Eine Industrieregion zerbricht
Frage: Was unterscheidet den Pessimisten vom Optimisten? Antwort: Der Pessimist ist besser informiert.
Der Rahmen war prächtig, die Stimmung festlich. Miesmacher waren nicht zugelassen, beim Manager-Gipfel am vorvergangenen Wochenende im Stuttgarter Neuen Schloß.
Daimler-Benz-Chef Edzard Reuter verkündete hinterher dem deutschen Volk in Ost und West, in den neuen Ländern gehe es endlich voran: "Der Zug hat sich schon in Bewegung gesetzt." Stolz fügte Kollege Karlheinz Kaske von Siemens an, sein Konzern beschäftige im Osten bereits 20 000 Mitarbeiter. _(* Am 7. April in Erfurt, links ) _(Thüringens Ministerpräsident Josef ) _(Duchac, rechts Bürgermeister Manfred ) _(Ruge. )
Optimistisch blickte fast zur gleichen Zeit auch Kanzler Helmut Kohl in die ost- und gesamtdeutsche Zukunft. Bei seinem Kurzbesuch in Erfurt zeigte sich der Mann aus der Pfalz "absolut sicher, daß wir den wirtschaftlichen Aufschwung schaffen".
Kommt sie also bald, die Wende zum Besseren? Gibt es in Kürze das Wirtschaftswunder im Osten?
"Den Tiefpunkt", verheißt Dresdner-Bank-Chef Wolfgang Röller, "haben wir in diesem Jahr erreicht." Anfang 1992, weissagt Industrie-Präsident Heinrich Weiss, "geht die Post ab". Der Kanzler machte bei der Eröffnung der Hannover-Messe weiter Stimmung: "In drei bis fünf Jahren" werde das "Ziel" erreicht sein.
Unternehmer wie Weiss, Röller und Reuter sollten es besser wissen. Politiker wie Kohl sollten das Publikum nicht abermals irreführen: Für einen Umschwung im Osten gibt es gegenwärtig keinerlei Indizien. Wer Prognosen über den Termin eines Aufschwungs in den neuen Territorien abgibt, bewegt sich im Bereich der Wahrsagerei.
Gewiß ist bislang nur, daß der wirtschaftliche Verfall mit immer höherem Tempo voranschreitet. Was gegenwärtig im östlichen Deutschland geschieht, hat sich in Friedenszeiten noch nie ereignet: Eine komplette Industrieregion wird niedergemacht.
Ob Schiffswerften oder Textilfabriken, ob Stahlwerke oder Computer-Unternehmen - mit ihren Produkten und mit ihren Preisen sind sie alle der West-Konkurrenz hoffnungslos unterlegen. Kaum ein Unternehmen wird in seiner alten Form erhalten bleiben, die meisten sind überreif für den Konkurs.
Das Alte kracht zusammen, der Neuaufbau läßt auf sich warten. Über viele Jahre hinweg werden jährlich dreistellige Milliardenbeträge von West nach Ost fließen, der Aufwand für die Rekonstruktion der Ost-Wirtschaft wird in Billionen kalkuliert.
Bange Fragen gehen um. Bedroht die Pleite im Osten nicht auch den Wohlstand im Westen? Übernimmt sich das geeinte Land womöglich mit der Bürde im Osten? Zieht die Wirtschaftskatastrophe in der ehemaligen DDR am Ende alle mit nach unten?
Anders als von den Bonnern in ihren Reden verbreitet, dafür aber ungleich näher an der Wahrheit wird die Situation in einem internen Memorandum des Bundesfinanzministeriums, Referat VI-II b, eingeschätzt.
"Gegenwärtig zeichnet sich die Gefahr ab", lautet der erste Satz des Schriftstücks, "daß lediglich rund 20 Prozent der industriellen Arbeitsplätze im Beitrittsgebiet - das wären 700 000 von ehemals 3,4 Millionen Arbeitsplätzen - überleben."
Von einer "weitgehenden De-Industrialisierung", von einem "Mezzogiorno-Effekt" ist in dem ministerialen Vermerk die Rede.
800 000 Arbeitslose waren im März in den neuen Bundesländern amtlich registriert; dazu kommen die zwei Millionen Kurzarbeiter, von denen in Wahrheit ein Großteil gänzlich ohne Beschäftigung ist: Kurzarbeit Null. Bis Ende dieses Jahres dürften, darüber bestehen kaum noch Zweifel, drei bis vier Millionen Ostdeutsche ohne bezahlte Arbeit sein.
Gewiß, diese Arbeitslosigkeit bedeutet nicht Armut und Elend wie in der Weltwirtschaftskrise. Die Sozialgelder aus dem Westen sichern, anders als vor 60 Jahren, die Existenz. Doch in ihrer zahlenmäßigen Dimension liegen die Arbeitslosenquoten noch über denen jener Horrorjahre. Und die persönliche Perspektivlosigkeit dürfte häufig nicht geringer sein als die der Menschen in den schrecklichen Jahren zwischen 1929 und 1933.
Ein "Desaster" (Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl) ist dieser Totalzusammenbruch einer hochindustrialisierten Volkswirtschaft von 16 Millionen Menschen vor allem deswegen, weil schnelle Heilung ausgeschlossen ist. Jene Meinungsführer, die anderes verbreiten, verkennen entweder das Ausmaß der Wirtschaftskatastrophe im deutschen Osten oder reden wider besseres Wissen.
