Internet Treffer bei Google
Mario Gianni weiß, wie es ist, wenn Google nicht vergisst. Wer immer in der Vergangenheit den Namen seines Campingplatzes Los Alfaques an der spanischen Küste in die Suchmaschine eingab, wurde mit Bildern entstellter Leichen konfrontiert. Vor 36 Jahren war auf dem Campingplatz ein Tanklastwagen explodiert, 217 Menschen starben.
"Das ist nicht nur geschäftsschädigend, sondern inhuman", sagt Gianni. Er hat bei dem Unglück einen Verwandten verloren, mühsam hat seine Familie den Campingplatz wiederaufgebaut.
Gianni verklagte vor drei Jahren die spanische Tochtergesellschaft von Google, wenigstens die schrecklichsten Bilder aus den Suchergebnissen zu löschen. Die historischen Fakten aus dem Internet zu tilgen strebte er nicht an. Doch Google wollte nicht mit sich reden lassen.
Der Richter in Tarragona wies Giannis Klage ab, er müsse Google am Hauptsitz in Kalifornien belangen. "Das ist doch viel zu teuer", sagt der Campingplatzbesitzer. Wie so viele vor ihm gab er in der juristischen Schlacht gegen den Internetriesen auf und ist froh, dass mittlerweile ein paar Schockbilder nicht mehr gezeigt werden.
Seit Dienstag vergangener Woche ist die Rechtslage eine andere, heute hätte Gianni deutlich bessere Chancen, sich gegen Google durchzusetzen - vielleicht sogar, ohne gegen den Konzern zu klagen.
Der Grund ist ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Es gibt einem Spanier recht, dessen Haus vor Jahren gepfändet worden war. Er hatte von Google verlangt, den Link zu der Zeitungsseite zu löschen, die über das Ereignis berichtet hatte. Das Recht auf Achtung des Privatlebens, so die Richter, habe im Normalfall Vorrang vor den Interessen anderer.
Das Urteil wird in Europa als Sieg gefeiert: als Sieg gegen die Omnipotenz der Internetkonzerne aus den USA und als Sieg der Werte des alten Kontinents gegen die Ökonomisierung der Privatsphäre.
"Europa", so feierte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel das Urteil i n der FAZ, "steht für das Gegenteil dieser totalitären Idee, jedes Detail menschlichen Verhaltens, menschlicher Emotionen und menschlicher Gedanken zum Objekt kapitalistischer Vermarktungsstrategien zu machen."
Die Reaktionen fallen so euphorisch aus, weil sich in den vergangenen Jahren der Eindruck verdichtete, die Menschen seien den Internetkonzernen hilflos ausgeliefert. Die sammeln und verarbeiten ungezügelt Daten - und verdienen damit Milliarden.
Niemand macht das so erfolgreich wie Google. Das Unternehmen aus Kalifornien hat sich binnen weniger Jahre zu einem der mächtigsten Konzerne der Welt entwickelt. Es ist zum Synonym geworden für eine Internetwirtschaft, die keine Regeln kennt - außer ihren eigenen.
In Deutschland werden über 90 Prozent aller Suchanfragen im Internet von Googles ausgeklügelten Algorithmen bearbeitet. Nirgendwo sonst ist der Konzern so gefürchtet wie hier.
"Wir haben Angst vor Google", bekannte Springer-Chef Mathias Döpfner kürzlich in der FAZ: "Google weiß über jeden digital aktiven Bürger mehr, als sich George Orwell in seinen kühnsten Visionen je vorzustellen wagte."
Siemens-Chef Joe Kaeser nannte es in einem SPIEGEL-Gespräch (20/2014) gar den "digitalen Krieg": Wer diesen Krieg am Ende gewinne, hänge von der Frage ab, wem die Daten gehörten.
Die Daten, so hat jetzt der Europäische Gerichtshof entschieden, gehören zuallererst dem Bürger selbst. Der Nutzer kann - unter bestimmten Voraussetzungen - verlangen, dass der Internetkonzern, ob Google oder ein anderer, die Verweise auf seine Daten löscht. Und, was fast noch wichtiger ist: Die Richter stellten fest, dass Google und Co. sich dem Recht des Landes unterwerfen müssen, in welchem sie agieren.
So euphorisch das Urteil in Europa aufgenommen wird, so hysterisch klingen die Kommentare in den USA. Denn wie so oft im Internetzeitalter werden dieselben Fakten auf beiden Seiten des Atlantiks völlig widersprüchlich bewertet: Zwischen dem Alten und dem Neuen Kontinent verläuft ein tiefer digitaler Graben. Für die Europäer ist das Recht auf Privatsphäre ein hohes Gut. Für die Amerikaner ist fast nichts wichtiger als das Recht auf freie Meinungsäußerung. Immer weniger scheinen die beiden Welten vereinbar.
