Justiz Du sollst nicht morden
Wenn es um Mord und Totschlag geht, dann regiert im deutschen Rechtsstaat manchmal der Zufall. Dann kann das Recht sehr ungerecht sein.
Zwei Fälle, zwei Urteile: Der Rocker Ralf aus Nienburg schuldet den Kumpanen seines Motorradklubs 30 000 Euro. Ralf taucht unter, wochenlang suchen die einstigen Freunde nach ihm. Als sie ihn schließlich finden, fahren sie ihn an die A7. An einer Böschung sagt Anführer Bernd: "Auf die Knie, du Schwein!" Ralf kniet. Dann erschießt ihn Bernd mit einer Pumpgun.
Das Urteil gegen den Täter: Totschlag. Nach sechseinhalb Jahren ist Bernd wieder frei. Das Rockerleben kann weitergehen.
Und dann gibt es den Fall von Otto, 75. Der Rentner aus Hamburg pflegt seit Jahren seine demente Frau Lydia, 88. Sie fleht ihren Mann an, sie nie ins Heim zu geben. Also rackert sich Otto ab: kochen, füttern, wenden, waschen, dazu die Gartenarbeit und das Einkaufen, jahrelang. Mit jedem Tag wird Lydia schwächer, täglich wächst die Last für Otto. Eines Morgens gehen Kaffeemaschine und Herd gleichzeitig kaputt, und im Schlafzimmer klagt Lydia über Schmerzen. Da geht Otto zu seiner Frau und drückt ihr ein Kissen aufs Gesicht, bis sie still ist. Dann verlässt er die Wohnung und wirft sich vor einen Bus.
Aber er überlebt. Die Staatsanwaltschaft klagt ihn wegen heimtückischen Mordes an. Das Gesetz fordert für Otto lebenslange Haft, frühestens nach 15 Jahren kann ein Mörder entlassen werden.
Eine eiskalte Exekution soll ein simpler Totschlag sein, das Töten aus Verzweiflung und Mitleid ein Mord - ist das gerecht?
"Sehr unbefriedigend" nennt Heiko Maas solche Ergebnisse. Deshalb nimmt sich der Bundesjustizminister den Mord-Paragrafen vor, mehr als 70 Jahre nach dessen Entstehung. Er will die zentrale Norm des Strafrechts gerechter machen und ganz neue Maßstäbe dafür entwickeln, wie schwer welche Tat wiegt und wie hart welcher Täter zu bestrafen ist. Eine Expertengruppe ist beauftragt, ihm ein Konzept zu erstellen. Die 16 Juristen, Kriminologen und Psychiater haben bei ihrer Empfehlung freie Hand. Bis hin zur kompletten Abschaffung des Mord-Paragrafen ist alles denkbar.
Das Vorhaben, das nicht im Koalitionsvertrag steht, ist nicht nur juristisch hoch anspruchsvoll. Es ist die politisch wohl heikelste Reform, die ein Justizminister je angepackt hat. Denn wenn das Strafrecht und das Gerechtigkeitsgefühl der Bürger aufeinandertreffen, geht es selten harmonisch zu. Die Deutschen haben sich schon furchtbar über die Frage erregt, ob Frauen ein ungeborenes Kind ungestraft abtreiben dürfen oder ob ein Gesetz Muslime und Juden daran hindern soll, ihre Söhne nach religiösen Regeln zu beschneiden.
Jetzt stellt Maas eine Vorschrift infrage, die den elementaren Grundsatz des menschlichen Zusammenlebens verkörpert: Du sollst nicht morden.
Die Debatte wird die meisten Deutschen unvorbereitet treffen. Juristenzirkel debattieren seit Jahrzehnten darüber, ob der Paragraf 211 in einem Rechtsstaat noch tragbar ist. Für Laien ist nur klar: Mord muss bestraft werden, und zwar feste. Sie diskutieren nicht über Tatbestandsmerkmale, sondern über die Frage, ob die Justiz zu nachsichtig ist mit Kinder- oder Ehrenmördern. Für viele ist jeder ein Mörder, der andere umbringt.
Was geschähe, wenn dieses Wort abgeschafft würde?
Der Entführer des kleinen Jakob von Metzler - nur ein Totschläger? Die Mutter, die ihr Baby verdursten lässt - keine Mörderin? Der muslimische Vater, der die Tochter erwürgt, weil sie Minirock trägt und Alkohol trinkt - nach acht Jahren wieder auf freiem Fuß?
