Medizin Schädliche Ersatzteile
Im Wartezimmer seines Arztes begegnete Herbert Förster, 62, kürzlich seiner eigenen Krankheitsgeschichte. "Hohe Chrom- und Kobaltbelastungen durch eine Hüftgelenksprothese" stand auf dem Plakat, das sein Internist aufgehängt hatte. Darauf waren Röntgenaufnahmen von Försters gebrochener Prothese zu sehen.
Der Arzt hatte das Poster für einen Kongress von Arbeitsmedizinern angefertigt. Försters Fall war dort ausgiebig diskutiert worden. Und auch die Ursache für seine Leidensgeschichte: eine schadhafte Prothese des Herstellers DePuy. Abgeriebene Stoffe aus dem Innern des künstlichen Gelenks gelangten in Försters Körper und sollen ihn mit zum Teil krebserregenden Metallen vergiftet haben.
Wenn das Landgericht Saarbrücken die Anklage zulässt, wird sich erstmals in Deutschland der Geschäftsführer einer Vertriebsfirma für Medizinprodukte vor Gericht verantworten müssen. Die Staatsanwaltschaft wirft Volker C., bis vor anderthalb Jahren Geschäftsführer der DePuy Orthopädie GmbH, das "Inverkehrbringen gesundheitsgefährdender Medizinprodukte" vor; er habe bis 2010 Hüftprothesen in Deutschland vertrieben, obwohl deren Mängel längst bekannt gewesen seien, und die Gesundheit einer großen Zahl von Menschen gefährdet.
C.s Anwalt weist die Vorwürfe in einem 60-seitigen Schreiben zurück. DePuy betont, die Firma sei "davon überzeugt, verantwortungsvoll gehandelt zu haben".
In Australien hatte der Hersteller DePuy den Verkauf der Prothese schon 2009 gestoppt. In Deutschland soll laut Anklageschrift das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte die Vertriebsfirma bereits 2008 aufgefordert haben, die Kliniken, die sie belieferte, auf Probleme mit dem Kunstgelenk hinzuweisen. Das tat sie aber erst zwei Jahre später. In der Zwischenzeit pflanzten Ärzte noch einige Hundert Implantate ein.
Im August 2010 rief der Hersteller das Produkt wegen Beschwerden aus Großbritannien weltweit zurück. DePuy behauptet, alle zur Verfügung stehenden Daten hätten bis dahin ergeben, dass das eigene Produkt so gut abschneide wie andere Vollmetallprothesen.
Jährlich setzen Mediziner in Deutschland rund 400 000 Gelenkprothesen in Hüften und Knien ein. Viele stellen sich im Nachhinein als schadhaft heraus. Die rechtliche Stellung der Opfer ist jedoch schlecht. Hersteller und Vertriebsfirmen hatten bislang kaum strafrechtliche Folgen zu befürchten.
Der Berliner Jurist Jörg Heynemann hat viele Zivilklagen gegen Hersteller von Medizinprodukten geführt. Auf Strafanzeigen verzichtet er meist, sie seien aussichtslos und brächten seinen Mandanten nichts, sagt er. Im Fall des DePuy-Gelenks reagierte er anders. Heynemann sagt, er habe herausgefunden, dass dem Hersteller frühzeitig zahlreiche Beschwerden über das Produkt bekannt gewesen seien: "Trotzdem hat die Firma die Prothesen aus wirtschaftlichem Interesse weiter verkauft."
Der Anwalt vertritt rund 600 der mehr als 5500 betroffenen Patienten in Deutschland. Er erstattete Anzeige gegen den deutschen DePuy-Vertreiber im Saarland und forderte Schadensersatz und Schmerzensgeld am Sitz der Herstellerfirma im englischen Leeds.
Krankenkassen erhielten von DePuy zwischen 5000 und 10 000 Euro für jede Nachoperation, die nötig wurde, bei komplizierten Eingriffen auch deutlich mehr. Für seine Mandanten holte Heynemann außergerichtlich meist rund 20 000 Euro Schadensersatz und Schmerzensgeld heraus. Einem Patienten, der mehrere Monate lang berufsunfähig war, zahlte DePuy mehr als 150 000 Euro.
In anderen Fällen weigert sich der Hersteller jedoch bis heute, auch nur einen Cent zu bezahlen. In den USA hat DePuy in den vergangenen eineinhalb Jahren rund 2,9 Milliarden Dollar für geschätzt 9400 Betroffene bereitgestellt, im Schnitt rund 300 000 Dollar pro Patient.
Herbert Förster würde sich freuen, überhaupt Schmerzensgeld zu bekommen, "aber wichtiger als Geld ist mir, dass solche kriminellen Geschäftsleute vor Gericht stehen".
Seine Leidensgeschichte begann im Winter 2007. An einem Tag im Januar sollte der Medizintechniker eine neue Hüfte bekommen. Keine große Sache, dachte der damals 54-Jährige. Ein halbes Jahr zuvor hatte er schon auf der linken Seite ein neues Gelenk erhalten.
Seine Frau kaufte zwei Fahrräder für die Zeit nach der OP. Doch dann wurde Förster eine DePuy-Hüfte eingesetzt, obwohl mit den Ärzten abgesprochen war, dass er das Produkt bekommen solle, mit dem er auf der linken Seite gute Erfahrungen gemacht hatte. Von Anfang an knackte die neue Hüfte laut hörbar beim Gehen und verursachte Schmerzen.
Ein paar Wochen später stellte sich heraus, dass die Prothese gebrochen war. Eine weitere Operation folgte, ihm wurde erneut ein Modell von DePuy eingesetzt. Beim Verankern brach der Oberschenkelknochen: Eine weitere Nachoperation folgte. Seitdem halten Drähte, ähnlich wie Kabelbinder, den Knochen zusammen.
Laufen konnte Förster selbst unter Schmerzen kaum noch. Die neuen Fahrräder blieben ungenutzt. Er hörte und sah immer schlechter. Aus dem sportlichen, unternehmungslustigen Mann war ein Dauerpatient geworden, der mit 54 Jahren in Rente gehen musste. Im Mai 2008 wurde Blasenkrebs entdeckt. Allerdings trat die Erkrankung bei Förster relativ schnell nach dem Einsetzen der Hüfte auf. Es ist unklar, ob es einen kausalen Zusammenhang gibt.
Erst 2011 stellten Ärzte fest, dass ihr Patient unter ausgeprägten Chrom- und Kobaltbelastungen litt. Der Aachener Mediziner Thomas Kraus, ein Spezialist für Umweltgifte in Deutschland, entdeckte schließlich die Quelle dafür: die DePuy-Hüfte.
In Försters Blut fanden sich Chromwerte, die bis zu 28-mal höher waren als bei gesunden Menschen. Auch die Ergebnisse für Kobalt lagen im roten Bereich. Im August 2011 erhielt Förster die Prothese eines anderen Herstellers. Erst danach gingen die Werte in seinem Körper zurück.