Die amerikanische Reaktion auf das Urteil war einhellig: Unverständnis, Ablehnung, Entsetzen - nicht nur bei den Internetkonzernen im Silicon Valley, sondern auch bei Medien, Politikern und Intellektuellen. Auf den Kommentarseiten der Zeitungen, auf Twitter und im Fernsehen brach ein Sturm der Entrüstung los.
Das Urteil gefährde die Pressefreiheit und die freie Meinungsäußerung, warnte die New York Times. Es könne dazu führen, dass "die Europäer schlechter informiert werden", es dürfe kein Recht geschaffen werden, "das es Individuen erlaubt, legale Informationen zu verstecken".
US-Kommentatoren verwiesen hämisch darauf, dass die europäische Vorliebe für den Schutz der Privatsphäre auf altertümliche deutsche und französische Gesetze zum Duellieren von Adeligen zurückgehe. Andere spekulierten, dass es sich nur um eine plumpe Vergeltung für die NSA-Affäre handle.
In den USA wird das Recht auf freie Meinungsäußerung, verankert im ersten Zusatzartikel der Verfassung, so hochgehalten, dass jede auch nur vermutete Einschränkung als grundsätzlicher Angriff auf die Demokratie gewertet wird. Die Privatsphäre spielt dagegen in der amerikanischen Rechtsphilosophie kaum eine Rolle. Für Internetfirmen im Silicon Valley wirkt die europäische Fixiertheit auf den Datenschutz deswegen oft absurd.
Doch nun, nach dem Urteil des EuGH, werden sie diese Bedenken ernster nehmen müssen. Die Frage aber ist, was der Richterspruch konkret bedeutet - für Google, Facebook und all die anderen Daten-Konzerne. Und für ihre Nutzer.
Bei dem Kölner Anwalt Christian Solmecke meldeten sich nach dem Urteilsspruch ein gutes Dutzend Betroffene, die ihre Einträge in der Trefferliste von Google gern gelöscht sähen. Ein junger Mann etwa, der in der sechsten Klasse den Vorlesewettbewerb an seiner Schule für lernbehinderte Kinder gewann, wie eine Regionalzeitung damals schrieb. Tatsächlich handelte es sich um eine Förderschule. Wer seinen Namen googelt, bekommt heute als Suchergebnis die alte Geschichte, für eine Bewerbung - traurig, aber wahr - ein Nachteil.
Mit dem EuGH-Urteil im Rücken stünden die Chancen gut, dass Google den Link auf den Artikel aus seinen Suchtreffern löschen muss, glaubt Solmecke. Die Zeitung muss er dafür nicht verklagen, haben die Luxemburger Richter klargestellt.
Bisher weigerte sich Google meist, Links auf Anfrage zu löschen, solange die Betroffenen kein Urteil gegen die Website selbst in der Tasche hatten. Bei Internetseiten, deren Betreiber irgendwo auf den Cayman Islands oder in Belize sitzen, war das kaum durchzusetzen. Was auf einer einzelnen Internetseite berichtet werde, verletze die Persönlichkeitsrechte zudem nicht unbedingt, argumentieren die Richter. Dass Google es Millionen Nutzern ermöglicht, die Seite zu finden und ein mehr oder weniger detailliertes Profil eines Menschen zu erstellen, könne die Rechte des Einzelnen dagegen sehr wohl verletzen. Was auf einer einzelnen Website rechtmäßig ist, kann als Treffer bei Google also durchaus illegal sein.
Die Luxemburger Richter machen klar: Die EU-Bürger haben prinzipiell ein Recht auf den Schutz ihrer "personenbezogenen Daten" - das müssen nicht einmal besonders heikle sein: das Geburtsdatum kann darunterfallen, die Nennung des Arbeitgebers oder ein Hinweis auf einen Hauskauf, je nach Umstand. Wer ein schutzwürdiges Interesse vorbringt, kann die Löschung aus der Trefferliste verlangen. Doch der EuGH hat keinen "platten Löschungsanspruch vorgeschrieben, sondern eine Abwägung", sagt Michael Bartsch, Anwalt für IT- und Datenschutzrecht.
Zwar wiegen die Rechte der Bürger nach Ansicht der Richter grundsätzlich schwerer als das finanzielle Interesse der Suchmaschinenfirma oder das Interesse der breiten Öffentlichkeit an einer Information. Doch "besondere Gründe, wie die Rolle der betreffenden Person im öffentlichen Leben", könnten durchaus dazu führen, dass das Interesse der Allgemeinheit überwiege, dass die Suchergebnisse im Netz bleiben. Mehr Hilfe für die Abwägung lieferten die Richter in ihrem Urteil nicht.