"Das wird eine Diskussion wie bei der Beschneidung, aber hoch drei", seufzt einer von Maas' Beamten. Das Ministerium hatte dem SPD-Mann von seinen "Mord-Plänen" abgeraten. Eine Reform des schwersten Deliktes im Strafrecht, auf das die Höchststrafe von lebenslanger Haft steht, werden sich die Koalitionspartner CDU und CSU nur gegen zähen Widerstand abringen lassen. Denn eine entschiedene Verbrechensbekämpfung samt zünftiger Strafen für die Täter zählt zu den letzten Resten ihres konservativen Profils.
Bayerns Justizminister Winfried Bausback warnte bereits, niemand dürfe Lebenslang "durch die Hintertür" abschaffen. "Unsere Rechtsordnung muss den absoluten Geltungsanspruch des Tötungstabus klar ausdrücken."
Aber Maas hat auch ein moralisches Argument für seine Reform, das schwerwiegt: Der Mord-Paragraf ist das Werk der Nationalsozialisten. Der spätere Präsident des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, hatte die Vorschrift maßgeblich zu verantworten; er wollte das Mordrecht dem "gesunden Empfinden des Volkes" anpassen. Sein Gesetz schilderte den Deutschen möglichst anschaulich die "Mördergestalten", die sich unter ihnen tummelten.
Mörder ist nach Freislers Umschreibung, wer einen Menschen heimtückisch oder grausam tötet, aus Habgier, zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs oder aus anderen "niedrigen Beweggründen". Kaum war die Vorschrift am 8. September 1941 im Reichsgesetzblatt erschienen, jubelte die Fachwelt. "Der bislang farblose Paragraf ist einer lebensvollen, anschaulichen Tatbestandsumschreibung gewichen", schwärmte ein Schüler Freislers. Für jeden Volksgenossen sei nun klar: "Mörder wird man nicht, Mörder ist man."
Die Lehre vom Tätertypen, vom geborenen Volksschädling, steht bis heute im Strafgesetzbuch. Abgesehen von der Abschaffung der Todesstrafe blieb Paragraf 211 seit dem Krieg unverändert.
Ginge es Heiko Maas nur darum, das Recht von braunen Resten zu säubern, hätte er auch weniger brisante Themen anpacken können. Es gibt Dutzende deutsche Gesetze mit Nazivergangenheit. Das Heilpraktikergesetz gehört dazu oder die Vorschriften über die zulässige Höhe von Kleingartenhecken. Aber die Fälle von Rocker Bernd und Rentner Otto zeigen, dass Freislers Erbe nicht nur ideologisch vergiftet ist. Der Blutrichter hat eine Vorschrift abgeliefert, die im Praxistest regelmäßig versagt.
Zwei Tote, zwei Urteile: Der Rocker passte in keine Schablone des Mord-Paragrafen. Weder ging er heimtückisch vor noch grausam oder habgierig. Die Richter werteten die Tötung als Exzess. Ursprünglich sei nur geplant gewesen, den Mann zu verprügeln.
Dagegen verübte der Rentner nahezu lehrbuchmäßig einen Überraschungsangriff gegen ein arg- und wehrloses Opfer - ein klarer Fall von Heimtücke. Hätte Lydia eine Lebensversicherung abgeschlossen, dann stünde auch noch Mord aus Habgier im Raum.
Zwei Tötungen, zwei Leidensgeschichten: Der Rocker verbrachte seine letzten Minuten an der Autobahn in Todesangst. Die Tat hatte "Exekutionscharakter", schreibt das Landgericht Kassel in seinem Urteil. "Das Opfer musste seinem Tod quasi ins Auge sehen." Der Rentner tötete aus Verzweiflung, und vielleicht war die Tat für seine geliebte Frau auch eine Erlösung.
Doch das spielt nach dem Gesetz keine Rolle. Wer vorsätzlich tötet und dabei ein Merkmal des Paragrafen 211 erfüllt, ist ein Mörder. Punkt. Er muss lebenslang bestraft werden, seine Tat verjährt niemals. Die soziale Situation, die individuelle Schuld zählen nicht. "Die Justiz bestraft nicht die schlimmste Tötung oder den brutalsten Täter am härtesten", sagt Raban Funk, Vorstand des Vereins Deutscher Strafverteidiger. Als Mörder gelten ausgerechnet die Schwachen, die sich anschleichen müssen.
