Erdbeben Asche im Bagmati
Der Tod ist diesmal an einem Samstag gekommen, um 11.56 Uhr Ortszeit, mit einem urzeitlichen Schlag, der eine ganze Region zwischen dem 26. und dem 31. nördlichen Breitengrad um bis zu drei Meter nach Südwesten versetzt hat. In Nepal wankten die Berge, 8000 Meter hoch, und Schluchten verrutschten, und die Fragen, wie viele Menschen starben und wie viele verwundet sind, werden noch wochenlang nicht seriös zu beantworten sein.
Seit dem Beben läuft der bekannte, umgekehrte Countdown der Katastrophe. 4000 seien tot, hieß es zuerst, mehr als 5500 Opfer galten Mitte der Woche als gesichert, der Premierminister sprach von womöglich 10 000 Toten. Darunter, nur einer von ihnen, Rajan Sunuwar.
Seine Leiche wird am Mittwoch am Bagmati-Fluss verbrannt, wo Kinder im Wasser spielen und Affen an Tempeln klettern, ein Bestattungsplatz, wo die Seelen der Menschen von Kathmandu in eine andere Welt aufbrechen. Vier Männer mit Atemmasken treten ans Ufer, sie tragen eine Bahre, auf der, in ein rot-gelbes Tuch gehüllt, Sunuwars Leichnam ruht. Die Bestatter ziehen Handschuhe über, öffnen den Leichensack, sie legen dem Toten Sandelholzpaste auf Augen, Ohren, Nase, wie es der Brauch gebietet. Dann schichten sie Holzscheite für ihn auf.
Sunuwars Familie sitzt abseits und erzählt von einem viel zu frühen Tod. Der Sohn, der Bruder sollte am Montag nach Japan fliegen und seinen Dienst als Steward auf einem Kreuzfahrtschiff antreten. Am Samstag hatte ihn ein Freund zum Abschiedsessen eingeladen. Beide saßen am Tisch, als das Beben einsetzte. Beide wurden erschlagen in den Trümmern des einstürzenden Hauses.
Noch in der Nacht zum Sonntag wurden ihre Leichen geborgen, doch Sunuwars Schwestern wollten nicht Abschied nehmen, ehe der Bruder, ein Soldat, aus London angereist war. Nun ist er da, und nach einer Stunde der Vorbereitungen und der Gebete entzündet er einen Span, den er zum Mund seines toten Bruders führt, um dort ein Knäuel von Baumwollfäden zu entzünden. Dichter Rauch steigt auf, das Feuer lodert und brennt rasch herunter, ein Häufchen Asche bleibt, das die Tempelwächter in den Bagmati-Fluss kehren. Rajan Sunuwar war 27, als er starb.
Der Tod ist die finale Zumutung des Lebens, ist ständige Möglichkeit, aber er wirkt besonders stumpf und sinnlos, wenn die Natur ihn bringt. Ein Beben, ein Erdrutsch, eine Lawine, sie sind kalte Fakten ohne Begründung, ohne Schuld und Verantwortung, wahllos trifft es die Opfer, wahllos bleiben andere verschont.
Kathmandu, Nepals bunte Kapitale, ist vom Beben getroffen, doch es ist keine zerstörte Stadt, die Bilder der routinierten Krisenfotografen und Fernsehstationen überzeichnen die Lage. Viele alte Häuser im Zentrum, mehrere Tempel und Palastgebäude sind eingestürzt, vereinzelt auch Wohn- und Bürohäuser entlang der 27 Kilometer langen Ringstraße, vor denen jetzt Hunderte im Freien kampieren.
Sie hatten, im Unglück, das Glück, dass der starke Erdstoß von 7,8 auf der Richterskala nicht flächendeckend Schäden anrichtete wie im türkischen İzmit 1999 oder im iranischen Bam 2003.
Katastrophen lassen sich vergleichen, aber nicht relativieren, im Größer oder Kleiner, Stärker oder Schwächer liegt kein Trost. Nicht für den Taxifahrer Kafle, der zur Stunde des Bebens mit seinem Vater und der sieben Monate alten Tochter Rasmi beim Mittagessen saß in einem sechsstöckigen Haus. Er riss die Tochter an sich, stürmte mit ihr nach unten, hinaus, schaffte es aber nur bis in den ersten Stock, dann brach das Haus über ihm zusammen. Die Trümmer zwängten ihn mit dem Kind in einen kleinen Hohlraum, in dem er gebückt ausharren konnte, im Finstern, in wenig Luft, dick von Staub und Schutt.
Das Baby schrie, zuerst laut, dann irgendwann nicht mehr, sein Vater glaubte, es sei erschöpft eingeschlafen. Dann hörte er Geräusche, sie kamen von Minute zu Minute näher, und Kafle, der lebendig Begrabene, brüllte: "Ich bin hier! Wir sind hier! Helft mir!" Mit den Rettern kam Kafles Frau Rasila, sie brüllte zurück, und nach ein paar Stunden war Kafle gerettet, ein Bein war gebrochen, sein Hals stocksteif. Erst im Moment der Rettung, die er als Wiedergeburt erlebte, begriff er, vernichtet: Das Kind in seinen Armen war tot.
Es sind Geschichten wie diese, unerträglich, die Katastrophengebiete mit Spannung aufladen, mit kollektivem Gefühlsstau, der ein Ventil braucht. Deshalb begann auch in Nepal schnell die Suche nach Schuld und Verantwortung, obwohl im Geburtsort des Buddhas eine unvorhersehbare Naturkatastrophe verhandelt wird.
