Identität Kontinent im Taumel
Europa ist lustiges Kinderkino, ein Kuddelmuddel der Klischees. Der französische Snob-Cop etwa aus dem neuen "Muppets"-Film, der sich in seine acht Wochen langen Sommerferien verabschiedet, obwohl es noch reichlich zu arbeiten gibt. Oder die sexy sibirische Sowjetbraut, die den Frosch Kermit für immer in ihren Gulag sperren will.
Ist das also Europa, wie es die Disney-Produktion "Muppets - Most Wanted" zeigt, gefangen zwischen Dekadenz und Totalitarismus?
Oder ist das Europa: der hermaphroditische Kontinent, der Mann als Frau, von den Griechen bis zum Travestiestar Conchita Wurst, der am vorvergangenen Samstag den Eurovision Song Contest gewann? Grenzen zwischen Ländern oder Geschlechtern sind hier relativ, und all die Kriege, all das Morden der vergangenen 2500 Jahre haben dazu geführt, so scheint es gerade, dass der Blick auf das Leben und seine Abgründe inzwischen gelassener ist als anderswo.
Europa also, wie es sich beim Eurovision Song Contest in Kopenhagen selbst feierte, als Bastion der Toleranz?
Europa, das zumindest kann man sagen, ist irgendwo zwischen Platon, Medici und Kolonialismus, zwischen 1914, 1933 und 1989, zwischen Schönem und Schaurigem zu einer dauernden Frage geworden.
Was also kann, was will Europa sein, welche Werte vertritt es und mit welchen Mitteln? Diese Fragen stellen sich, wenigstens theoretisch, bei der Europawahl am 25. Mai. Diese Fragen werden aber auch ganz praktisch in den ukrainischen Städten Donezk, Charkiw und Odessa verhandelt, mit Knüppeln und Gewehren.
Das ist die seltsame Diskrepanz der gegenwärtigen Situation. Da ist einerseits eine dubiose Ruhe, eine lähmende Passivität: Der Europawahlkampf vollzieht sich genau so, wie Europäer es gelernt haben, im Windschatten der Weltgeschichte - es ist ja geradezu der Daseinsgrund der EU, die Geschichte mit all ihren unangenehmen Nebenwirkungen draußen zu halten, auch dazu wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, aus Furcht der Völker voreinander.
Andererseits bricht auf einmal wieder die Realität in diesen brüsselblau abgedunkelten Raum hinein: Die Bürgerproteste, die Jugendarbeitslosigkeit, die wachsende Ungleichheit als Folge der Europolitik konnten die Regierungen noch ganz gut wegmoderieren - der irgendwie muppethafte Oberschurke Wladimir Putin aber führt mit seinem Schnappen in der Ukraine vor, wie ratlos die EU ist, wenn es darum geht zu definieren, für welche Werte außer dem Euro sie eigentlich steht.
Braucht Europa also Feindbilder wie den Disney-Putin, um sich selbst zu begreifen? Braucht Europa eine Figur wie Conchita Wurst, um an seine Ideale und Stärke erinnert zu werden?
Der SPIEGEL hat bei dem Meinungsforschungsinstitut Infratest eine Umfrage in Auftrag gegeben, und da zeigt sich, dass die Deutschen uneins sind über die Frage, ob Europa durch den Widerstand gegen Putins Politik zu mehr Zusammenhalt findet. Insgesamt ist die Mehrheit unzufrieden mit dem Auftreten der EU-Mitgliedsländer im Ukraine-Konflikt. Der Sieg von Conchita Wurst aber sei ein Zeichen für Toleranz - die europäische Kultur sei nicht dekadent und nicht im Niedergang (siehe Seite 119).
Multikulturell jedenfalls ist dieser Kontinent schon aus Notwendigkeit: Er kann gar nicht anders, er war nie anders. Römer, Germanen, Hugenotten, Polen, immer war der Kontinent in Bewegung, manchmal auch schien er zu "taumeln", so nannte es der Historiker Philipp Blom in seinem Buch über das Europa vor dem Ersten Weltkrieg - aber aus diesem Taumel entstand letztlich die Moderne, zwischen Psychoanalyse und Expressionismus. Europa war immer ein Labor der Gegenwart.
Und was damals begann, die Entdeckung der weiblichen Lust, trifft heute auf die unheilige Troika des Ressentiments: Homophobie, Antifeminismus und Ausländerfeindlichkeit.
