Essay Das Land meiner Mutter versagt
Über 200 nigerianische Mädchen sind Mitte April von der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram entführt worden. Niemand kann den Eltern sagen, wo ihre Töchter sind. Nigerias Regierung ist hilflos. Anfang der vergangenen Woche veröffentlichten die Terroristen ein Video, das die gefangenen Mädchen in bodenlangen Hidschabs zeigte.
Die Literatin Taiye Selasi, 34, hat nigerianische und ghanaische Wurzeln. Sie wurde in London geboren, wuchs in den USA auf, studierte in Yale und Oxford, heute lebt sie in New York, Neu-Delhi und Rom. Ihr Debütroman "Diese Dinge geschehen nicht einfach so" (S. Fischer Verlag) erschien in über 15 Ländern, in Deutschland war er im vergangenen Frühjahr ein Bestseller. Selasi gilt als wichtige Vermittlerin zwischen der afrikanischen und der westlichen Kultur, sie schuf den Begriff "Afropolitan", den sie erstmals in ihrem Essay "Bye Bye Babar" (2005) verwendete. Darin stellte sie Fragen nach der Identität afrikanischer Weltbürger und reflektierte über deren Erfahrungen.
Vor einigen Tagen postete ich auf Facebook die Frage: "Müssen wir Nigeria als gescheiterten Staat betrachten?" Eine nigerianische Freundin war so beleidigt, dass sie sofort zur Verteidigung ihres Landes schritt: "Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass auf einer Insel am Rand des Atlantiks während der Siebzigerjahre ähnliche Zustände herrschten", schrieb sie. "Trotz der Unruhen in Irland - und der weitgehenden Untätigkeit der britischen Regierung - kam niemand auf den Gedanken, Großbritannien als gescheiterten Staat einzustufen." Sie führte auch Somalia, Bolivien und Nordkorea als Beispiele für Staaten an, die man als gescheitert betrachten könnte. Zahlreiche nigerianische Freunde stimmten ihr zu und nannten weitere Länder, in denen wesentlich schlimmere Zustände herrschen. Nigeria habe zwar Probleme, meinten sie, aber vielen anderen Staaten gehe es ähnlich; es sei zutiefst unpatriotisch, ausgerechnet unser Vaterland als gescheitert oder auch nur als scheiternd zu bezeichnen.
Ich ließ diese Angelegenheit auf sich beruhen - nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal, ich lebe ja auch nicht in Nigeria, ich habe dort auch nie gelebt. Allerdings nagten dieses Mal Fragen an mir. Warum ist meine Mutter nicht in Nigeria geblieben? Warum sind meine Tanten und Onkel ausgewandert? Warum bin ich nicht dort aufgewachsen? Während meiner Kindheit in den Vereinigten Staaten wurde Nigeria immer wieder gerühmt: die hohen Ansprüche des Schulsystems, die Einzigartigkeit der Yoruba-Kultur, die hohe Wertschätzung von Bildung und Kunst in Abeokuta, der Heimatstadt meiner Mutter. Meine Mutter ist Kinderärztin, sie wuchs in Abeokuta auf einer Kakaofarm auf. Als begabte Schülerin besuchte sie zunächst die Methodist Highschool, danach die Federal School of Science in Lagos. Obwohl sie mich auf eine der besten Highschools Amerikas schickte, behauptete sie stets, dass ihre Ausbildung in Lagos jene an der Milton Academy weit in den Schatten stelle.
Meine gesamte Kindheit war von Menschen bevölkert, die durch das nigerianische Bildungssystem geprägt worden sind: Anwälte, Ärzte, Ingenieure, alle hoch motiviert und hervorragend ausgebildet. Die Legionen von Cousins und Cousinen, die ich während der in Lagos verbrachten Sommerferien kennenlernte, steigerten meine Bewunderung noch weiter: Sie lernten fleißig, waren brav und gehorsam, glänzten an der weiterführenden Schule. Jeder Nigerianer, den ich kennenlernte, war ungeheuer stolz auf die Werte, die Kultur, die Kraft, die Schulen Nigerias. Nur wollte keiner dort leben.
Auf meine Frage, warum sie Nigeria verlassen haben, geben meine Mutter, ihre Freunde oder Verwandte stets die gleiche Antwort: Der sich konsolidierende Staat habe ihre Träume immer massiver bedroht. Als junge Medizinstudentin, sagt meine Mutter, habe sie sich "nie sicher gefühlt". Im Laufe der Jahrzehnte färbte
der eklatante Machtmissbrauch, den die diversen Regierungen betrieben, allmählich auf die Kultur ab und sorgte dafür, dass ein Menschenleben nicht mehr viel galt und der Profit Vorrang vor der Persönlichkeit hatte.
