SPIEGEL-Gespräch „Der Krieg findet statt“
Die Zelte auf dem Maidan in Kiew stehen noch, auch wenn die Kämpfe um die Zukunft der Ukraine sich in den Südosten des Landes verlagert haben. Zwischen den Leuchtreklamen westlicher Konzerne und der ausgebrannten Ruine des Gewerkschaftshauses qualmen die Öfen der Platzbesetzer. Überall hängen Fotos der Toten vom Maidan, auf einer Großleinwand läuft ein Actionfilm, ein Gitarrenspieler schmettert revolutionäre Lieder. Spendendosen stehen herum, Fahnen flattern. Eine eigenartige Mischung aus Feldlager, Occupy-Protestcamp und Schullandheim.
Ein paar Straßen weiter liegt die Kiewer Mohyla-Universität. Dort hat der amerikanische Historiker Timothy Snyder vom 16. bis zum 19. Mai eine internationale Konferenz initiiert, die er "Thinking Together" nennt. Intellektuelle aus den USA, Westeuropa und Osteuropa halten Vorträge und diskutieren in kleinen Runden darüber, was die Vorgänge in der Ukraine für Europa und die Welt bedeuten. Ihnen geht es auch darum, Solidarität zu demonstrieren. So hat der Kongress das Pathos großer Schriftstellertreffen im Kalten
Krieg, auf denen Intellektuelle auch über Auswege aus der Unfreiheit und über Mittel gegen Aggressoren nachdachten. Aber hier werden keine Manifeste gegen Putin formuliert, hier wird vor allem zugehört. Snyder ist die Seele der Konferenz, er ist überall, er wechselt vom Ukrainischen ins Englische und zurück. Bei seinem Eröffnungsvortrag am Donnerstag der vergangenen Woche im großen Saal der Universität steht das Publikum auf den Gängen. Es sind überwiegend junge Leute. Die Zukunft des Landes hat sich versammelt. Nach seinem Vortrag muss der 44-jährige Yale-Professor Autogramme geben wie ein Popstar. Es ist ihm peinlich. Danach findet Snyder sich in einem Kiewer Hotel zum SPIEGEL-Gespräch ein. Mit ihm gemeinsam debattieren der polnische Journalist Konstanty Gebert, 61, und der ukrainische Politologe Anton Schechowzow, 36.
Snyder: Die Ukrainer haben diesen Tag aus symbolischen Gründen gewählt, um damit zu zeigen, dass sie außenpolitisch zu einem europäischen Kurs entschlossen sind. Russland aber hat Pläne für beide Wahlen, sie zielen darauf ab, die Wahl in der Ukraine zu stören. Dann hofft Russland, dass die nationalistischen und populistischen Rechtsparteien bei der Europawahl gut abschneiden, damit wäre nämlich das Ansehen der Europäischen Union geschwächt, und Konflikte innerhalb der Union stünden bevor. Beide Wahlen hängen also stärker miteinander zusammen, als vielen Europäern bewusst ist.
Gebert: Die Konflikte in der Ukraine sind beim Europawahlkampf kaum ein Thema - es ist, als fände diese Wahl auf einem anderen Planeten statt, als wäre das, was sich in der Ukraine ereignet, ein lokales Ereignis ohne Bedeutung. Tatsächlich aber sind die ukrainischen Konflikte das prägende Ereignis für Europa, es hängt jetzt nämlich viel davon ab, wie wir auf Putins Provokationen reagieren. Etwas Ähnliches hat sich 1992 in Bosnien zugetragen, ein Landraub, gesteuert aus Serbien, aber Bosnien besaß keine strategische Bedeutung. Deshalb haben wir uns schnell wieder beruhigt. Die Ukraine ist anders, sie ist von existenzieller Bedeutung für Europa.
SPIEGEL: Eine neue Regierung mit demokratischer Legitimation soll die Ukraine nach der Präsidentschaftswahl schnell stabilisieren. Ist das nicht zu viel verlangt, Herr Schechowzow?
Schechowzow: Auch die amtierende ukrainische Regierung besitzt demokratische Legitimation, da sie vom Parlament gewählt worden ist. Dennoch ist die Präsidentschaftswahl wichtig, vor allem aus internationaler Perspektive, aus westlicher Sicht. Denn der nächste Präsident kann die Macht des Staates einsetzen, was der Übergangspräsident nicht konnte.
SPIEGEL: Er soll die Staatsmacht gegen die Separatisten im Donbass einsetzen?
Schechowzow: Ich glaube, dass er aggressiver gegen die Terroristen vorgehen wird, als es die bisherige Regierung tun kann. Als gewählter Präsident besitzt er die Vollmacht dazu.
