Der Sieg geht an uns“
Die Frau auf der Bühne gibt alles. Sie grimassiert und fuchtelt, zersichelt mit flinken Fingern die Luft und hat dennoch Mühe, in Gebärden zu übersetzen, was der Wüterich neben ihr so alles ausspuckt: über den "kleinen Schwachkopf aus Florenz", wie er Premierminister Matteo Renzi nennt, über die sozialdemokratische Partei, "die rote Pest", und über das Volk, das wie immer "den Arsch hinhalten" soll.
Gut sechs Minuten hält die Dolmetscherin für Gehörlose durch, dann muss sie ausgetauscht werden. Die Rampensau an ihrer Seite macht mehr als eine Stunde lang weiter, an diesem Abend in Bergamo, nördlich von Mailand. Beppe Grillo, der 65 Jahre alte einstige Berufskomiker mit der schlohweißen Mähne, Anführer der Fünf-Sterne-Bewegung, ist auf Europawahlkampftour unterwegs.
Sei es Italiens korrupte politische Klasse, sei es der Würgegriff deutscher und französischer Banken oder die "willkürliche Drei-Prozent-Grenze" der EU fürs Haushaltsdefizit: Es gibt viele Themen, bei denen Grillo sich mit hochrotem Kopf so in Rage reden kann, dass es dem Volk zu seinen Füßen eine Freude ist.
Grillo und seine Fünf-Sterne-Bewegung, kurz M5S, sind seit den italienischen Parlamentswahlen im Februar 2013 mit 25,5 Prozent der Stimmen die stärkste eigenständige politische Kraft im Land; im römischen Abgeordnetenhaus führen sie die Opposition an. Für die Europawahl am kommenden Sonntag prophezeien sie "einen historischen Tsunami", der bis nach Brüssel spürbar sein soll. Der Anführer des M5S strebt unter anderem ein Referendum über den Austritt Italiens aus der Eurozone an. Auch deshalb ist seine Bewegung so erfolgreich. Denn die Zahl der Bürger, die den Euro verlassen wollen, hat sich binnen vier Jahren mehr als verdoppelt - auf 34 Prozent.
Zwar sagt Grillo nicht, wie er selbst abstimmen würde. Aber er sagt, was viele Italiener gern hören: dass sie auch mit der Lira leben und trotzdem in der EU bleiben könnten. So wie die Briten mit ihrem Pfund und die Dänen mit ihrer Krone.
In Umfragen liegt Grillo hinter Renzis Sozialdemokraten auf dem zweiten Platz, bei den 18- bis 44-Jährigen mit beinahe 33 Prozent sogar an erster Stelle. Alle europakritischen und EU-feindlichen Bündnisse gemeinsam vereinigen in Italien beinahe 60 Prozent der Wählerstimmen auf sich. Auch Forza Italia zählt dazu, die Partei des Exregierungschefs Silvio Berlusconi.
Was ist passiert in Italien, jenem Land, in dem der Vorzeige-Europäer Altiero Spinelli noch als Häftling während des Zweiten Weltkriegs am Manifest für ein Vereintes Europa arbeitete? Und das später mit Romano Prodi einen geachteten Präsidenten der EU-Kommission stellte?
Die Krise hat Italien verändert, das Vertrauen auf Brüssel ist in dramatischem Ausmaß verloren gegangen. Seit 2008 sank die Industrieproduktion um ein Viertel, die Arbeitslosenquote beträgt inzwischen fast 13 Prozent. Die Bevölkerung ist empfänglicher geworden für Schuldzuweisungen an Europa und an die Deutschen.
Die Frauen und Männer vom M5S, die demnächst auch in Brüssel Politik machen wollen, sehen sich nicht als Partei, sondern als Bewegung. Im Parlament in Rom sind die "Grillini", von ihrem Boss straff geführt, in den vergangenen 15 Monaten vor allem mit Hunderten ergebnislosen Gesetzesanträgen aufgefallen.
Über die politische Ausrichtung entscheiden die "Grillini" online. Jede Aktivistenstimme zählt gleich viel, doch wer gegen die generelle Linie verstößt, muss gehen. Mehr als ein Dutzend Senatoren ist binnen eines guten Jahres aus der Fraktion ausgeschieden. Grillos Mantra besagt: keine Kompromisse, keine Kursabweichung, keine Koalitionen - es sei denn "zu unseren Bedingungen".
Das M5S und die politische Restwelt Italiens verhalten sich zueinander wie Wasser und Öl. "Wir oder die, dazwischen ist nichts", brüllt Grillo: "Die" - das heißt: Politiker anderer Parteien - "müssen alle nach Hause geschickt werden."
