Großbritannien Hirn gegen Herz
Weit oben im Nordosten Englands, kurz vor der schottischen Grenze, sitzt eine Frau hinter dem Steuer eines grauen VW Golf und versucht, eine kleine Revolution anzufachen. Es ist ein wagemutiger, womöglich auch verrückter Plan. Angelika Schneider aus Helmshofen in Baden-Württemberg will den Briten beibringen, Europa zu lieben.
Sie parkt den Golf in einem Vorort von Newcastle und holt Flugblätter aus dem Kofferraum. Schneider ist die Spitzenkandidatin der britischen Liberaldemokraten im Nordosten Englands und hofft, als Abgeordnete ins Europaparlament einzuziehen. Seit Monaten besucht sie Fabriken, spricht mit Arbeitern, Unternehmern, Studenten und Rentnern. Sie sagt, die Europafans seien zu lange still gewesen. Für sie ist jetzt der Moment gekommen, den Mund aufzumachen. Es ist kurz nach zehn, als sie an die erste Tür dieses Tages klopft.
Europa-Enthusiasten haben derzeit kein leichtes Leben in England. Seit Wochen stehen die Populisten der UK Independence Party, kurz Ukip, in Umfragen an der Spitze, vor der Labour-Partei. Viele Bürger sehen die Europawahl am 22. Mai als Möglichkeit, dem politischen Establishment den Mittelfinger zu zeigen. Die Regierung fürchtet, dass ihr Volk auch langfristig genug hat von den Bürokraten in Brüssel. Premierminister David Cameron hat den Briten für spätestens 2017 ein Referendum zu der Frage versprochen, ob sie die EU verlassen wollen. Im schlimmsten Fall stolpert Großbritannien raus aus Europa.
Angelika Schneider kämpft gegen die englische Sehnsucht, sich von den europäischen Fesseln zu lösen. Es ist ein Feldzug gegen die Polemik. Schneider ist 32 Jahre alt und neu in der Politik, was den Wahlkampf für sie nicht einfacher macht. Früher war sie Pressesprecherin der liberalen Fraktion in Straßburg und Brüssel. Es ist nicht einfach, eine britische Liberaldemokratin zu sein: Man steht für Marktwirtschaft und für Bürgerrechte, ist zwar an der Regierung, aber ziemlich blass. Schneider versucht, gute Laune zu verbreiten, und lacht dauernd, aber man weiß nicht, ob sie unsicher ist oder das alles tatsächlich amüsant findet.
Im Türrahmen eines Reihenhauses baut sich ein Mann in T-Shirt und Trainingshose vor ihr auf. Ian Sewell ist 41, lebt hier mit seiner Frau und dem zweijährigen Sohn und arbeitet in Newcastle als Türsteher. Er hört höflich zu, während Schneider die Vorzüge der EU referiert. Nach fünf Minuten sagt er: "Wir stecken eine Menge Geld in diesen Verein, bekommen aber nichts zurück."
Schneider kennt das Argument. Großbritannien zahle jeden Tag 55 Millionen Pfund "Mitgliedsgebühr" an reiche Männer in Brüssel, die ein Luxusleben auf Kosten des Steuerzahlers führten und London beherrschten wie eine Kolonie. So ähnlich steht es auch auf den Wahlplakaten von Ukip, die überall hängen.
Sewell ist kein Feind der EU, er wisse noch nicht, für welche Partei er sich entscheiden werde, sagt er. In der Unterhauswahl vor vier Jahren habe er die Konservativen gewählt. Allerdings stelle er sich seit einiger Zeit Fragen: Warum können wir die Milliarden für die EU nicht stattdessen in unserem Land verteilen? Warum dürfen so viele Einwanderer ins Königreich kommen? Warum können wir einen islamistischen Hassprediger nicht abschieben?
Schneider sagt, das Land brauche gut ausgebildete Migranten. Für den Streit um die Abschiebung des Hasspredigers sei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verantwortlich gewesen, keine EU-Institution. "Yeah", sagt Sewell. Seine Mimik sagt: Schuld ist die EU trotzdem irgendwie. Er kann sich vorstellen, dieses Mal für Ukip zu stimmen.
Wahlkampf ist die Reduzierung von Komplexität mit der Hilfe von Parolen. Doch während die Europafeinde nur die Angst vor dem Brüsseler Monster anfachen müssen, sind die Europafans auf Argumente und Fakten angewiesen. "Herz gegen Hirn", sagt Schneider.