Am vergangenen Dienstag, das Urteil war erst ein paar Stunden alt, schrieb Joachim Dresen, der in Wahrheit anders heißt, eine E-Mail an den Kölner Medienanwalt Ralf Höcker. Betreff: "Google-Urteil des EuGH". Er fragte: "Sehen Sie im Zuge dieses Urteils eine Möglichkeit für mich, aus der Falle herauszukommen?" Was ihn plagt, liegt gut zwei Jahre zurück.
Dresen war damals Vorstand bei einer Bank. Ein Millionenkredit, den diese einer Firma gewährt hatte, kostete ihn seinen Posten. Zwar fand er bald einen neuen Job mit weniger Verantwortung, doch nun läuft sein Vertrag aus, und der Manager sucht etwas Neues, in höherer Position. "Bisher wurde ich nicht einmal zu einem Gespräch eingeladen", sagt er. "Alle potenziellen Arbeitgeber googeln erst mal. Schon die ersten Treffer führen zu den Zeitungsartikeln über das Debakel."
2012 beauftragte er Höcker, bei den Redaktionen eine Löschung der Seiten zu erreichen oder zumindest die Abkürzung seines Namens - doch der Anwalt riet ab, mangels Erfolgsaussicht. Nun will sich Höcker an Google halten. "Der Kampf wird nicht einfach. Google wird alles versuchen, das Urteil auszuhebeln. Aber wenn es sein muss, gehen wir auch vor Gericht."
Auch bei Anwalt Solmecke melden sich jetzt viele prominente und halbprominente Wirtschaftsbosse. Den meisten kann er aber keine allzu große Hoffnung machen. Bei Managern, die sich etwa mit Interviews selbst in die Medien gebracht hätten, habe die Öffentlichkeit womöglich ein Recht darauf, sich ein umfassendes Bild der Person zu machen. Es sei denn, es gehe um Details aus dem Privatleben oder Informationen, die Jahre zurückliegen. Aber reichen 2 oder 5 Jahre, oder müssen erst 15 Jahre ins Land gegangen sein, damit eine Information veraltet ist und der Betroffene einen Anspruch auf Löschung hat?
Und was ist mit dem 17-Jährigen, der in einem Blog-Eintrag gegen den Kapitalismus wettert und sich später, mit 27, bei einer Bank bewirbt?
Es sind ungeklärte Fragen wie diese, die auch die Google-Verantwortlichen derzeit überfordern. Im Hauptquartier des US-Konzerns in Mountain View heißt es, man sei noch dabei, das Urteil zu verdauen. Bei der Hauptversammlung des Konzerns vergangene Woche machte Google-Verwaltungsratschef Eric Schmidt keinen Hehl daraus, dass er die Entscheidung aus Europa für vollkommen falsch hält. "Es gibt einen Konflikt zwischen dem Recht auf Vergessenwerden und dem Recht, zu wissen; beides muss in Einklang gebracht werden. Google hält die Balance, die das Urteil findet, für falsch", so Schmidt.
Rechtsmittel hat Google dagegen aber nicht. Mit Hochdruck wird daher nach einem Prozedere gesucht, wie die Löschanfragen gehandhabt werden sollen. Das fällt auch deshalb schwer, weil die Google-Manager nicht abschätzen können, ob sie einige Tausend oder eine Million Löschungsgesuche zu prüfen haben. Pauschal nachzugeben sei keine Option - jeden Fall einzeln zu bearbeiten aber ein enormer personeller und logistischer Aufwand.
In Googles Deutschland-Zentrale in Hamburg arbeiten keine zehn Mitarbeiter in der Rechtsabteilung. Mit massenhaften Löschgesuchen wäre das Unternehmen schnell überfordert. Und selbst wenn Google den Löschanträgen nachkommt, stellen sich weitere Fragen: Entfernt die Suchmaschine nur die Verweise bei ihren europäischen Ablegern, lässt die Daten aber auf der US-Seite bestehen? Wird Google vermerken, dass in der Trefferliste Beiträge fehlen?
Weigert sich der Konzern, einen Treffer aus den Suchergebnissen zu löschen, müssen Betroffene ihr Recht wie bisher vor Gericht einklagen - oder sie können sich an Johannes Caspar wenden.
Der Hamburgische Datenschutzbeauftragte sitzt im Konferenzraum seiner Miniaturbehörde, 14,4 Planstellen, blauer Linoleum-Fußboden. Weil Google Deutschland oder Xing in Hamburg ihren Firmensitz haben, ist er in Datenschutzfragen für sie zuständig.
"Die neue Rechtsprechung verändert vieles. Google ist jetzt grundsätzlich für die Links verantwortlich", sagt er. Betroffenen Nutzern "werden wir konkrete Rechtshilfe leisten", verspricht Caspar. Erste Anlaufadresse aber sei Google. Erst wenn der Konzern sich sperre, sei das ein Fall für die Datenschutzaufsicht.