SPIEGEL: Momentan herrscht der Eindruck vor, dass die ukrainischen Sicherheitskräfte weder entschlossen operieren noch besonders schlagkräftig sind.
Schechowzow: Unsere Sicherheitskräfte sind von den Russen infiltriert worden, und die örtliche Polizei ist korrupt.
SPIEGEL: Der nächste Präsident kann das nicht schnurstracks ändern.
Schechowzow: Nein, kann er nicht, aber er wird einen neuen Sicherheitsapparat aufbauen und das ganze System verändern. Wir müssen selbst für diesen Wandel sorgen. Wir können nicht darauf warten, bis die Sanktionen wirken, die Europa und die USA verhängen. Die EU arbeitet sehr langsam, die Abstimmungen innerhalb des Apparats und mit den USA ziehen sich hin. Indes findet der Krieg schon statt. Die Ukraine muss ihr Land verteidigen, ihre Souveränität, ihre territoriale Integrität.
SPIEGEL: Was findet im Donbass aus Ihrer Sicht statt - ein Krieg, ein Bürgerkrieg?
Schechowzow: Die Ursache der Konflikte ist eine russische Aggression. Deshalb führen wir einen Krieg, keinen Bürgerkrieg. Und auch wenn man es bei Ihnen im Westen schon vergessen hat: Russland hat die Krim annektiert.
SPIEGEL: Damit haben sich Europa und der Westen offenbar abgefunden. Die Krim ist für sie kein Thema mehr.
Gebert: Die Krim ging der Ukraine auch deshalb verloren, weil die Streitkräfte widersprüchliche Befehle erhielten. Dafür schuldet die Regierung den Ukrainern noch eine Erklärung. Vielleicht war aber die Idee, am Ende nicht zu kämpfen, sogar weise. Jetzt gibt es allerdings noch einen juristischen Weg, gegen die Annexion vorzugehen. Die Ukraine kann Russland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verklagen. Am vorigen Montag hat das Gericht ein beispielhaftes Urteil gefällt, wonach griechischen Zyprioten 90 Millionen Euro Entschädigung für nichtmateriellen Schaden während der türkischen Invasion zustehen. Die nächste ukrainische Regierung sollte es nachmachen.
Snyder: Übrigens gibt es Menschen, die über die Krim reden, nämlich die Krimtataren. Sie gedenken in dieser Woche dem 70. Jahrestag der Deportation nach Zentralasien unter Stalin. Fast 200 000 Menschen wurden in Züge gepfercht und abtransportiert. Russen und Ukrainer können die Krim verlassen. Die Krimtataren aber haben keine Alternative, denn die Krim ist ihre Heimat, die einzige Heimat, die sie haben.
SPIEGEL: Was treibt Putin an?
Snyder: Ich glaube, dass Putin ein großes geopolitisches Vabanquespiel betreibt. Ihm ist nicht mehr an erträglichen Beziehungen zur EU gelegen und auch nicht an einem soliden Verhältnis zur Ukraine. Putin hat sich zu etwas anderem entschieden, zu einem viel größeren Projekt, das in der Destabilisierung der Ukraine und der EU besteht. Ein Vabanquespiel ist es, weil es kein Zurück mehr gibt, seit er damit angefangen hat.
SPIEGEL: Kann er es überhaupt gewinnen?
Snyder: Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Entweder er erreicht seine Ziele, oder die Europäische Union findet zu politischer Gemeinsamkeit und ideologischer Stringenz. Dabei müsste sie sich als Widerpart Russlands definieren und vor allem eine gemeinsame Energiepolitik ausarbeiten, mit der sie Putin treffen könnte. Wenn der EU dies gelingen würde, wären die Folgen für Russland radikal. Dann wäre Putin auf China zurückgeworfen, und Russland würde zur Ukraine Chinas.
SPIEGEL: Sie spielen auf die mögliche Etablierung einer eurasischen Union an. Pläne zu einer solchen Union kursieren im Kreml und in Putin-nahen Zirkeln. Im Westen wird dieses Projekt nicht besonders ernst genommen. Ein Fehler?
Snyder: Natürlich, es ist der ideologische Gegenentwurf zur Europäischen Union.
SPIEGEL: Was sind die Kernelemente?
Snyder: Die Eurasien-Ideologen verwerfen die liberale Demokratie als bankrott, als bloßes Alibi für die Interessen Amerikas. Liberale Demokratien sind für sie von gestern. So abfällig haben Kommunisten wie Faschisten schon in den Zwanziger- und Dreißigerjahren über Demokratien geurteilt. Putin und seine Eurasien-Ideologen halten den Westen einfach für dekadent. Dabei gehen sie durchaus postmodern vor. Denn sie betrachten die europäische Geschichte als einen Gemischtwarenladen, aus dem sie sich bedienen. Sie deuten sie um. Sie schauen sich von Hitler, von Mussolini, von Stalin ab, was sie gebrauchen können. Russland ist heute ein radikal konservatives Land. Es gestattet seinen Bürgern nicht, so zu leben, wie sie wollen, so zu lieben, wie sie wollen, zu heiraten, wen sie wollen. Vor allem im Umgang mit Homosexuellen sehen die Eurasien-Ideologen ein Problem, das die globale Welt spaltet.
