Theater Mephisto, ratlos
Hell und groß und hübsch aufgeräumt ist das Intendantenzimmer, in dem der mächtigste Theatermann Ungarns seine Arbeit versieht, und es heißt, dass ein Boxsack in seinem Büro dazu diene, seine Wut herauszulassen, für die er so bekannt ist. Tatsächlich aber ist von einem Boxsack im Intendantenzimmer weit und breit nichts zu sehen.
Attila Vidnyánszky, ein schwerer Mann, seufzt beim Reden viel. Seit fast zwei Jahren leitet er das Nationaltheater in Budapest. Weit mehr als hundert Inszenierungen hat er als Regisseur in diversen Theatern abgeliefert. In Moskau haben sie ihm einen Preis verliehen für seine Theatersprache.
Nun führt er das Budapester Nationaltheater, weil er ein Freund und loyaler Gefolgsmann des rechtspopulistischen ungarischen Staatschefs Viktor Orbán ist. Der regiert mit seiner Fidesz-Partei und einer Zweidrittelmehrheit und baut die Medien und die Kultur radikal um. Politiker und Berichterstatter aus vielen Ländern Europas sind empört, sogar Angela Merkel hat das neue Pressegesetz, das den Spielraum für Kritik an den Mächtigen einschränkt, kritisiert. Proteste aus dem Ausland gab es auch wegen der Besetzung wichtiger Kulturposten mit Orbán-Getreuen.
"Ich bin mit einer Menge Hass und Beleidigungen konfrontiert", sagt der Theaterchef. Seinen Posten hat er von Róbert Alföldi übernommen, einem Linksliberalen, der keinen Hehl daraus machte, dass er schwul ist. Auf die Frage, was er im Theater nun anders mache als Alföldi, sagt Vidnyánszky: "Alles."
Dass er für "christliche Werte" eintrete, verkündet der Theaterchef, Vater von sechs Kindern, als betete er einen Rosenkranz. Viele bekannte Regisseure wie Tamás Ascher wollen nicht an seinem Haus arbeiten. Dabei behauptet der Chef: "Ich möchte mein Theater öffnen. Jahrzehntelang war die ungarische Theaterwelt international abgekoppelt, da haben wir viel nachzuholen. Deshalb lade ich auch viele ausländische Regisseure unterschiedlicher Weltanschauung in mein Theater ein."
Nicht alle folgten der Einladung. "Es gab einen Boykott, den ich nicht verstehe", sagt Vidnyánszky. Nicht lange nach seinem Amtsantritt hat das Wiener Burgtheater eine Gastspielreise nach Budapest abgesagt, aus Protest gegen die Kulturpolitik der Regierung Orbán. Vor einem Festivalauftritt in Straßburg wurde Vidnyánszky zur "unerwünschten Person" erklärt und blieb mit seinem Ensemble zu Hause. Er war besonders erbost, weil er dort einen Workshop mit französischen Jugendlichen zu Ende bringen wollte, die er zusammen mit Kollegen bereits während eines Besuchs in Ungarn unterrichtet hatte. "Meine Vorstellungen hätten sie gespielt, aber es wurde mir mitgeteilt, dass die Zusammenarbeit mit Studenten unerwünscht sei. Eine empörende Entscheidung." Dies habe ihn darin bestärkt, in seinem Haus ein eigenes Festival auszurichten, es heißt MITEM ("Madách International Theatre Meeting") und lief in diesem Jahr zum zweiten Mal.
Theaterleute aus Moskau, Mailand und Lausanne traten bei diesem Festival auf. Und zu Vidnyánszkys Freude waren auch Künstler aus dem Wiener Burgtheater und aus dem Hamburger Thalia Theater angereist. Die Wiener zeigten ihre Version von Anton Tschechows "Die Möwe", die Hamburger die Romanadaption "Die Brüder Karamasow" nach Fjodor Dostojewski.
"Die Burgtheater-Intendantin Karin Bergmann und ich haben natürlich diskutiert, ob wir nach Budapest fahren sollen", sagt Joachim Lux, Chef des Thalia Theaters. "Wir wollen uns nicht politisch vereinnahmen lassen. Deshalb waren wir uns einig, dass die Reise zum Festival nur unter bestimmten Bedingungen stattfinden kann."