Was also ist Europa 2014? Hat es mehr mit 1913 zu tun oder mit 1938? Ist es ein Kontinent, der sein Gesicht 1945 bekam oder 1989? Und wenn in dem Jahr, in dem die Mauer fiel, auch die Nachkriegszeit zu Ende ging, was genau begann damals?
25 Jahre ist der Mauerfall jetzt her, 25 Jahre sind eine Epoche - waren das die europäischen Jahre, und wir haben es nur nicht gemerkt? Der Abstieg Amerikas, die
Anschläge vom 11. September, der Krieg im Irak, Guantanamo, Obamas Drohnen und die Enthüllungen von Edward Snowden: Der Westen in Gestalt von Amerika hat sein Strahlen verloren.
Aber was ist mit China, dessen Aufstieg so rasant wie verstörend ist? Folgt das asiatische Jahrhundert auf das amerikanische? Was sind die Prämissen, auf denen dieses kommende Jahrhundert beruht? Welche Rolle wird Europa spielen? Was sind Ideale wie Freiheit und Toleranz wert?
Man muss den Blick neu justieren - und überraschenderweise wirkt vieles von dem, was in der europäischen Nachkriegszeit ausprobiert wurde, sehr sympathisch, menschenzugewandt, heute noch gültig.
Eine Wirtschaft etwa, die sich an Regeln hält. Eine Gesellschaft, die an Gerechtigkeit orientiert ist. Menschenrechte, die für alle gelten. "Nach den Erfahrungen der Jahre 1914-1945", schreibt der Historiker Tony Judt in seiner Geschichte Europas, sehnten die Menschen sich nach einem "funktionierenden Staat".
Aber darüber hinaus? Was sollte Europa sein? Diese Frage wurde hinausgeschoben, auch wegen des schlechten Gewissens, dass eine Hälfte des Kontinents von dieser Debatte ausgeschlossen war, weil sie durch den Eisernen Vorhang abgetrennt war.
Die europäischen Institutionen jedenfalls, so beschreibt es Tony Judt, wurden gegründet aus Angst und Unsicherheit. Sie waren nie ein Symbol der Stärke oder des Optimismus: Sie stehen für eine Macht, deren Entscheidungen dem Einfluss des Volkes weitgehend entzogen sind - Politik ist hier Vollzug, Verkündigung ohne Prozess oder Diskussion. Die EU ist eigentlich eine Politikabschaffungsmaschine.
Wirtschaft und Wohlstand ersetzten die Politik als wichtigstes Ziel der Gemeinschaft - die demokratischen Defizite der europäischen Institutionen interessierten nicht mal Spezialisten sonderlich. Die Folgen sind heute zu sehen: Europa, attackiert
von außen durch Putin und von innen durch rechte Populisten, ist verunsichert und weiß nicht, wie es reagieren soll.
Wir wissen vielleicht, was für Werte wir wollen; wir wissen aber nicht, was wir bereit sind, dafür zu tun: Europa ist ein wenig wie der schüchterne Junge mit der Brille, der von den Größeren auf dem Pausenhof herumgeschubst wird, wie sie es wollen.
"Europas Ursünde", so nennt Judt das: die Unfähigkeit, aus vergangenen Verbrechen zu lernen, eine vergessenmachende Nostalgie und die ständige Versuchung, zur passiven Politik des Jahres 1938 zurückzugehen, als man Hitler gewähren ließ.
Etwas von dieser Einstellung hält sich bis heute. Am liebsten, so der Eindruck, wäre es vielen, Europa wäre eine Insel, weit weg von den Problemen der Welt. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hatte das in gewisser Weise versprochen, als er 1992 in seinem Buch "Das Ende der Geschichte" den Westen zum Sieger erklärte: von hier ab Hängematte.
Aber so kam es dann nicht. Die Geschichte ging einfach weiter, sie wollte nicht weggehen. Die Europäer hatten sich jedoch schon so lange von der Politik als Gestaltungsinstrument verabschiedet, dass sie auf den jähen Vollzug von Geschichte immer wieder ratlos reagieren - die entscheidenden Fragen von Krieg und Frieden werden zu Debatten der Selbstprüfung und des Zweifels im Wellenrhythmus der Jahrzehnte: Anfang der Neunzigerjahre waren es der Bosnien-Krieg und das Massaker von Srebrenica, 2003 war es der Irak-Krieg, nun ist es der Konflikt in der Ukraine.
Was also soll und was kann Europa? Was fehlte, in dieser erfolgsverwöhnten Zeit des Wachstums und des Friedens, war eine europäische Identität jenseits des gemeinsamen Marktes und eines Urlaubspatriotismus der leichten Erreichbarkeit, der seine Entsprechung im Easyjet-Gefühl der Nullerjahre fand: entpolitisiert, hedonistisch, schmerzfrei kosmopolitisch.