Die Vorschrift ist ungerecht. Aber die Richter wollen es nicht sein. In ihren Gerichtssälen biegen sie die Fälle und das Recht so lange, bis beides irgendwie passt. Die Schwurgerichte und der Bundesgerichtshof (BGH) haben Umwege gefunden, um nicht alle Täter pauschal mit Lebenslang zu bestrafen, sondern jeden nach seiner persönlichen Verantwortung. Sie lassen sich von Gutachtern attestieren, dass der Täter im Affekt gehandelt hat, vielleicht eine Aufmerksamkeitsstörung hatte und nicht wusste, was er tat.
Nicht jede Tötung, die dem Opfer besondere Schmerzen zufügt, ist automatisch ein grausamer Mord. Die Richter fordern, dass der Täter aus einer "gefühllosen, unbarmherzigen Gesinnung" heraus handelte. Und es gilt längst nicht jeder Überraschungsangriff auf Ahnungslose als heimtückischer Mord. Die Staatsanwälte müssen beweisen, dass der Täter dem Opfer zutiefst "feindselig" gesinnt war.
Die Kreativität der Gerichte schützt geprügelte Ehefrauen, die ihren Haustyrannen töten, indem sie ihm ein vergiftetes Abendessen servieren. Sie schützte auch Rentner Otto. Das Gericht gab ihm drei Jahre Haft für Totschlag in einem minder schweren Fall. Das Urteil hat wenig mit dem Gesetz zu tun, aber viel mit Gerechtigkeit. Aber für gerechte Urteile müssen Richter eben hart an die Grenzen ihrer Befugnisse gehen. Das kann für den Angeklagten gut gehen, muss es aber nicht. "Der Gesetzgeber hat die Justiz mit der Verantwortung für den Mord-Paragrafen ein Stück weit allein gelassen", sagt Stefan Caspari, Mitglied der Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes.
Das gilt vor allem für das Merkmal der "niedrigen Beweggründe", das der nationalsozialistischen Ideologie in besonderer Weise entspricht. Mit ihm konnte das Dritte Reich Täter nach ihren Motiven filtern: Wer "Feinde der Volksgemeinschaft" eliminierte, sollte vom Vorwurf des Mordes verschont bleiben.
Bis heute ist dieses Mordmerkmal einer der seltenen Fälle im Strafrecht, in denen die Gesinnung des Täters entscheidet, für welche Tat er verurteilt wird. Normalerweise zählen dafür objektive Kriterien: Der Dieb ist ein Räuber, wenn er Gewalt anwendet. Die Körperverletzung ist gefährlich, wenn der Täter eine Waffe schwingt. Motive interessieren die Richter erst, wenn sie die Höhe der Strafe festlegen. "Für vorsätzliche Tötungen gibt es auch selten gute Gründe", spottet der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof Thomas Fischer.
Die Gerichte müssen trotzdem täglich schlechte gegen besonders schlechte Gründe abwägen. Auf Ausländerhass oder Rassismus kann man sich leicht einigen. Aber was ist mit krankhaftem Neid unter konkurrierenden Kollegen? Oder der Rache für die Tötung eines geliebten Menschen? Zu diesen Grenzfällen, auf die der Mord-Paragraf keine Antwort bietet, wuchert ein Dickicht von Urteilen, das auch Juristen kaum durchblicken.
Eine Tötung aus Rache muss kein Mord sein, urteilte der BGH im Fall eines jungen Kurden. Der Mann hatte ein verfeindetes Clan-Oberhaupt vor dessen Haustür niedergeschossen, weil er sicher war, dass dieser Mann seinen Vater getötet hatte. Die Rachegefühle eines trauernden Sohnes seien menschlich verständlich, urteilten die Richter. Nicht aber die Wut eines Neffen: Der Mittäter wurde wegen Mordes verurteilt.
Ist das gerecht? Die Justiz versucht, ein System zu schaffen. Doch in der Summe erscheinen ihre Urteile oft willkürlich. Wie die Entscheidungen zum Mord aus Eifersucht. Wer aus Liebe tötet, gilt als Mörder, sobald seine Gefühle "krass eigensüchtig" erscheinen. Aber er kann mit Totschlag davonkommen, wenn die Exfreundin ihn bei der Trennung gedemütigt hat. Oder wenn er fürchtet, wegen der Scheidung sein Aufenthaltsrecht zu verlieren.
Alle diese niedrigen oder hehren Motive spielen sich im Kopf der Täter ab. Die Justiz ist darauf angewiesen, dass Angeklagte aussagen. Oder darauf, dass psychiatrische Gutachter die Seele des Täters erklären. So kann ein unvorsichtiger Satz im Verhör oder ein kluges Schweigen zur rechten Zeit schicksalhaft wirken.
