IRAK,
Im Norden des Irak fließt von den Zagros-Bergen das Wasser Richtung Tigris, zur Ebene des Zweistromlands. Es ist Mai, die Zeit vor der Ernte, lang hängen die Grannen der Gerste. Felder, bestanden mit Korn, ziehen sich bis zur großen Syrischen Wüste. Dies ist altes Land, biblisches Land. Hier wächst Getreide seit zehntausend Jahren, hier lernten Menschen, es anzubauen, auf den Feldern der Stadt Nimrud, benannt nach dem Urenkel Noahs.
Östlich des Tigris, zwischen den Städten Arbil und Mossul, öffnet sich ein kleines Tal, auf dessen Grund sich weithin weiße Zelte reihen. Es ist Kawergosk, eines von sieben Flüchtlingslagern in der autonomen irakischen Region Kurdistan. Posten der Armee umringen die Zeltstadt, Stacheldraht umzäunt das Camp. Dahinter leben über 13 000 Menschen.
Sie laufen auf schlammigen Wegen durch das Lager, aber nachts leuchten Neonlaternen, in den Zelten rauschen Klimaanlagen und Ventilatoren, das Wasser ist gefiltert, das Obst auf den Märkten im Lager frisch. Wer hierher flieht, wird nicht als Eindringling empfangen. "Es sind Kurden", sagen die Einheimischen, "unsere Brüder und Schwestern."
Eine von ihnen kauert im Osten des Lagers hinter dem Ofen des Bäckers, Belrissa Ali Awdi. Sie ist 62 und zum ersten Mal in ihrem Leben im Ausland. Fast ihr ganzes Leben hat sie in Kamischli verbracht, der großen Kurdenstadt im Nordosten Syriens, hat über drei Zimmer regiert, zwei Söhne verheiratet, ihren Mann begraben.
Jetzt ist ihr Dach eine Baumwollplane, und ihre Küche ein Gaskocher. Neben dem Eingang ihres Zeltes brüllt der Fernseher, ein indischer Musikkanal ist eingestellt, der die Träume einer fremden Welt versendet. Belrissa schaut auf tanzende Männer in den Alpen, das Grinsen von Mickey Mouse und Frauen, die singend Geschenkschatullen öffnen, in denen sie große Brillantringe finden. Verwandte rufen manchmal an, erzählt Belrissa, sie fragen, wie das irakische Kurdistan so ist. "Aber woher soll ich das wissen?", sagt sie, "alles, was ich sehe, ist das hier."
Bilder ihrer Vergangenheit kann sie im Fernseher nicht finden. Ihr Leben war anders. Sie erinnert sich an die Arbeit auf den Zwiebelfeldern, als ihre Arme noch stark waren, und an die geheimen Feiern ihrer Großväter zum kurdischen Neujahrsfest, an die Lieder des Widerstands. Sie weiß noch, wie die Nadel schmerzte, mit der ihr die Mutter das Symbol des Mondes in die Stirn ritzte, damit sie beschützt sei. Ihre Sprache, ihre Lieder, ihre Feste waren verboten in Syrien. Die Männer in Damaskus mochten die Kurden nicht.
Belrissa Ali Awdi war Gefahr gewohnt, im Grunde ein Flüchtling seit Generationen. Aber im syrischen Bürgerkrieg bemerkte sie etwas Neues. Seit drei Jahren sah sie dabei zu, wie ihre Stadt verblich, langsam, wie ein Gemälde, das seine Farben verliert. Erst ging das Licht aus, dann wurde das Gas knapp, das sie brauchte, um Tee für die Gäste zu kochen. Aber auch die Gäste wurden weniger, dann verließen Ärzte den Ort, und in den Apotheken waren die Regale leer.
Irgendwann hörte sie die Explosionen vor der Stadt, sah den Rauch am Himmel. "Wir müssen gehen", sagte sie ihrem ältesten Sohn Ahmed. "Nein", sagte er. Drei Tage lang ließ sie ihn widersprechen, dann, an einem Sonntag im August, packte sie ihre Kleider in einen schwarzen Plastiksack. Am Ende saß die ganze Familie in einem Kleinbus zur Grenze. Umgerechnet 40 Euro zahlten sie dem Schleuser.
Jetzt schneiden Belrissas Töchter im Vorzelt Auberginen und Gurken, sie zieht die Enkel an sich heran und verteilt Küsse. Ihr jüngster Sohn, Farhad, 19, unverheiratet, verbringt den Tag damit, sich im Fernsehen die indischen Tänzerinnen anzusehen und sich die Haare zu kämmen. Er will nach Europa, sagt sie, "aber vorher muss er mir mein Grab schaufeln. Ich will, dass alle bei mir bleiben bis zum Schluss, keiner von ihnen soll mich verlassen".
Bebend vor Angst kamen im Sommer 2012 Flüchtlinge aus Homs in einer Schule im Dorf Safranija unter. Panzer der 4. Division einer Eliteeinheit hatten ihre Stadt angegriffen, noch Monate später steckte den überlebenden Opfern der Schock in den Gliedern. Schreiend baute sich einer aus der Gruppe vor einem Fotografen auf: "Nein, bitte: Macht keine Fotos! Wenn ihr ein Foto macht, kommen die Jets!" Er war von dieser unsinnigen Idee nicht abzubringen, er schlotterte vor Angst, er flehte, greinte, das sind Worte, die selten treffen, aber sie treffen die Gefühle von Menschen auf der Flucht. Sie stimmen für Syrer, deren Urvertrauen zerstört ist, seit die eigenen Soldaten auf ihre Kinder schießen.
Bald, als so viele in Bewegung waren, redeten sie weniger, die Flüchtlinge, ihre Geschichten schienen alle längst erzählt. Oder sie waren so kompliziert, dass sie kaum mehr nachzuvollziehen waren. Denn die "Nasihin", die Flüchtenden innerhalb Syriens, bleiben nur selten am ersten Zufluchtsort - sie ziehen weiter, als Kriegsnomaden, dorthin, wo gerade keine Bomben fallen. Wo die Front fern ist.
Oder wo sie so nah ist wie in Aleppo, denn an vorderster Front explodieren keine Fassbomben, mit Sprengstoff gefüllte Stahlzylinder, die von Hubschraubern aus großer Höhe abgeworfen werden. An der Front könnten sie die eigenen Truppen treffen, "friendly fire" werden. Also fallen sie dort nicht. Und so zieht die Front, ausgerechnet, Flüchtlinge an.
Auf die simple Frage nach dem Woher gibt es deshalb in Syrien oft keine Antwort mehr, sondern Gegenfragen: "Woher vor einer Woche? Vor sechs Monaten?" Manche sind schon vier-, fünfmal weitergezogen und am Ende dort wieder angekommen, wo sie aufgebrochen waren. Wenn sie noch irgendwo ankommen. 150 000 Menschen sind in diesem Krieg schon gestorben. Wer es schafft in die Türkei, in den Libanon, nach Irak oder Jordanien, wer nicht tot ist, ist ein Überlebender.