Bildung Einer für alle
Hier also beginnt sie, die Karriere als Arzt, im Kolpinghaus Hannover. Dunkle Holzvertäfelung, olivgrüne Sitzkissen, der Seminarraum wirkt wie eine Ausnüchterungszelle für junge Menschen, die vom Medizinstudium träumen. Und falls noch Reste von Träumerei übrig geblieben sein sollten, erledigt die jetzt der Würfel des Grauens. Ein durchsichtiger Würfel mit zwei Schläuchen in der Mitte, die ineinander verschlungen sind.
Sieben Teenager umkreisen ihn, um ihr räumliches Denken zu schulen. Sie wollen sich ein Bild machen, wie die Kabel von oben aussehen, von unten, von rechts, von links. Und wie das alles wäre, wenn sie nicht mehr um den Würfel herumgehen könnten, sondern nur ein Bild dieses Würfels vor sich hätten - und sich dann vorstellen müssten, wie er aussieht, von oben, unten, rechts oder links.
Denn darum geht es am 9. Mai wieder, wenn es ernst wird für die Teilnehmer dieses Seminars und all der anderen Vorbereitungskurse im Land. Wenn 12 000 Bewerber in rund 50 deutschen Städten gleichzeitig vor denselben Aufgaben sitzen, dem Medizinertest, und sie besser sein müssen als die Konkurrenten, die auch einen der begehrten Studienplätze haben wollen.
Der Medizinertest ist eine einzigartige Prüfung im Land. Sie ist vermutlich schwerer als jede andere, so konstruiert, dass kaum einer alle Aufgaben lösen kann; jedenfalls hat es noch kein Teilnehmer geschafft. Und sie ist für alle gleich, ein echter nationaler Test. Das ist außergewöhnlich im deutschen Föderalismus, wo sonst jede Schule, jede Hochschule, zumindest aber jedes Bundesland festlegt, was Prüflinge zu leisten haben.
Test für medizinische Studiengänge, TMS, so heißt er offiziell. Rund ein Jahrzehnt lang, von 1986 bis 1996, mussten Abiturienten ihn absolvieren, dann wurde er abgeschafft, weil die Bewerberzahlen für die Studienplätze gesunken waren. Doch längst ist der Arztberuf wieder begehrt, und 2007 erlebte der Test ein Comeback. In diesem Jahr vergeben erstmals seit der Wiedereinführung mehr als die Hälfte der deutschen Medizinfakultäten, 19 von 36, ihre Studienplätze auch mithilfe des Tests.
Es ist die Kapitulation der Unis vor der schieren Masse. Die Relation im Jahr 2014: 43 002 Bewerber, aber nur 8999 Erstsemesterplätze. Einige Plätze sind reserviert, für Ausländer, Härtefallkandidaten, Bundeswehrsoldaten und andere Gruppen (siehe Grafik). 17,5 Prozent der Plätze gehen an diejenigen, die am längsten gewartet haben; sechs Jahre lang muss man derzeit anstehen. Weitere 17,5 Prozent erhalten die Jahrgangsbesten in jedem Land.
In 13 Bundesländern reichte dieser Anteil im letzten Wintersemester aber nicht mal aus, um alle Bewerber mit einem Schnitt von 1,0 aufzunehmen. Also drängeln sich die meisten um die gut 50 Prozent der Plätze, die nicht an die Besten und die Geduldigsten gehen. Und bei denen die Hochschulen neben dem Abi-Schnitt eigene Auswahlverfahren einfließen lassen dürfen. Für 19 Hochschulen bedeutet das: Sie nutzen den Medizinertest, erstellt von einer Firma in Bonn, ITB Consulting.
Der Test verlangt den Kandidaten alles ab. Unter anderem: sich vor dem Mittagessen in vier Minuten 20 verschiedene Figuren zu merken, jede aufgeteilt in fünf Felder, eines davon schwarz. In der nächsten Runde in sechs Minuten 15 Patientennamen mit 60 Fakten: Alter, Beruf, die Diagnose, ein weiteres Detail. Abgefragt werden die Kandidaten aber nicht sofort, nicht mal gleich nach der Mittagspause. Zuerst müssen sie noch eine Stunde lang Texte auswerten, dann kommen die Fragen: Woran litt der Friseur? An welcher Stelle hatte diese Figur einen schwarzen Fleck?
So hart der Test auch sein mag, immerhin gibt er denen eine Chance, die Pech mit einem Lehrer hatten oder einen mäßigen Tag in der Abi-Klausur. Zu denen, die den Testentwicklern auf ewig dankbar sein werden, gehört Aike Büter, 37, heute Infektionsmediziner an der Uni Kiel, der 1996 den letzten Test vor der TMS-Pause mitmachte. Das Abi: 2,6, weil er in der Schule "noch nicht der Allerfleißigste" war - damit konnte er das Medizinstudium eigentlich abhaken.
Doch beim TMS gehörte er zu den Besten, damit war damals ein Studienplatz garantiert. Die Kommilitonen schauten ihn erstaunt an, wenn er seine Abi-Note nannte. Dafür zählte er allerdings auch nicht zu denen, die nach dem ersten Tag im Präpariersaal hinschmissen, weil sie an einer Leiche arbeiten mussten. Das Studium schloss Büter mit "gut" ab.
Für den Test hatte Büter in einem Volkshochschulkurs geübt. Durch das Training sei er besser darin geworden, aus einer Reihe mit dem Buchstaben "B" diejenigen herauszustreichen, die mit zwei Strichen markiert waren. Bei anderen Aufgaben dagegen verbesserte Büter sich trotz aller Übung nicht. So soll es auch sein, der Test soll Fähigkeiten abfragen, die über lange Zeit erworben wurden, Konzentration, Logik, Erinnerungsvermögen - nicht dagegen Schulwissen oder anderes, das man bimsen kann.
