Medizin Eine Pille gegen Suff
Martin S. war 16, als er anfing, regelmäßig Alkohol zu trinken. Nach dem frühen Tod seiner Mutter lebte er beim Vater in Deutschland - die Wochenenden jedoch verbrachte er meist zusammen mit seinen alten Kumpel in Polen. "Wir sind in die Disco gegangen", erzählt er, "und wir haben getrunken."
Als S. einige Jahre später anfing, als Unternehmer auf dem Bau zu arbeiten, trank er weiter. "Am Anfang habe ich mich einfach nach einem stressigen Tag abends mit zwei bis drei Bierchen beruhigt", erzählt er, "aber später wurde es schlimmer."
Als seine Ehe in die Brüche ging und er um seine Tochter kämpfen musste, verlor er endgültig die Kontrolle. S. ging freiwillig zum Entzug in die Berliner Charité. Dort fragten ihn die Ärzte, ob er an einer Studie teilnehmen wolle: Es sollte untersucht werden, ob das Medikament Baclofen Alkoholabhängigen helfen kann, trocken zu bleiben.
Die Studie dauerte mehrere Monate; währenddessen testeten die Forscher ihre Probanden regelmäßig auf Alkohol. "Bei mir kam immer das Ergebnis null heraus, weil ich nie getrunken hatte", berichtet S. Er sei ruhiger geworden durch das Mittel, und "das Verlangen war nicht so da".
Am Ende der Studie wurde das Medikament wieder abgesetzt. Zunächst ging alles gut. Doch dann wurde S. wieder rückfällig. Trotzdem gilt sein Fall den Charité-Forschern als Erfolg. "Er scheint von diesem Medikament profitiert zu haben", sagt Christian Müller, Oberarzt an der dortigen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Erstautor der Baclofen-Studie. S. hat sich vorgenommen, es bald noch einmal zu versuchen, und will das Mittel dann wieder einnehmen.
Schon lange suchen Ärzte nach einer Pille, die den rund 1,8 Millionen Alkoholabhängigen in Deutschland helfen könnte. Normalerweise müssen es die Betroffenen nach dem körperlichen Entzug ohne Medikamente schaffen; hilfreich ist eine spezielle Reha und der Besuch einer Selbsthilfegruppe. Doch nur ein Bruchteil der Alkoholkranken wird Schätzungen zufolge überhaupt therapiert. Und von den Süchtigen, die nur einen Entzug machen, erleiden mindestens drei Viertel einen Rückfall.
Baclofen ist jetzt der neue Hoffnungsträger. Eigentlich wird es zur Muskelentspannung verordnet, etwa, wenn ein Patient nach einer Rückenmarkverletzung an einer Spastik leidet. Wahrscheinlich jedoch wirkt das Mittel auch im Belohnungssystem des Gehirns.
Gegen dieses Zentrum, das so existenzielle Dinge wie Sexualtrieb und Appetit beeinflusst, kommt der Wille nur schwer an. Und bei einem Alkoholkranken, erklärt Oberarzt Müller, könne schon der Anblick einer Kneipentür die Aktivität in dieser Hirnregion erheblich steigern und den Wunsch nach Alkohol übermächtig werden lassen. Baclofen, so vermuten die Forscher, fährt das Belohnungssystem herunter und macht es damit womöglich den Betroffenen leichter, ihr Verhalten zu kontrollieren.
Einen eindeutigen Beleg für die Wirkmacht des Baclofens gegen den Suff blieb die Wissenschaft allerdings bislang schuldig. Die Charité-Untersuchung, an der Martin S. teilnahm, war jedoch die erste Studie, in der Baclofen in sehr hoher Dosierung mit einem Scheinmedikament verglichen wurde. Und das Ergebnis fiel klar positiv aus: Während der zwölf Wochen, in denen das Mittel verabreicht wurde, blieben von den 22 Patienten in der Baclofen-Gruppe 15 abstinent; von 21 Patienten, die ein Scheinmedikament erhielten, jedoch nur 5.
Zwar handelt es sich bei dieser Untersuchung nur um eine Pilotstudie. Doch derzeit werten französische Wissenschaftler zwei große Studien mit jeweils mehr als 300 Teilnehmern aus - sollten die ähnlich positiv ausfallen, wird dies die Diskussion um Baclofen in Deutschland anheizen. Die französische Pharmafirma Ethypharm, die eine der beiden Untersuchungen durchführt, strebt langfristig sogar eine europaweite Zulassung für das Baclofen-Präparat Xylka an.
In Frankreich machte vor einigen Jahren ein Bestseller - der Erfahrungsbericht des Arztes Olivier Ameisen - das Mittel populär. Dort wird Baclofen mithilfe einer Sonderzulassung bereits von vielen Medizinern verordnet. Sogar Patienten, die den Alkohol noch gar nicht komplett aufgegeben haben, schlucken die Pille, um weniger zu trinken. "Abstinenz ist für mich nicht das Ziel, sondern eine Folge der Behandlung mit Baclofen", sagt der Pariser Professor Philippe Jaury, der eine der beiden französischen Studien leitet. Baclofen, so glauben manche Experten, könne fast wie eine Ersatzdroge wirken - ähnlich wie Methadon bei Heroinabhängigen.
In Deutschland hingegen ist die Gabe an Noch-Trinker für die meisten ein Tabu. Und nur wenige Ärzte verschreiben den Muskelentspanner "off-label", in diesem Fall also gegen die Sucht.
Die meisten Alkoholiker, die es geschafft haben, seit vielen Jahren trocken zu bleiben, stehen Baclofen skeptisch gegenüber. "Ich bin jetzt 71 und seit 33 Jahren trocken", sagt Helmut von den Anonymen Alkoholikern in Berlin. "In all diesen Jahren wurden, was Medikamente angeht, schon so viele Säue durchs Dorf getrieben - und nichts hat am Ende wirklich geholfen." Ein Alkoholiker müsse ein Leben lang abstinent bleiben, 30, 40, 50 Jahre lang. Mithilfe von Selbsthilfegruppen könne dies gelingen. "Aber welche Daten gibt es, die belegen, dass Baclofen auch so langfristig hilft?", fragt er. "Keine!"