Die Expertengruppe von Heiko Maas hat sich inzwischen zweimal getroffen. Um den Tisch des Konferenzsaals in der fünften Etage des Ministeriums sind die Besten ihrer Zunft versammelt, ausgewiesene Kenner der Strafjustiz und der menschlichen Psyche. Die pensionierte BGH-Senatsvorsitzende Ruth Rissing-van Saan, die den Kannibalen von Rotenburg als Mörder hinter Gitter brachte, ist dabei. Neben ihr sitzt der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber, der gerade an der FU Berlin in einem Langzeitprojekt verurteilte Mörder auf Gemeinsamkeiten untersucht. Die Experten haben Themen verteilt und halten Referate wie einst im Studium. Jedes Mordmerkmal wird durchgekaut.
Dabei kommen sie immer wieder auf eine Frage zurück: Kann man Tötungen überhaupt in schlimm und noch schlimmer trennen? Ist nicht jede solche Gewalttat einfach furchtbar?
So denkt der Strafrechtsexperte Rüdiger Deckers, ein erfahrener Verteidiger. Er hat für den Deutschen Anwaltverein eines der radikalsten Reformkonzepte für den Mord-Paragrafen mitentwickelt. "Es ist eine Illusion zu glauben, dass sich Tötungen qualitativ steigern lassen", sagt Deckers. "Am Ende haben alle Fälle nur eines gemeinsam: Ein Mensch wurde umgebracht. Schlimmer geht es doch nicht."
Deshalb gibt es in Deckers' Reformkonzept nur "Tötungen", keinen Mord oder Totschlag. Die Taten unterscheiden sich lediglich in der Höhe der Strafzumessungen. Diese sollen die Richter frei bestimmen, auf einer Skala von fünf Jahren bis Lebenslang.
Die Lösung klingt klar und einfach. Die meisten Deutschen haben den Unterschied zwischen Mord und Totschlag ohnehin nie nachvollzogen. In ihrer Vorstellung hat ein Mörder seine Tat eiskalt geplant, während der Totschläger ein spontaner Angreifer ist. Genau so stand es auch früher im Reichsstrafgesetzbuch - bis 1941. So kann es gut sein, dass die Experten Maas am Ende empfehlen, den gordischen Knoten zu durchtrennen: Nie mehr Mord.
"Eine hochgefährliche Idee." Benedikt Pauka sitzt in seiner Kanzlei, einer Gründerzeitvilla unweit des Kölner Doms. Im Konferenzraum mit Erker und Blick auf den Rhein empfängt er sonst Unternehmer, die Ärger mit der Steuerfahndung oder den Kartellbehörden haben. Aber jedes Jahr übernimmt der 43-Jährige auch mindestens einen Mordfall, obwohl die Mandate wenig einbringen, aber die Fälle seien "juristisch und menschlich faszinierend".
Den Mord-Paragraf abzuschaffen ist Verteidiger Pauka "unheimlich", wie er sagt: "Wir sind auf dem bestem Wege, Richtern grenzenlose Macht zu geben." Er ist überzeugt: Viele seiner Klienten wären unter einem Paragrafen, der nur noch danach schaut, ob jemand gewaltsam ums Leben gekommen ist, nicht gerechter, sondern härter bestraft worden.
Paukas letzter Fall war der "Beton-Killer": Gerd Paulus, 52, arbeitslos, der seine Frau im Streit erwürgte. Den Kindern sagte Paulus, die Mama sei weggelaufen. Tatsächlich lag ihre Leiche im Keller, einbetoniert hinter einem Weinregal. Sohn und Tochter glaubten dem Vater; jahrelang suchten sie ihre Mutter über die Polizei und im Fernsehen. Der Täter suchte gezwungenermaßen mit. Auf RTL weinte er um seine "verschwundene" Frau. Nach fünf Jahren stand dann die Polizei vor seiner Tür, Paulus gestand sofort.
Im März verurteilte ihn das Landgericht Bonn zu acht Jahren Haft - als Totschläger. Ein mildes Urteil. Die Richter hatten sich viel Arbeit gemacht: Sie befragten die Kinder des Angeklagten, ließen sich von Medizinern die Verletzungen der Toten erklären und von Psychiatern den Charakter des Witwers. Am Ende glaubten sie Paulus, dass er kein schlimmer Kerl sei. Dass seine Frau Sigrid ihn oft beschimpft und gedemütigt habe, auch vor den Kindern. Dass ihm eines Tages einfach die Sicherung durchbrannte. Und dass er seine Tat nur vertuschte, weil die Kinder nicht auf einen Schlag beide Eltern verlieren sollten. Von da war es nur ein kleiner Schritt zu einem milden Urteil.