Grillo spricht nicht in erster Linie die Zukurzgekommenen an. Seine Zuhörer und seine Listenkandidaten sind eher jung denn alt, eher gut ausgebildet denn ahnungslos und anders als viele ihrer Landsleute auch nicht gewillt, vor der italienischen Krise ins Ausland zu fliehen.
"Il grillo canta sempre al tramonto" - "Die Grille zirpt immer im Abendrot" - heißt das Buch, das Grillo mit seinem Kompagnon Gianroberto Casaleggio und dem Literaturnobelpreisträger Dario Fo veröffentlicht hat. Und tatsächlich zirpt, nein: röhrt Grillo derzeit allabendlich auf irgendeiner Piazza das gleiche Lied. Es handelt von den anständigen Italienern, die von ihren moralisch verrotteten Politikern ans europäische Großkapital verraten werden.
Gegen Europa auszuteilen ist unter Europas Politikern momentan in Mode. Ministerpräsident Renzi beschuldigt die EU anlässlich der jüngsten Flüchtlingstragödie in Lampedusa, lieber "Banken zu retten als Frauen und Kinder". Silvio Berlusconi wirft den Deutschen vor, sie würden sich nicht zu den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten bekennen. Und Beppe Grillo ruft dem Fraktionschef der Sozialdemokraten im Europaparlament zu, ohne Stalins Beitrag zur Befreiung Deutschlands würde "einer wie Martin Schulz heute noch unter Hakenkreuzfahnen sitzen".
Sprüche dieses Kalibers, aus dem Mund von Spitzenpolitikern, hat europaweit derzeit nur Italien zu bieten.
Ein "obszön pöbelnder Narr" sei er, urteilte der Corriere della Sera vergangene
Woche in einem Leitartikel. Für Grillo wiederum sind die angestammten Medien das "Krebsgeschwür" Italiens. "Wir brauchen euch Ausländer", sagt Grillo, "um unsere Botschaft zu übermitteln; denn hier in Italien kapiert kein Journalist, wer wir vom M5S wirklich sind."
Seine Wut speist Grillo bis heute aus einer frühen Kränkung: dem Rausschmiss beim Staatsfernsehen RAI 1993. Seine wiederholten Attacken gegen korrupte Politiker und Geschäftsleute, juristisch nie widerlegt, führten damals zur Verbannung vom Bildschirm.
Der politische Aufstieg des Beppe Grillo begann dann mithilfe des Internets, befördert vor allem durch seinen Blog. Anfangs sorgte er damit für Aufsehen, dass er die Namen Dutzender italienischer Parlamentarier mit Einträgen im Vorstrafenregister veröffentlichte. Grillo, selbst vorbestraft nach einem Autounfall in den Achtzigern, bei dem drei Menschen starben, verzichtet aus diesem Grund auf politische Ämter.
Dennoch bleibt er auf absehbare Zeit der wichtigste Rivale für Regierungschef Matteo Renzi und seine Sozialdemokraten. Denn das M5S ködert die mit dem Internet groß gewordene Jugend. Und weil das allein nicht reicht, bricht Grillo nun mit einem Dogma: dem für alle "Grillini" verfügten Verbot, in Talkshows aufzutreten.
An diesem Montag will sich Grillo, erstmals seit 31 Jahren, wieder beim TV-Moderator Bruno Vespa zeigen: in "Porta a Porta" auf Rai Uno. Die Sendung gilt in Italien als "dritte Kammer" neben Abgeordnetenhaus und Senat - weil auf Dauer an ihr keiner vorbeikommt, der im politischen Betrieb mitmischen will. Grillos Begründung für seinen Gesinnungswandel: "Vespa steht für all jene Wähler, die denken, ich wäre Hitler." Es sei höchste Zeit, ein paar Dinge zurechtzurücken.
Auf der Piazza Vittorio Veneto in Bergamo hingegen ist Grillo bei seinem Auftritt am vergangenen Dienstagabend vor allem von Bewunderern umgeben. Hier, in der "Stadt der Tausend", rühmt man sich, bereits ganz vorn dabei gewesen zu sein, als es auf dem Weg zur Einigung Italiens 1860 darum ging, Mitstreiter für den Feldzug Giuseppe Garibaldis zu stellen. Von diesem rebellischen Erbe profitiert nun auch Grillo. Er erntet Applaus.
"Die wichtigste Wahl unseres politischen Lebens", ruft er von der Bühne, stehe am 25. Mai bevor. Er wolle Italien wieder Respekt verschaffen. Die Ausgangslage - "Wir gegen die anderen" - sei zum Glück so klar wie das zu erwartende Ergebnis: "Vinciamo noi" - "Der Sieg geht an uns".
Und danach, spottet Grillo, von "Beppe, Beppe"-Rufen aus dem Publikum begleitet, müssten die Verlierer sich auf einiges gefasst machen: "Denn ich bin nicht böse - ich bin sehr böse."