Es geht darum, ob Rettungsarbeiten nicht viel besser organisiert sein müssten. Darum, dass viele alte Häuser und Tempel in Kathmandu sträflich unsaniert bleiben. Darum, dass es dem Land an vielem fehlt, aber gerade jetzt an Ärzten, Krankenhäusern, Betten, Zelten, Baggern, Wasser, Strom. Und es geht um einen Missstand, den kaum ein Nepalese bezweifelt: dass sich korrupte Beamte das Geld der Hilfsorganisationen in die eigenen Taschen stopfen.
Nahe dem Ratna-Park von Kathmandu, dem mit Notzelten überfüllten Paradefeld der nepalesischen Armee, ragt das nationale Trauma-Zentrum in den Himmel, ein neues Krankenhaus, das Premierminister Sushil Koirala und Indiens Premier Narendra Modi Ende November erst eröffnet haben.
Mitte dieser Woche drängten sich Verletzte um den Eingang, als sich ein Konvoi schwarzer Limousinen langsam die Rampe heraufschob. Ein Mann in dunklem Anzug und mit einer schwarzen Kappe entstieg einem gepanzerten Mercedes: Nepals Premierminister, Koirala.
Keiner schien mit seinem Besuch hier gerechnet zu haben, die Leibwächter schoben Verletzte und Pfleger grob zur Seite. Koiralas Tross bewegte sich unter Porphyrsäulen in die Eingangshalle hinein. Der Regierungschef stellte sich kurz an ein paar Notbetten, die in der Lobby aufgestellt waren, er gab den volksnahen Politiker, es ging um Bilder. Kamerateams des Fernsehens beleuchteten grell die Szene.
"Was treibst du dich hier herum?", zischte es auf einmal laut aus den Reihen der Verletzten, sie konnten Koirala im Pulk der Sicherheitsleute und örtlichen TV-Journalisten kaum sehen. "Warum rennst du hier herum?", wurde gerufen, noch lauter. "Wir haben kein Dach mehr über dem Kopf, wir haben nicht einmal Zelte!" Der Auftritt des Premiers dauerte keine zehn Minuten, eilig drängten ihn seine Leute wieder zur Tür der Klinik hinaus. Sirenen heulten, die Autos rauschten davon. Zurück blieb ein Volk, das wenig auf seine Regierung gibt, das ihr wenig zutraut, aus jahrzehntelanger Erfahrung mit den Oberen Nepals, egal, ob Könige oder Minister.
Das Land war schon vor dem Beben in sehr schlechtem Zustand, nicht nur eines der ärmsten Länder der Welt, sondern vor allem ein schlecht regiertes. Ein Gebilde, das sich "Demokratische Bundesrepublik Nepal" nennt und in rund hundert ethnische Gruppen, 50 Sprachen zerfließt, im Parlament sitzen mehrere unterschiedliche kommunistische Parteien. Bis 2008 war das Land ein Hindu-Königreich und wäre es vielleicht noch heute, wenn sich der Kronprinz nicht 2001 mit einem Großteil der Königsfamilie massakriert hätte.
Vom Königsmord und vor allem vom zehnjährigen Bürgerkrieg der Maoisten hat sich Nepal nicht erholt. Schon vor dem Beben waren rund 200 internationale Hilfsorganisationen in Kathmandu registriert. Und wie in Ramallah, Port-au-Prince oder Sarajevo ist die Wohltätigkeit der Welt ein wichtiger Einkommenszweig für die örtliche Elite.
Etwa 26 Prozent des nepalesischen Budgets sind Hilfsgelder aus dem Ausland. Ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts wird von den etwa sechs Millionen Auslandsnepalesen erbracht, die in den Golfstaaten als Sicherheitsmänner, Bauarbeiter, Hauspersonal arbeiten. Menschen sind ein wichtiges Exportgut Nepals, auch die ungeborenen. Leihmütter aus Nepal sind beliebt, Israel ist ein großer Markt, noch an diesem Dienstag wurden 15 Säuglinge nach Israel ausgeflogen.
Während sich in Kathmandu ein Internetcafé ans andere reiht, können 45 Prozent der Bewohner des Landes nicht lesen oder schreiben. Ganze Landesteile sind nur mit dem Yak oder Hubschrauber zu erreichen, die Camps der Bergsteiger zumal, um deren bevorzugte Rettung aus der dem Beben folgenden Bergnot gestritten wurde. Im Basislager am Mount Everest, auf einer Gletschermoräne in 5300 Meter Höhe, bereiteten sich etwa tausend Bergsteiger für die Besteigung vor.
Am Tag des Bebens hatten sich schon den ganzen Vormittag lang Lawinen vom Mount Everest gelöst. Als der Erdstoß kam, nahm der Deutsche Jost Kobusch ein Video auf, das um die Welt ging. "The ground is shaking", ruft er erst und lacht, aber als er begreift, dass er kein harmloses Naturschauspiel filmt, sondern eine Katastrophe, ruft er mehrmals: "Fuck", der Schnee kommt wie eine dicke Welle und rauscht über das Camp hinweg. 18 Bergsteiger sterben, über fünf Dutzend werden teils schwer verletzt. Kobusch kommt nicht zu Schaden, er schreibt seinen Eltern zu Hause bald, per SMS: "alles gut". Aber für Nepal gilt das bis auf Weiteres nicht.
Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass über 8 Millionen Menschen betroffen sind, und das Wetter ist feuchtkalt. Womöglich 3,5 Millionen Menschen haben nicht genug zu essen, unzureichend Wasser, kaum Arzneien. Die Uno hat einen Hilfsappell über 415 Millionen Dollar lanciert, das ist sehr viel Geld. Die Menschen dort hoffen jetzt, viele wider besseres Wissen, dass das Geld auch wirklich bei ihnen ankommt.