Tatsächlich gab es exakt eine Bedingung: Bergmann und Lux sagten nur für den Fall zu, dass Vidnyánszky sich zu einer Diskussion über seine Arbeit bereit erklärt, ausgerichtet im Budapester Goethe-Institut. "Warum soll ich nicht reden wollen?", fragt Vidnyánszky in seinem Intendantenzimmer. "Wir haben verschiedene Meinungen, also müssen wir argumentieren, ringen und kämpfen." Es gebe seit 150 Jahren einen Graben im ungarischen Kulturleben zwischen Kosmopoliten und Nationalisten - wobei diese Begriffe ohne historische Kenntnisse in Deutschland leicht und oft missverstanden würden - , "eigentlich ist es eine Schlucht". Das ganze Land sei gespalten über der Frage, ob es im globalisierten Europa noch eine Berechtigung geben kann für nationale Kulturen. "Die einen wollen Ungarns Kultur mit Schweiß und Blut verteidigen, die anderen können sich gut ein Europa ohne nationale Eigenheiten vorstellen. Das Problem ist, wenn zum Beispiel meine Argumentation ausgegrenzt wird. Solange wir darüber nur streiten, ist alles in Ordnung."
Seit Orbán regiert, ist der Streit eskaliert. Es gab wiederholt antisemitische Äußerungen von Fidesz-Politikern; es gab den Versuch, die 85-jährige Ágnes Heller, Ungarns bekannteste Philosophin, wegen angeblicher Veruntreuung von EU-Fördergeldern vor Gericht zu zerren; es gab die Drohung des Orbán-treuen Chefs der Kunstakademie, er werde alle, "die nicht für uns sind", aus dem Haus werfen. "Übertreibungen", sagt Vidnyánszky, "Sie müssen das aus historischer Perspektive verstehen." Es ist einer seiner Lieblingssätze. "Alles aus deutscher Perspektive zu sehen ist irreführend, die Geste des Verstehenwollens sehe ich nicht."
Die Diskussion unter dem Titel "Nationaltheater in Europa heute" ist einen Tag vor Beginn des Festivals angesetzt. Die Luft im Saal ist stickig, Bergmann und Lux sind da, auch Vidnyánszky, der schon schnauft und seufzt, bevor es losgeht. Aber sämtliche Theatermacher aus der linken Szene haben eine Teilnahme abgelehnt. So muss der Kulturwissenschaftler Zoltán Imre den Ankläger spielen. Er redet vor allem von Geld. Durch Streichung und Umleitung habe man regierungskritischen Theatermachern das Wasser abgegraben.
Vidnyánszky sagt: "Sie müssen das aus historischer Perspektive verstehen. 50 Jahre lang bestand Ungarns Kulturpolitik darin, dass man die gleichen Kreise von Künstlern und die gleiche Kunstrichtung subventioniert hat. Jetzt gab es viele Änderungen. Das hat die Interessen sehr vieler Menschen verletzt." Gemessen am Bevölkerungsanteil sei die Provinz im Vergleich zur Hauptstadt zuvor kulturell unterversorgt gewesen. Das habe man mit dem neuen Finanzierungssystem korrigiert.
Vidnyánszkys Vorgänger Róbert Alföldi hat zu seinem Abschied einen vergifteten Gruß gesandt. Er inszenierte Klaus Manns "Mephisto"-Roman fürs Nationaltheater, die Story schildert die Verführbarkeit des Künstlers durch die Nähe zur politischen Macht. Mann hat über seinen Helden gesagt, er stelle "der ruchlosen Macht ein großes Talent zur Verfügung" und lasse sich "für etwas missbrauchen, was fast Genie sein könnte, wenn es nur moralisch von einer reineren Substanz wäre".
Zwei Stunden lang dauert der Kampf zwischen den Theaterleuten, und als behauptet wird, Minderheiten würden diskriminiert, ruft Vidnyánszky: "Sie haben falsche Informationen." Er lasse in seinem Theater unter anderem eine Roma-Theatergruppe spielen und erinnere an die Ermordung von Sinti und Roma in Hitlers Vernichtungslagern, das Theater der serbischen Minderheit wie auch der größte Verein der Behinderten hätten im Nationaltheater gefeiert.
