Psychologie Kann es Liebe sein?
Die meisten Landwirte geben ihren Kindern seit je eine eherne Regel weiter: Freundschaften mit dem Vieh auf dem Hof sind tabu. Einen Namen bekommen die Tiere schon gar nicht, denn ein Schwein, das "Susi" oder "Peterchen" heißt, führt man nur schwersten Herzens zur Schlachtbank.
Die alte Bauernregel beschreibt einen offenbar unauflösbaren Grundkonflikt: Der Mensch hat das Tier zum Fressen gern; einerseits mag er ihm kein Haar krümmen und schlemmt doch andererseits nichts lieber als dessen Fleisch. Wie hält er dieses Dilemma nur aus?
Von diesem sogenannten Fleisch-Paradox sind Wissenschaftler seit Kurzem ähnlich fasziniert wie von einem mathematischen Rätsel. Kann es wirklich Liebe sein, was Mensch und Tier verbindet? Eher nicht, sagt der kanadische Sozialpsychologe Gordon Hodson: "Denken Sie an den Besitzer eines Striplokals, der exotische Tänzerinnen mag. In einem gewissen Sinn hat er sie bestimmt gern, aber das wird ihn nicht davon abhalten, sie auszubeuten."
Etwa sieben Prozent der Deutschen ernähren sich fleischlos, wenn nicht sogar vegan. Etliche Anhänger von Gebratenem und Gesottenem fühlen sich derweil angesichts der wachsenden Zahl der Gemüsefreunde herausgefordert, umso leidenschaftlicher ihre Vorliebe für Steaks und Koteletts zu verteidigen. In diesem Klima hat sich nun eine Handvoll Psychologen darangemacht, die komplizierte Seelenlage des Fleischessers zu sezieren.
"Unsere Gier auf Fleisch scheint nahezulegen, dass uns Tiere egal sind. Aber das ist eindeutig nicht wahr", behauptet Steve Loughnan von der School of Psychological Sciences der australischen Universität Melbourne. Als "aufwühlend" und "widerlich" empfinde die Mehrzahl der Fleischesser den Gedanken an leidende Tiere. Kurios nur: Kaum liegt das Schnitzel auf dem Teller, verpufft das Mitleid.
"Frühere Forschungen haben vor allem dargelegt, wie die Sorge um das Wohl der Tiere die Lust auf Fleisch verringert", berichtet Loughnan. "Wir sind die Ersten, die den gegenteiligen Prozess beschreiben." Sein überraschender Befund: "Das Essen von Tieren verringert aktiv die moralischen Bedenken."
Verblüfft notierten die Forscher, dass Liebhaber von Bratwürsten und Buletten ihre Tierliebe an- und ausknipsen wie einen Lichtschalter. Im Labor hatten Steve Loughnan und sein Team zwei Testgruppen das Bild eines Baumkängurus präsentiert - eines pelzigen Geschöpfs mit Puschelohren, das beim Betrachter eigentlich umgehend Jauchzer der Sympathie auslöst.
Nur einer der beiden Gruppen teilten die Wissenschaftler mit, dass das drollige Beuteltier von Feinschmeckern als Delikatesse geschätzt wird. Anders als erwartet bewertete ausgerechnet diese Gruppe die moralischen Rechte des Baumbewohners geringer als jene Probanden, die nur Basisinformationen über das Känguru erhalten hatten.
"Die bloße Einschätzung eines Tieres als Nahrungsquelle führt offenbar dazu, dass seine moralischen Rechte ausgeblendet werden", folgert Loughnan.
Dieser Eindruck bestätigte sich im Verlauf einer weiteren Studie: Diesmal zeigten die Forscher den Teilnehmern Bilder von einer Kuh und einem Schaf, jeweils umgeben von einer sanften Weidelandschaft. Die Fotos waren unterschiedlich beschriftet. Die Teilnehmer der einen Gruppe lasen: "Diese Kuh wird ins Schlachthaus gebracht und dort zu Fleisch verarbeitet, das an Supermärkte geliefert wird", stand auf dem einen. Und auf dem anderen: "Dieses Schaf wird die meiste Zeit auf der Weide zubringen und dort mit anderen Schafen grasen."
Bei der zweiten Gruppe waren die Bilder umgekehrt beschriftet: Hier musste das Schaf zum Metzger, während die Kuh das Wiesenleben genoss. Anschließend sollten die Testpersonen auf einer Skala von 1 bis 7 die Tiere bewerten, indem sie auf Fragen etwa nach deren Leidensfähigkeit antworteten. Auch das eigene Unbehagen, dem Schaf oder der Kuh Leid zuzufügen, mussten sie einschätzen.
In beiden Gruppen wurden die jeweils zum Überleben bestimmten Tiere als schützenswert und moralisch unantastbar eingestuft, während die Teilnehmer dem zur Schlachtung vorgesehenen Vieh - einmal dem Schaf, einmal der Kuh - die Fähigkeit zum Empfinden von Schmerz massiv absprachen.
Diese leichtfertige moralische Abrüstung der Testteilnehmer hatten die Forscher nicht erwartet. "Interessanterweise sind die Leute rasch bereit, Schlachttieren Gemüt und Verstand abzusprechen", sagt Loughnan. Und das sogar ohne Not, ohne gezwungen zu sein, ihren Fleischkonsum zu rechtfertigen.
Dieses Verhalten funktioniere wie ein Schutzmechanismus, erläutert der Psychologe: Erachte der Verstand das Verspeisen einer Lammkeule als Erfordernis, mache er gegen alle Zweifel dicht - auch wenn dafür ein kleines Felltier sterben muss.
Von den quälenden Folgen dieses widersprüchlichen Verhaltens befreit sich das Gehirn mit einem kühnen Zirkelschluss: Ich esse dieses Fleisch, also kann das Tier keinen Verstand besessen haben, auch kein Gefühl, denn sonst würde ich es ja nicht essen!
Ein Siegeszug der Vegetarier sei daher in naher Zukunft nicht zu erwarten, glaubt der Wissenschaftler. "Diese Überzeugungen sind tief eingegraben", sagt Loughnan. Viele Menschen, meint er, würden immer wieder Wege finden, um ruhigen Gewissens Tiere zu essen.