SPIEGEL: Damit finden sie auch Anklang bei den nationalkonservativen Parteien, die in der Europawahl auf den Durchbruch hoffen. Was macht Putin für diese Rechte interessant?
Schechowzow: Er teilt ihren Hass auf die Europäische Union. Wie Putin halten auch sie den Nationalstaat in Ehren, das ist ihre rückwärtsgewandte Utopie. Und sie achten Putin, weil er einen starken Staat propagiert und sich nicht darum schert, wie die öffentliche Meinung von ihm im Ausland ist. Außerdem teilen sie mit ihm den Hass auf Amerika mit seinem Nebeneinander der Rassen und dazu den Hass auf Homosexuelle.
SPIEGEL: Was aber können diese rechten Bewegungen Putin bieten?
Schechowzow: Sie lassen sich leicht korrumpieren. Denn damit das eurasische Projekt sich durchsetzt, muss die Europäische Union scheitern. Russland kann aber momentan nicht mit dem Westen konkurrieren. Deshalb sucht sich Putin Alliierte im Westen, die Gegner der EU sind, auf der extremen Rechten wie übrigens auch auf der extremen Linken. Sie sind Werkzeuge im Kampf gegen den Westen. Und je stärker seine Verbündeten bei der Europawahl abschneiden, desto besser für ihn.
SPIEGEL: Die Europäische Union ist ein Hort des Ausgleichs, der Kompromissfindung, der Diplomatie. Das macht ihren Erfolg aus. In ihrem Weltbild sind tiefenscharfe Konflikte Vergangenheit.
Gebert: Kriege und Konflikte haben Europa jahrhundertelang beherrscht. Wenn wir uns weigern, Putin zu verurteilen, machen wir uns lächerlich. Nur weil wir uns wegen unserer Vergangenheit schuldig fühlen, können wir Putin nicht durchgehen lassen, was er der Ukraine antut. Wir können das nicht tolerieren.
SPIEGEL: Die Deutschen sind die Chefdiplomaten in diesem Konflikt. Angela Merkel hält Kontakt mit Putin, der Außenminister trifft den russischen Außenminister, ein deutscher Diplomat ist Moderator am runden Tisch, der gerade seine Arbeit aufgenommen hat. Tun sie das Richtige?
Schechowzow: Besonders sinnvoll und effizient ist diese Diplomatie nicht. Nichts musste Putin zurücknehmen. Keine Sanktion hat ihn gezwungen, die Krim zurückzugeben.
SPIEGEL: Die Geiseln der OSZE kamen frei, weil er es wollte.
Schechowzow Natürlich, er hat Einfluss auf das Geschehen in der Ostukraine.
Gebert: Wir müssen doch die Relationen sehen: Ein paar Geiseln sind freigekommen, zugleich besetzt Russland Teile der Ukraine. Ein Sieg der Diplomatie sieht anders aus, auch wenn Altkanzler Gerhard Schröder sich eingesetzt haben mag.
SPIEGEL: Die Sanktionen können schärfer werden. Der Druck auf Putin kann zunehmen.
Schechowzow: Bisher zielen die Sanktionen auf einige Oligarchen aus Putins Freundeskreis. Die Oligarchen machen Geschäfte in Russland, aber sie investieren in Westeuropa, kaufen Häuser an der Côte d'Azur und in London. Über die Sanktionen lachen sie. Erst wenn große Firmen von Sanktionen getroffen werden, lässt sich Wirkung erzielen.
SPIEGEL: Die deutsche Regierung betreibt mit Brüssel derzeit Diplomatie fast im Alleingang, weil sich Amerika merkwürdig heraushält. Haben die USA das Interesse an Europa verloren?
Snyder: Lange Zeit hat Amerika und vor allem Barack Obama geglaubt, Russland werde sich nicht bewegen, Europa sei grundstabil und China das schwierige Land, mit dem Amerika sich befassen muss. Putin hat das nun geändert. Wahrscheinlich engagiert sich Amerika momentan nicht ausreichend, aber Europa ist wieder von Interesse für die US-Regierung. Das ist ein fundamentaler Wandel. Drei Dinge haben sich also international geändert: Zum ersten Mal ist die EU mit einer grundlegenden Gefahr konfrontiert; dann legt Amerika wieder Wert auf die transatlantische Partnerschaft; und dazu ist die ukrainische Identität nunmehr gestärkt. Jeder, der Putin für ein strategisches Genie hält, sollte sich vor Augen führen, was er erreicht hat. Hätte er die Dinge laufen lassen, wäre Amerika allmählich von Europa abgedriftet, Präsident Wiktor Janukowitsch hätte die Ukraine weiterhin ruiniert, und die Europäer hätten weitergemacht wie bisher.