Irgendwann spricht Vidnyánszky von seinem ersten Ausflug in den Westen. "Ich habe ein leidenschaftliches Verhältnis zu Europa", sagt er. "Die ersten 25 Jahre meines Lebens habe ich in der Sowjetunion als Mitglied der ungarischen Minderheit in der Ukraine gelebt, hinter dem Eisernen Vorhang. Als er fiel, bin ich sofort hinübergefahren in dieses Europa, bis nach Portugal. Eine großartige Reise. Als Ungarn dann Mitglied der Europäischen Union wurde, haben alle in meiner Familie Freudentränen geweint."
Karin Bergmann, die erste Frau auf dem Intendanten-Thron des Burgtheaters, sieht drein, als wäre ihr Vidnyánszkys dampfender Furor unheimlich. Sie sagt: "In einem offenen Europa sollten die Regeln einer Republik der Künstler gelten." Vidnyánszky behauptet: "Es schmerzt mich sehr, dass man mich in Frankreich und Deutschland als homophob, faschistisch und als einen Feind Europas darstellt und mir nicht die Möglichkeit gibt, diese Lügen zu korrigieren."
Er habe Briefe geschrieben an diverse französische und deutsche Zeitungen und an das Berliner Fachmagazin "Theater heute". Überall habe man unter freundlich formulierten Vorwänden die Veröffentlichung seiner Schreiben abgelehnt. In "Le Monde" habe der französische Schriftsteller Valère Novarina für Attila Vidnyánszky Stellung beziehen wollen und eine Absage bekommen. "Ich darf meinen Standpunkt nicht erklären", ächzt Vidnyánszky. "Was, bitte, hat das mit Meinungsfreiheit zu tun?"
Es sei eine kolossale Übertreibung, wenn von einer "Kahlschlagpolitik" in Ungarns Kultur und Medien die Rede sei oder gar der bevorstehende Untergang der ungarischen Demokratie beschworen werde.
Könnte es sein, dass er damit ein wenig recht hat? Der deutsche Theaterchef Joachim Lux sagt, nach dem bejubelten Auftritt seiner "Karamasow"-Crew: "Es war richtig, nach Budapest zu fahren. Ich glaube, dass ich dort etwas begriffen habe. Die Angst mancher Ungarn vor der angeblichen moralischen Dekadenz Europas ist nicht so einzigartig, wie viele in Deutschland zu denken scheinen." Die Parolen des Orbán-Lagers könne man so ähnlich auch von rechten Parteien in Frankreich, Österreich, den Niederlanden oder Griechenland hören. "Allerorten Globalisierungsangst. Und dafür stehen Europa und seine Hegemonialmacht Deutschland", sagt Lux. "Man reibt sich die Augen und muss es doch ernst nehmen."
Ein paar Tage später spielt das Burgtheater Tschechows "Möwe" im Nationaltheater. Nach der Vorstellung tritt das Ensemble vor den Vorhang, der Schauspieler Martin Reinke liest einen offenbar spontan entstandenen Text auf Deutsch und Englisch vor, er hat zwei zerknüllte Zettel in der Hand, eine politische Protestaktion. Reinke sagt, die "wunderbare ungarische Kulturnation" befinde sich in einer "prekären Lage", das Land entferne sich "vom Geist der Demokratie und von Europa".
Vidnyánszky ist auf die Protestrede offensichtlich vorbereitet. Auf einem Monitor neben der Bühne erscheinen 13 Namen. Es sind die Namen der Generäle, die 1849 als ungarische Patrioten hingerichtet wurden, auf Befehl der österreichischen Herrscher aus dem Hause Habsburg. Herr Vidnyánszky rückt die Dinge mal wieder in eine historische Perspektive.
Während der kurzen Rede des Schauspielers Reinke steht Vidnyánszky am Bühnenrand. Der Intendant hält eine Urkunde und eine Dankestrophäe für die Burgtheater-Gäste in den Händen. Als Reinke seine Sätze aufgesagt hat, tritt Vidnyánszky auf ihn zu. Einen Moment lang sieht es so aus, als könnte der Hausherr den Gast jetzt mit einem gezielten Schlag niederstrecken.
Doch Vidnyánszky reicht Reinke bloß die Hand, ohne ihn anzusehen, und übergibt Trophäe und Urkunde. Dann geht er ab. Mit einem sanften Kopfschütteln.