Literaturkritik Diagnose Familie
Wenn zwei Menschen ein Kind bekommen, werden sie eine Familie. Es gibt aber Paare, die wünschen sich ein Kind, sie wollen ein Paar mit Kind sein - aber bitte keine Familie. Solche Eltern verlieren ihre Selbstverwirklichung nie aus dem Blick. In ihrem Roman "Kapitalismus und Hautkrankheiten" erzählt die Hamburger Autorin Jasmin Ramadan, 40, davon, auf welche Weise eine Familie unglücklich sein kann, die nie eine Familie sein wollte.
Dietrich Kugler ist der Vater einer solchen Verbindung, er hat sich auf den Dachboden des Hauses zurückgezogen, in dem er mit seiner Frau, der erfolgreichen Schauspielerin Bärbel Kugler, wohnt. Dietrich verachtet seine Frau, insgeheim hält er ihre Existenz für die Ursache seiner Schuppenflechte. Und diese Schuppenflechte, die mit einer kleinen juckenden Hautstelle an seiner Hand begann, ist ihm der beste Beweis für die Zumutungen des Lebens, von denen er sich fernhalten will. Seit vielen Jahren schreibt er an dem über tausend Seiten umfassenden Werk "Kapitalismus und Hautkrankheiten". Fertig ist es noch lange nicht. Doch weil Dietrich seiner Frau alle Verantwortung für das finanzielle Auskommen der Familie aufgebürdet hat, kann er sich dem endlosen Schreiben widmen, das auf einem sehr schlichten Gedanken basiert: "Dort, auf der menschlichen Oberfläche, dem größten Sinnesorgan, zeigten sich früher oder später alle organischen oder seelischen Schäden."
Diese "Schäden" nahmen ihren Anfang auf einer Reise nach Nicaragua in den frühen Achtzigerjahren. Dietrich sympathisierte damals mit der sandinistischen Freiheitsbewegung, und Bärbel wollte sich nicht sagen lassen, dass ihr das Elend in der Dritten Welt egal sei. Mit einem befreundeten Ehepaar machten sie sich auf die Reise, obwohl Bärbel mit Zwillingen schwanger war. Bei einem Besuch in einem abgelegenen Dorf beschloss die Frau des befreundeten Paares spontan, einer mittellosen Familie für 5000 Dollar einen Jungen abzukaufen, sie dachte, es sei eine gute Idee, einen Sohn zu haben, es sei auch ein Zeichen ihrer "universalen Solidarität" mit den Menschen in Nicaragua.
Ein weiterer Schaden kam in die Welt, als Dietrich - Jahre später - die 13-jährige Tochter seiner ehemaligen Freundin dazu überredete, ihm einen zu blasen, und sein eigener Sohn in diesem Moment zufällig ins Zimmer kam.
Mittlerweile sind diese Kinder groß geworden, erwachsen sind sie nicht. Im Mittelpunkt des rückblickend erzählten Romans steht Dietrichs und Bärbels Tochter Teresa, die sich, Anfang dreißig, als Model und Schauspielerin durchschlägt. Immer wieder wird sie von dem Wahn ergriffen, unsichtbarer Schleim würde über ihren Körper rinnen; ihr Sexleben kann sie ganz umstandslos von ihren Gefühlen trennen. Wie ein Insekt hinter einer Glasscheibe müht sie sich ab, einen Weg ins Leben zu finden. Nicht anders ergeht es ihrem Bruder und dem "gekauften Sohn" des befreundeten Ehepaars. Familie ist für sie alle keine Lebensform, sondern eine Diagnose.
Jasmin Ramadans Roman ist fast schon eine Abrechnung mit dem Milieu der in die Jahre gekommenen 68er, die ihren Wohlstand genießen, aber verstockt und stur an ihren alten Idealen festhalten und nicht wahrhaben wollen, welcher Zynismus ihren Biografien innewohnt. Zu den besten Kapiteln des Romans zählt die Beschreibung der Dachbodenexistenz des alternden Dietrich, eines Mannes, der sich seine Verantwortungslosigkeit schönredet und dessen größtes Interesse seiner Schuppenflechte gilt.
2009 hat Ramadan den Roman "Soul Kitchen" veröffentlicht, der die Vorgeschichte zu Fatih Akins gleichnamigem, erfolgreichem Film erzählt. Schon damals gelangen ihr umstandslose Schilderungen, die sich so lesen, wie das Leben wirklich sein könnte. Über manche sprachliche Ungelenkigkeit lässt sich deshalb hinwegsehen. Und wenn Ramadan in den Danksagungen ihres neuen Romans nun die sehr lässige amerikanische Autorin und "Girls"-Erfinderin Lena Dunham erwähnt, ahnt man, dass sich hinter der unkompliziert wirkenden Aufrichtigkeit ihres Schreibens eine stilbildende Haltung verbirgt. Ganz nebenbei hat sie mit "Kapitalismus und Hautkrankheiten" den besten Titel eines Romans in diesem Frühjahr geliefert.