Wenn Europa heute im Jahr 2014 nach seiner Identität forscht, dann sucht es sie im europäischen Schicksalsjahr 1914, dem Weltkriegs- und Schützengrabenjahr. Vielleicht aber wäre es besser, weniger über den Krieg nachzudenken als über die Zeit davor: über die Ängste, Verstörungen, Verwerfungen einerseits, aber auch über die Dynamik, die Ideen, die wissenschaftliche und künstlerische Innovationskraft der Zehnerjahre des 20. Jahrhunderts.
Denn Europa war immer ein kulturelles Projekt - es fand sich in seiner Kultur, aber verlor sich auch darin. Und zwar immer dann, wenn es im Ressentiment stecken blieb, der Schrumpfform der Kultur.
Das ist heute nicht anders. Was zum Beispiel wollte Bela Anda genau sagen, als er vergangene Woche über Conchita Wurst im semireaktionären Tonfall unserer Tage schrieb: "Ein Bart im Gesicht einer Frau, noch dazu ein Vollbart, stört mich, stört mein ästhetisches Empfinden, stört auch mein Rollenverständnis von Mann und Frau." Er warne, schloss der Politik-Chef der Bild und frühere Sprecher von Kanzler Gerhard Schröder, vor einem "gleichmacherischen" Europa. Wladimir Jakunin, Chef der russischen Staatsbahn und Putin-Vertrauter, spricht von "vulgärem Ethno-Faschismus", vom "moralischen Verfall Europas" und meint damit Conchita Wurst und einen dekadenten Westen.
Ohne Dekadenz allerdings gibt es keine Toleranz. Dekadenz und Toleranz bedingen sich, beides war in Europa, diesem unordentlichen Kontinent, immer eng miteinander verbunden.
Doch der Negativentwurf eines homophoben Russland taugt nicht für eine europäische Identität, genauso wenig wie Europa als Gegenbild zu Amerika. Feinde allein reichen nicht.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der vergangenen Woche, wonach die Firma Google Einträge löschen muss, wenn sie sensible Daten betreffen, könnte dagegen eine andere Richtung andeuten.
Der SPD-Vizekanzler Sigmar Gabriel etwa nahm das Urteil zum Anlass, um in der Frankfurter Allgemeinen Europas Werte über die von Google zu heben: "Europa steht für das Gegenteil dieser totalitären Idee, jedes Detail menschlichen Verhaltens, menschlicher Emotionen und menschlicher Gedanken zum Objekt kapitalistischer Vermarktungsstrategien zu machen."
Das Persönlichkeitsrecht ist stark von einer speziell europäisch geprägten Weltsicht beeinflusst - dass Google sich nicht alles merken darf, was es sich merken kann, entspricht einem Kontinent, der gelernt hat, dass es manchmal besser ist zu vergessen. Denn die Geschichte in seiner ganzen Fülle und Verworrenheit wäre auch zu erstickend. Und es hat auch wenig Sinn, in der Geschichte nach einer tragfähigen europäischen Identität zu suchen, das wäre zu selektiv und möglicherweise manipulativ. Die Geschichte, daran sollte man im Geschichtsjahr 2014 mal erinnern, ist in Europa eher gefährlich und oft genug Grund für Krieg, die Ukraine ist nur das aktuellste Beispiel.
Die Frage ist, was an die Stelle der Geschichte gesetzt wird - die Philosophen Jürgen Habermas und Jacques Derrida waren die letzten Intellektuellen, die das versucht haben. Im Jahr 2003 war das, sie wollten in den Demonstrationen gegen den Irak-Krieg "die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit" erkennen.
Sie träumten von einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik, elf Jahre ist das her - dazwischen liegen die Wirtschafts- und Finanzkrise und manche Regierungskrise: Die europäische Identität, das europäische Vorbild, von dem auch Tony Judt für das 21. Jahrhundert sprach, muss sich jenseits der oder gegen die Institutionen der politikfreien EU etablieren.
Conchita Wurst ersetzt nun keine gemeinsame Außenpolitik und keine fehlenden Verfahren der demokratischen Legitimation - aber das Fernsehplebiszit von Kopenhagen zeigt immerhin, dass die Massen, was die Toleranz angeht, womöglich weiter sind als die Eliten.
In einer Zeit der Reideologisierung von Politik und des Geredes von einem neuen Kalten Krieg ist das schon mal eine gute Nachricht.