SPIEGEL: Dann ist Putin der Verlierer in seinem Vabanquespiel.
Gebert: Putin ist weder ein Genie noch ein Verlierer. Er ist ein Opportunist, der eine Gelegenheit nutzt, wenn er sie sieht. Er nimmt sich, was er will, und unter Druck weicht er zurück, aber nur unter Druck. Er hat momentan die Initiative, er hat keine Angst.
Schechowzow: Putin führt keinen alten Krieg mit der Luftwaffe und Panzerangriffen, sondern einen neuen Krieg, den die Militärs in der ganzen Welt bald schon studieren werden. Es ist ein Krieg, an dem die führende Macht nicht direkt beteiligt ist. Die Einheiten, die sie schickt, tragen weder Uniformen noch Abzeichen. Daneben gibt es lokale Einheiten, sogenannte Dorfverteidigungstruppen. Sie haben moderne automatische Waffen. Putin greift auch die EU anders an. Er wird Politiker kaufen. Nehmen Sie Bulgarien, das in Brüssel als Trojanisches Pferd Russlands eingeschätzt wird. Eine unüberschaubare Menge Geld ist dorthin geflossen, sauberes und schmutziges Geld. Zieht Russland es ab, bekommt Bulgarien tief greifende Probleme. Russland investiert auch in Serbien, auch in anderen Ländern auf dem Balkan.
SPIEGEL: Machen Sie Putin nicht größer, als er ist?
Snyder: Ich glaube, es ist wichtig für uns zu verstehen, wozu Russland im Augenblick imstande ist. Das Land hat viel Geld, weil es sein Gas verkauft. In zehn Jahren mag das anders aussehen, und Putin weiß das. Jetzt kann er diesen Einfluss noch ausüben, in diesem Sinn ist sein Spiel sogar vernünftig. Er hegt ja auch nicht die Illusion, dass Russland größer werden könnte als die EU, seine Wirtschaftsleistung ist nur etwa mit der von Frankreich vergleichbar. Russland kann aber gewinnen, indem es die EU schwächt. Zerstören ist immer einfacher als aufbauen. Und Europa weiß, wie schwierig es war, dieses Gebilde zu konstruieren.
SPIEGEL: Zugleich stellen Sie fest, dass Amerika zurück nach Europa kommt, die EU den Weckruf verstanden hat und die Nato gestärkt ist. Wie ist denn nun der Stand?
Snyder: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Russland den Status quo aufgekündigt hat. Aus meiner Sicht gibt es jetzt nur eine Alternative: Entweder Amerikaner und Europäer finden wieder zusammen, vergessen den Streit um den unseligen Irak-Krieg endlich, räumen ihre Differenzen wegen der Snowden-Affäre aus, und die EU investiert viel Geld in eine Energiepolitik, die auf erneuerbaren Energien beruht. Oder Europäer und Amerikaner driften voneinander weg, die EU fällt auseinander, sodass sich jedes Land um seine Energieversorgung kümmern muss. Dann kann Russland weiterhin Öl und Gas verkaufen, an Europa wie an China, und wird ein mächtigerer Staat als heute. Den alten Status quo aber bekommen wir nicht zurück.
Gebert: Es geht nicht um Putin, es geht um uns. Europa hat die besten 25 Jahre seiner Geschichte hinter sich, das ist eine lange Zeit. Glück gehabt. Wir haben uns an Wohlstand und Frieden gewöhnt. Es war so, als ob wir an das Ende der Geschichte gekommen wären, wie Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1992 geschrieben hat. Wir sind eingelullt gewesen.
SPIEGEL: Donald Rumsfeld hat vor dem Irak-Krieg zwischen dem alten und dem neuen Europa unterschieden. Das alte nannte er machtvergessen und schwach. Das neue, das den Irak-Krieg unterstützte, sah er in den osteuropäischen Nato-Ländern und im Baltikum. Kehrt die Unterscheidung wieder - in den Teil Europas, der Putin als Gefahr versteht, und den anderen, der ihn unterschätzt?
Gebert: Ja, kann man sagen, wobei wir Polen zum Beispiel nicht um die Ukraine besorgt sind, weil wir sie so gernhaben. Wir sind besorgt, weil wir wissen, dass sie unseren Kampf kämpft.
SPIEGEL: Herr Snyder, Herr Gebert, Herr Schechowzow, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.