Albanien Den Hahn zudrehen
Die Bürger von Brindisi möchten nicht hinhören, aber sie müssen. Die Sirenen der Ambulanzen, die durch die nächtlichen Straßen jagen, schärfen ihnen den Sinn für das Elend vor der Haustür: Was, wenn die Unglücklichen am Hafen ausbrechen?
Nach drei Tagen auf unruhiger See, ohne Nahrung, ohne Wasser, torkelten vergangene Woche in Brindisi täglich Tausende erschöpfter Gestalten an Land, halb erfroren im eisigen Wind. Verrottete Lastschiffe, armselige Kutter, brüchige Barkassen, zum Sinken überfüllt, tragen die albanischen Flüchtlinge über die 75 Kilometer breite Straße von Otranto an die Küste Apuliens und kippen sie aus wie Müll, den niemand haben will.
An die 25 000 Albaner überschwemmten allein in der vorigen Woche die italienischen Küstenstädte Bari, Monopoli, Brindisi und Otranto. Über 30 000 Fluchtwillige warteten am Freitag noch in albanischen Häfen.
"Albanien könnte für Italien die gleiche schicksalhafte Rolle spielen wie das östliche Deutschland für die Bundesrepublik im Jahr 1989", ängstigte sich schon die Turiner Stampa.
Der abgesperrte Hafenbereich von Brindisi gleicht immer mehr einem Konzentrationslager, in dem kaum noch Stehplätze zu finden sind. Um jede der kümmerlichen Lieferungen von Essen und Getränken, die das Rote Kreuz heranschafft, brechen blutige Raufereien aus. Gestank von Urin, Fäkalien und Schweiß liegt über dem Gelände. Zwei Hundertschaften von übernächtigten Polizisten und Zöllnern versuchen, die unruhige Menge zu bändigen.
Auf der Mole haben sich Albaner versammelt, denen schon in den vergangenen zwei Monaten die Flucht gelang. Sie werfen ihren ausgehungerten Landsleuten Lebensmittel zu. Die Solidarität von Italienern bleibt dagegen aus.
Der Bürgermeister von Brindisi ließ sich nicht blicken. Parteien und Gewerkschaften schweigen. Auch kirchlicher Einsatz ist nicht zu erkennen. "Die müssen weg hier, wir werden sie wieder einschiffen und zurückschicken", erklärt der Polizeipräfekt Antonio Barell. Fragt sich nur wie.
Die apulischen Küstenstädte, über die jetzt die Flut der Albaner hereinbricht, sind mit dem Zustrom der Asylsuchenden rettungslos überfordert. Seit Mitte Januar, als in kleinen Gruppen von 30 bis 100 Menschen der Exodus aus Albanien begann, haben sie die Flüchtlinge aufgenommen und untergebracht, in einem Militärlager, in Schulen, sogar in Hotels.
Das staatliche Fernsehen Albaniens berichtete breit über die Gastfreundschaft - in der erkennbaren Absicht, noch mehr Abwanderer zur Flucht zu ermuntern, um Druck auf Rom zu machen. Denn Italien hatte dem letzten stalinistischen Staat Europas massive wirtschaftliche Hilfe versprochen, aber bisher nicht gezahlt: Rom traut dem Regime von Präsident Ramiz Alia nicht und wollte erst die Wahlen vom 31. März abwarten. Daraufhin öffnete Albanien die Schleusen; die Polizei in der Küstenstadt Durres, von wo die meisten aufbrechen, tat nichts, um die Flüchtlinge aufzuhalten.
Der Massenexodus aus dem 47 Jahre lang total abgeschotteten Land hat vor allem wirtschaftliche Gründe: Insbesondere junge Albaner im Alter zwischen 20 und 30 Jahren sehen in ihrer Heimat keine berufliche Perspektive und kaum eine Chance, ihre Familien zu ernähren.
Ramiz Alia, 65, seit dem Tod des Diktators Enver Hodscha an der Spitze von Partei und Staat, hat vergeblich versucht, den "Hinterhof Europas" (Briten-Premier Winston Churchill nach dem Zweiten Weltkrieg über Albanien) zu modernisieren. Die Produktion ging in den letzten Jahren um fast 40 Prozent zurück, die spärlichen Devisen wurden nur mit Lebensmittel-Exporten verdient - während in Albanien alle Grundnahrungsmittel rationiert blieben.
Der Schlingerkurs des Staatschefs hat zudem das Vertrauen in seine politische Reformbereitschaft untergraben. Nach dem Motto: "Demokratisierung ja, aber über Tempo und Richtung bestimme ich" versuchte Alia, den Orthodoxen in der albanischen KP, zu denen auch der starke Militärflügel gehört, und den ungeduldigen Demokraten gleichermaßen entgegenzukommen.
Nach einem Volksaufstand im Dezember vorigen Jahres, von den Studenten der Universität in Tirana angeführt, ließ er erstmals oppositionelle Parteien zu und versprach freie Wahlen. Den Termin setzte er zunächst so früh an, daß die Opposition keine Chance gehabt hätte, sich zu organisieren.
Die Wahlen sollen jetzt am Ostersonntag stattfinden, doch die Hoffnung auf einen echten Kurswechsel ist gering. Die Opposition ist in mehr als ein Dutzend Parteien zersplittert, fast alle Kandidaten sind, so ein Dockarbeiter in Durres, "Wendekommunisten. Es sind die gleichen Leute, die gestern noch Hodscha gelobt haben und heute nach Demokratie schreien". _(* Auf dem in Durres gekaperten Schlepper ) _("Lirija" am vorigen Donnerstag. )
Die stärkste Gruppe ist die im Januar von Studenten und Intellektuellen gegründete Demokratische Partei Albaniens, die aber inzwischen gespalten ist in einen radikalen Flügel, der für mehr Druck auf die Kommunisten eintritt, und einen pragmatischen, der die Macht mit den Kommunisten teilen will. Ihre Anführer, der Wirtschaftswissenschaftler Gramoz Pashko und der Arzt Sali Berisha, stammen aus einflußreichen Funktionärsfamilien und waren bis in die siebziger Jahre in der KP aktiv.
Inzwischen haben auch die ethnischen Minderheiten, vor allem Albaner griechischer, serbischer oder montenegrinischer Abstammung, eigene Parteien gegründet. Sie setzen sich eher für das Recht auf Auswanderung als für die demokratische Zukunft Albaniens ein.
Der italienischen Regierung wäre es am liebsten, wenn Tirana wie zu alten Zeiten die Grenzen wieder dichtmachen und das Land in die selbstgewählte Isolation der vergangenen Jahrzehnte zurücksinken würde. "Wie immer in solchen Situationen muß erst der Wasserhahn geschlossen werden, dann kann aufgewischt werden", erklärte kühl der amtierende Justizminister Claudio Martelli. Und: "Der Wasserhahn muß in Tirana zugedreht werden." o