Nach dem Konzept des Deutschen Anwaltvereins hätten die Richter komplett anders denken müssen. Sie hätten Paulus erst für schuldig erklären und dann, nach eigenem Ermessen, die Strafe wählen müssen. "Dann könnte niemand verhindern, dass der Zeitgeist ein Urteil prägt oder die Stimmung der Medien und der Öffentlichkeit", warnt Benedikt Pauka.
Dem "Beton-Killer" Paulus wünschten die Leute in Internetforen, er möge selbst eingemauert werden, am besten lebendig. Die Deutschen können gnadenlos sein, wenn es um Verbrechen und Strafe geht. Noch 1998 sagte in einer Umfrage jeder Zweite, dass Kindermörder die Todesstrafe verdienen.
Umgekehrt können die Leute eine irrationale Sympathie für Mörder entfalten. Dem 15-jährigen Tobias aus Niedersachsen, der seine Großeltern auf brutalste Art und Weise umgebracht hatte, schlug eine Welle der Sympathie entgegen, als sich herausstellte, dass er seine kleine Schwester rächen wollte. Der Großvater hatte sie missbraucht. Die Solidarität der Bürger mit dem Mörder ging so weit, dass die Richter bei der Urteilsverkündung warnten, man möge Tobias nicht noch loben. "Das hätte ich auch getan", hatte die Lokalzeitung Nachbarn zitiert. "Auf das Bauchgefühl der Bürger zu hören ist im Rechtsstaat selten eine gute Idee", sagt Tobias' Verteidiger Raban Funk. Der neue Mord-Paragraf müsse klare Wertungen enthalten. "Schließlich soll er in 50 Jahren auch noch gerechte Urteile ermöglichen."
Vermutlich werden die Experten am Ende empfehlen, die Mordmerkmale nicht abzuschaffen, aber sie präziser zu fassen. Die niedrigen Beweggründe würden ganz gestrichen, so wie es auch der BGH-Richter Fischer fordert (siehe SPIEGEL-Gespräch). Das Gesetz muss ausdrücken, was eine Gesellschaft als besonders verwerflich empfindet. Verzichtet es auf diese Festlegung, entfernt es sich vom allgemeinen Rechtsempfinden.
Eine andere Frage ist, ob mit der Reform das automatische Verdikt Lebenslang fallen soll. Für Kriminologen hat die härteste Strafe im deutschen Recht noch immer einen hohen symbolischen Wert. "Sie ist Ausdruck unserer Werte und stärkt das Sicherheitsgefühl der Bürger", sagt Kai Bussmann, Kriminologe an der Uni Halle-Wittenberg. Für notwendig hält die Wissenschaft es aber längst nicht mehr, dass ein Mörder im Durchschnitt 18 Jahre hinter Gittern verbringt. Bereits nach zehn Jahren im Gefängnis, so wusste es das Bundesverfassungsgericht bereits 1977, empfinden die Täter keine Reue, die Haft hat sie abgestumpft. Ihre Missetat ist so lange her, ihre Opfer sind so lange tot, dass beides für sie bedeutungslos geworden ist.
Die Deutschen morden immer weniger. 2013 zählte die Polizei 647 Fälle, davon 406 Versuche. Wenn die Bürger töten, dann oft fahrlässig oder im Affekt. Die Täter, die vorsätzlich handeln, sind selten psychopathische Killer, wie man sie aus dem Kino kennt. Viele sind zuvor unbescholtene Bürger, die eine persönliche Rechnung zu begleichen haben. Gemordet wird unter Freunden, Verwandten, Kollegen. "Dass ein Fremder Sie einfach umbringt", sagt Kriminologe Bussmann, "gehört in Deutschland nicht zum Lebensrisiko."
Heiko Maas findet den Zeitpunkt seiner Reform ideal. Wenn wenig gemordet wird, haben die Deutschen vielleicht weniger Angst vor einer Reform des Mord-Gesetzes.
Eine Vorgabe hat er seinen Experten allerdings gemacht, die einzige: Wenn sie an das Lebenslang gehen, sollen sie die Gemütslage der Bürger berücksichtigen. Ganz abschaffen geht nicht, das weiß Maas, und so hat er es den Juristen für ihre Beratungen auch mit auf den Weg gegeben.