Europa wolle doch nur Geld von Großbritannien, sagt ein Mann am Tag darauf in Stockton-on-Tees, zwölf Kilometer von der Nordseeküste entfernt. Einige Türen weiter ruft ein Wähler, alle Politiker seien Lügner. Und Dennis Foulger, 78 Jahre alt und früher Abteilungsleiter einer Schiffswerft, erklärt: "Ihr braucht einfach mal einen Tritt in den Arsch." Schneider versucht zu lächeln. Sie ist solche Reaktionen gewöhnt. Außer den Liberaldemokraten bekennt sich keine Partei in Großbritannien vorbehaltlos zu Europa; sowohl die Konservativen als auch Labour sind vorsichtig bis misstrauisch, was die EU angeht. Schneider dagegen stellte sich vor Kurzem mit zwei hüfthohen Holzbuchstaben, die das Wort "in" bildeten, in eine Fußgängerzone. Damit wollte sie den Passanten klarmachen, dass England einen Platz "in" Europa habe. Schneider sagt, ihr sei jetzt nichts mehr peinlich.
Ihr Kampf ist auch deshalb hart, weil sie den Status quo gegen einen neuen Retropopulismus verteidigen muss. Viele Briten sehnen sich in eine Vergangenheit zurück, in der Brüssel eine unwichtige Stadt in Belgien war, nicht die inoffizielle Hauptstadt von Europa. Großbritannien war von Anfang an ein zögerliches Mitglied. Zwar sind die Briten begeistert vom Binnenmarkt, der politischen Integration stehen sie aber feindlich gegenüber.
Schneider lenkt ihren Golf in eine Arbeitersiedlung von Sunderland, südöstlich von Newcastle. Bis in die Sechziger- und Siebzigerjahre wurden in Sunderland und Umgebung Schiffe gebaut, wurde Stahl produziert und Kohle gefördert. Später pumpte die Regierung von Tony Blair Geld in die Gegend, doch die Milliarden halfen wenig. Schneiders Wahlkreis liegt in der Region mit der höchsten Arbeitslosigkeit. Auch das Nissan-Werk in Sunderland mit seinen 7500 Angestellten kann die Schwerindustrie nicht ersetzen.
Am Abend ist die Deutsche zusammen mit den Europakandidaten von den Konservativen, Labour und Ukip zu einer Podiumsdiskussion in ein Landhotel an der A1 zwischen Darlington und Newcastle eingeladen. Ihr Wahlkreis stellt drei Abgeordnete in Brüssel; die Labour-Kandidatin wird sehr wahrscheinlich darunter sein, erstmals könnte für den Nordosten auch ein Ukip-Kandidat einziehen. Angelika Schneider kämpft um den dritten Sitz.
Der Lebendigste auf dem Podium ist der Mann von Ukip. Er heißt Phillip Broughton, steht auf dem dritten Platz der Ukip-Liste für den Nordosten und ruft seinen Diskussionspartnern zu: "Ihr habt alle Angst." Er fordert eine sofortige Volksabstimmung über die EU. Nach der Diskussion springt er aufgekratzt durchs Foyer und sagt, Großbritannien brauche härtere Gesetze. Broughton ist 30, arbeitet in einem Tesco-Supermarkt und organisiert in seiner Freizeit Wrestling-Abende.
Gelegentlich steigt er selbst in den Ring, auf YouTube kann man zusehen, wie sich der Wrestler Broughton über die Armut des Publikums lustig macht. Am Ende des Clips zerren zwei Männer an seinen Beinen, während Broughton zappelt und quiekt. Parteimitglieder wie er sind dafür verantwortlich, dass Ukip ihren Ruf als Sammelbecken für Chaoten, Neurotiker und andere Problemfälle nicht abschütteln kann; den Menschen aber gefällt die Anti-Politik. Ukip gibt es seit mehr als 20 Jahren, aber richtig populär wurde die Partei erst vor etwa zwei Jahren, seit der Vorsitzende Nigel Farage und seine Mitstreiter immigrantenfeindliche Töne anstimmen.
Vor Kurzem reiste Farage in Schneiders Wahlkreis, mehr als tausend Menschen kamen zu dem Auftritt. Schneider redet manchmal nur vor einem Dutzend Zuschauer. Farage ist das exakte Gegenteil von ihr, mehr Poltergeist als Hirn. Ein leutseliger Tweedträger, zu je einem Drittel Saufkumpel, Showmaster und Versicherungsvertreter. Auf Fotos im Daily Telegraph oder in der Daily Mail prostet er oft mit einem Ale in die Kamera. Angelika Schneider dagegen trinkt selten, weil sie meistens noch Auto fahren muss. In ihrem Kofferraum liegt ein Sixpack San Pellegrino.
Nigel Farage spiele mit den niedrigsten Instinkten der Menschen, mit der Furcht vor Fremden, sagt sie. "Wir müssen dieser Furcht Zahlen und Fakten entgegensetzen." Es ist ein Satz, der die ganze Hilflosigkeit auf den Punkt bringt. Bei der letzten Europawahl hatte die liberale Kandidatin in Schneiders Wahlkreis nur 12 944 Stimmen mehr als der Ukip-Mann. Wenn Schneider Pech hat, siegt dieses Mal die Angst.