Eine Meldung und ihre Geschichte Willkommenskultur
Wer anderthalb Jahre in einer Höhle gelebt hat, erwirbt damit das Recht, die Dinge ein bisschen anders zu sehen als der Rest der Menschheit. Ludwig Zaccaro hat dieses Recht erworben. Er lebte in einer Höhle auf Gran Canaria mit Aussteigern, trampte nach Indien und wohnt heute in einem kleinen Ort in Oberbayern. Zaccaro ist nach eigenem Bekunden Abenteurer und Mentaltrainer, doch die Auftragslage ist gerade schlecht. Kürzlich wurde in seiner Heimat über die Rettung von 1371 Kröten berichtet. Zaccaro muss sich seine Abenteuer meist woanders suchen.
Vor ein paar Wochen waren er und seine Frau Nina Lange weltweit in den Nachrichten, die BBC übertrug ihre Worte, "Times", "Guardian" und "Washington Post" schrieben über sie. Es war die Geschichte von zwei guten Deutschen, die ins arme Griechenland reisten, um persönlich die erste Rückzahlung der NS-Zwangsanleihe zu überbringen. 875 Euro trugen sie in einem Briefumschlag bei sich, so viel müsste jeder Bundesbürger zahlen, das hatten sich die beiden ausgerechnet. Im Ausland galten sie einigen als Helden, in Deutschland anderen als Spinner. Die wahre Geschichte geht aber ganz anders.
Sie begann an einem Abend im Februar, als Herr Zaccaro vor dem Fernseher saß. Er sah in den Nachrichten, wie Finanzminister Schäuble seinen griechischen Kollegen Varoufakis in Berlin empfing, zum ersten Mal. Zaccaro schämte sich für Schäuble, er fand ihn arrogant. Der Herr Varoufakis, sagt Zaccaro, sei immerhin Finanzminister. Er, Zaccaro, habe einen Sinn für Gerechtigkeit. Er wolle nicht immer nur zusehen, was da im Fernsehen passiere. Und so fassten er und seine Frau einen Plan.
Zaccaro bekommt eine kleine Rente, seine Frau hat einen Teilzeitjob. Ein Auto können sie sich nicht leisten. 875 Euro sind für sie viel Geld. Sie rechneten und entschieden sich, wenigstens die Pro-Kopf-Schulden einer Person zu bezahlen. Bekannte rieten ihnen ab. Jetzt nach Griechenland zu fahren sei Unsinn, die Warnungen klangen nach Krisengebiet.
Im Reiseführer fand Zaccaro die Stadt Nafplio. Das ist ein ruhiger Ort am Meer, im Süden des Landes, auf dem Peloponnes. In der Nähe hat Herkules mal an einem guten Tag die Bestie Hydra erledigt. Zaccaro und seine Frau beschlossen, nach Nafplio zu fahren. Vor ihrem Abflug stand in Oberbayern noch in der Zeitung, dass viele Anlieger ihren Schnee auf die Fahrbahn schieben würden. Das sei verboten. Man berief sich dabei auf die "Verordnung über die Reinhaltung der öffentlichen Straßen und die Sicherung der Gehbahnen im Winter".
Von ihrer Pension in Nafplio aus konnten die Gäste das Meer sehen, davor Palmen an der Fußgängerzone, Schnee war da keiner. Auf dem Weg schenkte ein junger Grieche Frau Lange eine gelbe Freesie, einfach so. Und Herrn Zaccaro schmeckten die Calamares ausgezeichnet. Der Bürgermeister von Nafplio heißt Demetrios Kostouros, er trägt sein Hemd offen, ist frisch rasiert und beruft sich selten auf eine Verordnung. Als die beiden Deutschen ankamen, umarmte er sie. Er fand ihre Idee ausgezeichnet.
Bürgermeister Kostouros sprach sehr gut Englisch, er war mal Professor an der Universität. Er rief einen Assistenten, der sein Diplom als Volkswirt in Hamburg gemacht hat und Deutschland großartig findet. Der Assistent tätigte ein paar Anrufe, und kurze Zeit später konnten Herr Zaccaro und seine Frau ihr Anliegen auf einer Pressekonferenz vortragen. Sie schrieben "Solidarity to Greece" mit Kugelschreiber auf ein Blatt Papier und stellten es vor sich hin.
Die Griechen im Ort, das wurde schnell deutlich, betrachteten den oberbayerischen Mentaltrainer mit freundlicher Neugier. Als sie hörten, dass Herr Zaccaro und seine Frau selbst nicht viel Geld haben, waren sie sehr erstaunt. Sie schickten sich an, ihren Reichtum zu teilen. Die Straßen von Nafplio sind sauber gefegt, die Häuser saniert, die Bewohner arbeiten hart.
Als der Bürgermeister gefragt wurde, was das größte Problem von Nafplio sei, musste er eine Weile überlegen. Sie haben hier viele Touristen, die Restaurants sind voll, und die Orangen blühen auf den Feldern. Irgendwann fiel dem Bürgermeister der Hafen ein, den sie noch um ein paar Zentimeter ausbaggern könnten, damit noch mehr Kreuzfahrtschiffe in Nafplio vorbeikommen können. "Wir spüren hier die Krise nicht so sehr", sagte Kostouros. Sein Assistent schlug vor, das Geld der Deutschen einer Wohltätigkeitsorganisation zu spenden.
Am Ende wird aus der Geschichte von den zwei guten Deutschen, die ins arme Griechenland reisen, die Geschichte von zwei armen Deutschen, die ins gute Griechenland geraten. Nafplio startet eine Solidaritätsaktion für Deutschland. Jeden Abend werden die Gäste zum Essen eingeladen. Der Besitzer des schönsten Hotels am Platz quartiert sie kostenlos bei sich ein. Wildfremde Menschen fahren sie im Auto umher, um ihnen die Schönheit Griechenlands zu zeigen. Immer wenn sie bezahlen wollen, winken die Griechen ab. "Das ist ein Geschenk", sagen sie. Ein Bergdorf auf Kreta ernennt sie zu Ehrenbürgern.
Nach fast drei Wochen muss das Paar zurück nach Deutschland. Der Schnee zu Hause ist geschmolzen, sie haben ein paar freundliche E-Mails im Postfach, ansonsten begegnet die Heimat den beiden hektisch und schweigend. Unter dem YouTube-Video der Pressekonferenz steht jetzt: "Ihr seid eine Schande." Ein Nachbar brummt, dass er sie zwar in den Nachrichten gesehen habe, aber anderer Meinung sei als sie, natürlich. Niemand lädt sie zum Essen ein. Niemand umarmt sie. Niemand schenkt ihnen Blumen.