Dennoch gibt es viele Angebote rund um den Test, ein Geschäft mit dem Versprechen, ein wenig näher an den Bestwert von 178 Punkten heranzukommen. ITB selbst bietet eine kostenlose Broschüre, zwei kostenpflichtige Bücher und ein Onlineportal zur Vorbereitung an. Manche Arbeitsagenturen offerieren kostenlose Seminare, private Anbieter nehmen mehrere Hundert Euro.
Günter Trost, Mitbegründer von ITB Consulting, beteuert: 20 bis 30 Stunden Vorbereitung seien sinnvoll, vor allem, um sich mit den Aufgabenstellungen vertraut zu machen, das könne jeder auch allein oder mit einem Freund machen. Alles darüber hinaus sei nutzlos, sei Geldverschwendung; der Test zeige jedem seine Grenze auf, und die sei nicht durch Üben verschiebbar.
Das sind die kleinen Fragen rund um den Medizinertest, wie man sich wappnet und am besten durch den Tag der Entscheidung kommt, die Fragen für die Prüflinge. Doch der Medizinertest wirft auch eine größere Frage auf: Ist es gut, so die künftigen Ärzte auszuwählen? Müsste es nicht auf anderes ankommen als die Fähigkeit, ein B mit Strich von einem B ohne Strich zu unterscheiden?
"Der TMS ist für die Hochschulen extrem charmant", sagt der Studiendekan der Medizinischen Fakultät in Münster, Bernhard Marschall. "Sie haben nicht viel damit zu tun, die Bewerber zahlen den Test zum größten Teil selbst mit ihrer Teilnahmegebühr von 73 Euro." Und die Stiftung für Hochschulzulassung verarbeite die Ergebnisse dann so, wie die Hochschule es vorgebe.
Das größte Problem aus Marschalls Sicht: Der TMS prüft allein die Studierfähigkeit, die kognitiven Fähigkeiten. Nicht aber, wie ein Bewerber mit Menschen umgeht. Auch ein Nerd könnte ihn also mit Bravour bestehen, am Patienten später aber komplett versagen. In Münster leisten sie sich deshalb ein mehrstufiges Verfahren. Ein Motivationsschreiben; ein Test zum naturwissenschaftlichen Verständnis, der etwa logisches Denken abfragt; schließlich zehn Situationen, wie sie einem Arzt später begegnen können, darunter auch einige mit Schauspielern. Merkt der Bewerber, dass sich in der Spielszene ein Patient bekleckert hat, also Probleme bei der Nahrungsaufnahme hat, oder dass ihm die Brille fehlt? Und wie reagiert der Abiturient, wenn er weiß, dass eine Massage für den Patienten zwar nichts mehr bringt, der aber mit begeisterter Stimme sagt, wie gut ihm doch die Massage wieder getan habe.
So ein Verfahren kostet viel Geld, ist es der Universität aber wert - Marschall hofft, noch lange. Eines weiß auch er: Wenn es nur darum ginge, die besten Kandidaten für das Physikum nach vier Semestern herauszumendeln, müsste die Uni Münster allein auf Abitur und TMS setzen.
Noch gehöre Münster zu den Top-5-Unis bei den Ergebnissen des Staatsexamens, sagt Studiendekan Marschall. Dass man nun den Fokus bei der Auswahl der Studenten auch auf andere Fähigkeiten legt und Bewerber mit einem Abiturschnitt von bis zu 1,4 annehme, könne durchaus dazu führen, dass Münster in diesem Ranking zurückfalle. "Denn das sind nicht die Leute, die im Staatsexamen besser ankreuzen als die über TMS Ausgewählten", sagt Marschall. "Dafür aber die, die vielleicht später die besseren Ärzte werden." Er wünscht sich ein Staatsexamen, das weniger von Multiple Choice dominiert wird, damit die Soft Skills nicht länger eine Randnotiz in Auswahl und Lehre bleiben.
Zu den TMS-Rebellen gehört auch die Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf, die sich wie Münster etwas von Auswahlverfahren in Kanada abgeguckt hat. Hamburg hat den HAM-Nat entwickelt, den auch Magdeburg und Berlin übernommen haben, einen Test, der Kenntnisse in Naturwissenschaften und Mathematik abfragt. Anders als der TMS und auch der Test in Münster verlangt der HAM-Nat ausdrücklich eine lange, gründliche Vorbereitung. Die Bewerber können und sollen für ihn lernen, denn sein Ziel ist es, dass die erfolgreichen Kandidaten später nicht erst im Studium über Brückenkurse in Mathematik oder Naturwissenschaften mühsam an die Grundlagenfächer herangeführt werden müssen. Durch den Test sei die Abbrecherquote, die bei Medizin ohnehin unter zehn Prozent liegt, noch mal gesunken.
Hamburg setzt aber, wie Münster, noch auf eine zweite Teststufe: Schauspielsituationen, um die sozialen und kommunikativen Fähigkeiten zu überprüfen. Inzwischen ist für Zahnmediziner noch ein HAM-MRT dazugekommen, der das räumliche Sehen prüft, und ein Drahtbiegetest, um manuelle Fähigkeiten nachzuweisen.
Der Marburger Bund unterstützt solche Wege, "es wäre gut, wenn man auch andere Auswahlverfahren als den TMS berücksichtigen würde", sagt der stellvertretende Vorsitzende der Standesorganisation, Andreas Botzlar. Der TMS sei sicherlich geeignet, Bewerber zu erkennen, die das Studium erfolgreich schafften. Um die besten Kandidaten zu bekommen, müsse man aber auch die soziale Kompetenz erfassen. Da hilft dann der Würfel des Grauens auch nicht weiter.