Aufsichtsbehörden und Suchmaschinenfirmen müssten sich jetzt auf Kriterien für die Löschung verständigen. Sonst bestehe die Gefahr, "dass Bürger und Suchmaschinenbetreiber je nach Aufsichtsbehörde völlig unterschiedlich behandelt werden". Dass es zu massenhaften Konflikten kommt, befürchtet Caspar nicht. "Google hat bei der Debatte um Street View gezeigt, dass man sehr pragmatisch denkt."
Doch dass Google nun reflexartig draufloslöscht, wie viele glauben, ist schon deshalb nicht zu erwarten, weil der Konzern bisher um jeden Suchtreffer verbissen kämpfte. Selbst dann, wenn die Websites, auf die die Suchmaschine verlinkte, nachweislich illegal waren. Für Google ging es dabei nie bloß um den Einzelfall, sondern immer um das große Ganze: Die Freiheit im Netz, sein Selbstverständnis als neutraler Dienstleister, der nicht haftbar gemacht werden dürfe für fremde Inhalte.
Wie stur sich Google stellen kann, mussten schon Bettina Wulff und Max Mosley erfahren. Die frühere First Lady hatte gegen die Suchwortvervollständigung des Konzerns geklagt. Bei der Eingabe ihres Namens schlug Google die Worte "Escort" und "Rotlicht" vor. Der frühere Motorsportpräsident Max Mosley war von einer britischen Boulevardzeitung bei einer privaten Sadomaso-Party heimlich gefilmt worden. Google weigerte sich, die Bilder aus seinen Suchergebnissen zu entfernen. Gerichte in Paris und Hamburg verdonnerten den Konzern vor einigen Monaten, die Fotos herauszufiltern. Der Konzern ging in Berufung. Nach dem EuGH-Spruch, sagt Mosleys Anwältin Tanja Irion, "ist klar, dass Googles Standardargumentation, der Konzern sei für die Inhalte seiner Suchergebnisse nicht verantwortlich, zusammengebrochen ist".
Auf jeden Fall wird Google sich umstellen müssen. "Die Suchmaschinenbetreiber werden stärker in ein gesellschaftliches Verantwortungssystem eingebunden", sagt Alexander Dobrindt, Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur. So wie Industrie- oder Medienkonzerne müssten auch Internetanbieter die Auswirkungen und Grenzen ihres Tuns in den Blick nehmen. "Das mag für den einen oder anderen Internetkonzern unangenehm sein", so Dobrindt. "Der Grundsatz aber, dass das Netz den Menschen dienen soll, wird gestärkt."
Er würde allerdings weit mehr gestärkt, wenn sich Europa endlich auf einen einheitlichen Datenschutz verständigen könnte. Doch daran hapert es - obwohl das Europäische Parlament bereits Mitte März eine Datenschutzverordnung verabschiedet hat. Diese sieht bei Verstößen durch die Konzerne sogar Bußgelder von bis zu fünf Prozent des Jahresumsatzes vor. "Dann könnten Google und Co. nicht mehr so einfach geltende Gesetze ignorieren", sagt der Grünen-Abgeordnete Jan-Philipp Albrecht, zuständiger Berichterstatter im Europäischen Parlament.
Doch ausgerechnet Deutschland zählt zu den größten Blockierern der Verordnung im Europäischen Rat. Innenminister Thomas de Maizière hat Bedenken, dass das deutsche Datenschutzrecht ausgehebelt würde. "Durch das Urteil wächst aber der Druck, dass Deutschland endlich in die Puschen kommt", sagt Albrecht.
Kommission und EU-Parlament wollen die Bürgerdaten nicht nur vor dem Zugriff privater Konzerne schützen, sondern auch vor staatlichen Stellen. Und da, so die deutsche Position, seien die bisherigen Regeln in Deutschland viel härter. "Wir wollten unser Schutzniveau erhalten - mit dem Ergebnis, dass man uns die Blockade der Verordnung vorgehalten hat", sagt Ex-Innenminister Hans-Peter Friedrich.
Ob die jetzige Bundesregierung dessen Linie beibehält, ist unklar, schon weil es mit Justizminister Heiko Maas einen neuen Spieler gibt. Auch das Innenministerium sucht nach einer Haltung. Zwar haben die Minister versprochen zu kooperieren. Auf der Arbeitsebene aber kämpfen sie darum, welches Haus wie viel zu sagen hat. Bis Ende August wollen sie sich zu einer gemeinsamen Linie durchgerungen haben.
Vor Europas Politikern müssen sich Google und Co. wohl nicht fürchten. Vor Richtern schon eher.