Inzwischen wimmelt es in meinem Leben von Nigerianern, die sich im Land nicht sicher fühlen. Besteht die vorrangige Aufgabe eines souveränen Staates nicht darin, die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren? Manch einer würde entgegnen, dass die Sicherheit afroamerikanischer Jungen in den USA auch nicht garantiert sei; ebenso wenig die chinesischer Journalisten oder indischer Mädchen in ihrem jeweiligen Heimatland. Die nigerianische Regierung steht zweifellos nicht allein da, was ihren schändlichen Machtmissbrauch betrifft, aber darf das als Entschuldigung gelten?
Wenn man einen Staat als gescheitert bezeichnet, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass seine Bürger Versager sind. Die Menschen Nigerias gehören nach meiner Erfahrung zu den fähigsten der Welt. Doch der nigerianische Staat lässt seine Bevölkerung im Stich. Er ist nicht mehr in der Lage, für Bildung zu sorgen, die Elektrizitätsversorgung zu sichern, jungen Mädchen Schutz zu bieten.
Vielleicht hätte ich besser folgende Frage posten sollen: Warum nehmen wir unser Land in Schutz, wenn dieses Land seine Töchter nicht beschützen kann? Die Kommentare, die ich auf Facebook bekommen habe, erinnerten mich an die indische Schauspielerin Mallika Sherawat, die Indien, als Reaktion auf die Vergewaltigungen in Delhi, als eine "für Frauen regressive Gesellschaft" bezeichnete. Daraufhin wurde ihr von gewissen Journalisten vorgehalten, sie würde Indien schlechtreden und erniedrigende westliche Stereotype zementieren. Den gleichen Impuls gibt es in Nigeria - man lobt die Fortschritte des Landes und beklagt zugleich die respektlose Art der medialen Berichterstattung.
Ich habe mich in meinem bisherigen Werk darum bemüht, auf die verzerrte Darstellung Afrikas im Westen hinzuweisen, vor allem auf die allzu simple Sichtweise, die den Kontinent undifferenziert als monolithischen Block hinstellt. Dennoch frage ich mich, warum wir bis heute nicht imstande sind, einen unvoreingenommenen und konstruktiven Dialog zu führen, jenseits der Verzerrungen, die Afrika entweder als aufstrebend oder als abstürzend darstellen.
Wie können wir die (gerechtfertigte) Kritik des amerikanischen Journalisten David Brooks an dem Sie-brauchen-unsere-Hilfe-Denken mit dem (gerechtfertigten) Appell der nigerianischen Schauspielerin Stella Damasus vereinbaren, die auch um Hilfe für ihr Land bittet? Wann ist der Punkt erreicht, an dem wir keine Kritik mehr an politischem Versagen üben, sondern nur noch Medienschelte betreiben? An dem die Grenze zwischen der Anerkennung von Wahrheiten und der Entlarvung von Stereotypen zu verschwimmen beginnt?
Tatsache ist: Der nigerianische Staat versagt vor seinem eigenen Volk. Dies ist bei Weitem nicht die einzige Tatsache, die es anzuerkennen gilt, doch angesichts der Entführungen durch Boko Haram ist es eine, die unbedingt genannt werden muss. David Brooks lässt seine Lobpreisung des "wahren Afrika" bemerkenswerterweise mit einem Widerspruch ausklingen: "Individuelle und gesellschaftliche Kreativität sind von zukunftsweisender Dynamik. Der Staat ist nicht einmal in der Lage, die grundlegendsten und banalsten Aufgaben zu erfüllen."
Die Regierung Nigerias - die, was vielleicht noch entschuldbar ist, davor zurückschreckte, unmittelbar vor oder nach den Entführungen zu handeln; die jene Mittel verprasst hat, die es der Armee hätten ermöglichen müssen, die Entführer zu stellen; die ihrer mangelnden Wertschätzung des Lebens von über 200 nigerianischen Mädchen unverhohlen Ausdruck verliehen hat - diese Regierung hat einer weltweiten Öffentlichkeit vor Augen geführt, was viele Nigerianer schon seit Jahren wissen. Der Riese Afrika ist angeschlagen. Der nigerianische Staat hat versagt. Und sowohl im Nigeria meiner Mutter als auch im Indien Mallika Sherawats sind in allererster Linie die Mädchen die Leidtragenden dieses staatlichen Versagens.
Aus dem Englischen von Henning Ahrens