Zu den geläufigen Fehleinschätzungen mag die Krisenerfahrung im Westen beitragen. Verbreitete Arbeitslosigkeit war dort in den Nachkriegsjahrzehnten regelmäßig durch Nachfrageausfälle verursacht: Der Firma A gehen die Aufträge aus, sie läßt die Belegschaft kurzarbeiten oder kündigt einem Teil des Personals; weil die Firma A nichts mehr zu tun hat, bestellt das Unternehmen keine Vorfabrikate mehr bei B - und so fort.
Der Beschäftigungseinbruch in der Ex-DDR ist keine solche konjunkturelle Krise. Sie ist eine jener Art, die Volkswirte mit dem Beiwort strukturell versehen: Der Produktionsapparat taugt nicht mehr für das, was die Kundschaft kaufen und zahlen will.
Es gab solche Strukturkrisen zuhauf im Nachkriegskapitalismus. Sie waren stets auf einen Wirtschaftszweig oder auf einige wenige Branchen beschränkt. Das Schrumpfen des Schiffbaus (weil die asiatische Konkurrenz ungleich billiger anbot) ist so ein Fall, der Einbruch beim Steinkohlebergbau (weil bessere und preiswertere Energieträger wie Öl zu haben waren) ein anderer.
Die Strukturkrise in der ehemaligen DDR ist von ganz anderer Qualität: Sie läßt keine Nische der Industrie aus, praktisch alle Unternehmen sind am Markt ohne Chance.
Es mangelt mithin nicht an Nachfrage, wie bei einer konjunkturell bedingten Beschäftigungslosigkeit. Es mangelt an Angebot - an Maschinen und Fabriken, die moderne Produkte mit annehmbaren Kosten auswerfen. Beides läßt sich nicht in Jahresfrist bereitstellen.
Die Industrie in Ostdeutschland hatte in Wahrheit nie eine Chance. Über Nacht, vom 30. Juni auf den 1. Juli 1990, sah sie sich einer Aufwertung ausgesetzt, die mindestens 300 Prozent ausmacht; über Nacht fiel der lückenlose Schutz gegenüber der weit und uneinholbar enteilten West-Konkurrenz weg.
Eine Aufwertung auf das Vierfache bedeutet: Die Linsen von Zeiss, die Kunststoffe von Buna, die Lastwagen von Ifa waren mit einem Schlag um das Vierfache teurer, sofern sie überhaupt noch jemand gewollt hätte. Keine Volkswirtschaft hält einen solchen Schocker aus. Produkte und Produktion waren mit der Währungsunion nichts mehr wert.
Der Hamburger Landeszentralbank-Chef Wilhelm Nölling zieht zur Verdeutlichung des Vorgangs einen Vergleich aus der Medizin: "Das war, als würde man einen Schwerkranken aus der Intensivstation wegschaffen und bei Minustemperaturen vors offene Fenster setzen."
Regierung und Beamte im fernen Bonn taten so gut wie nichts, die absehbare Schußfahrt in die Katastrophe zu bremsen. Fest vertrauten sie auf die Selbstheilungskräfte des Markts, darauf, daß nach dem kapitalistischen Urknall das zweite deutsche Wirtschaftswunder geschähe. Diese "Fehleinschätzung", spottet der neue Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann über seinen Vorgänger Helmut Haussmann, "hat dazu beigetragen, daß wirtschaftspolitische Konzepte zur Bewältigung der Probleme nicht in übermäßig zahlreicher Form in den Schubladen lagen, als ich hier ankam".
Andere Fehler kamen hinzu. Die Staatsverachtung der Marktwirte sorgte dafür, daß die Bedeutung einer funktionierenden Verwaltung sträflich unterschätzt wurde; die Eigentumsverherrlichung der Westdeutschen bewirkt bis heute, daß viele Renovierungs- und Investitionsvorhaben blockiert sind.
Das Ergebnis dieser unbeabsichtigten Kahlschlag-Strategie haben Wirtschaftswissenschaftler im Regierungsauftrag kürzlich beschrieben. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin und das Kieler Weltwirtschaftsinstitut machen eine Rechnung auf, die Pöhls Wort vom "Desaster" aufs nachhaltigste bestätigt.
"Schlagartig", so in dem quasi-amtlichen Papier, habe sich in der Ex-DDR "der Zusammenbruch der Märkte vollzogen". Mit dem Verlust der Kundschaft in Osteuropa und der Sowjetunion _(* Oben: Neptunwerft in Rostock; unten: ) _(in Wittenberge. ) (die Preise in harter D-Mark nicht zahlen kann) drohe der Wirtschaft in den neuen Ländern nochmals "eine beträchtliche Verschärfung der Lage".
Die Produktion werde in diesem Jahr gerade "noch gut ein Drittel des Wertes von 1989 erreichen". Ein solcher Crash kam bislang noch nie über ein Industrieland.
Es gibt bisher kaum Hoffnungsinseln. Die Bauwirtschaft und das Dienstleistungsgewerbe sollten nach den Erwartungen der Bonner Markt-Propheten beim Marsch in die Wohlstandswirtschaft die Vorhut bilden. Die Expertise zeigt, daß selbst in diesen Branchen heute weniger Menschen beschäftigt sind als vor der Wende: Beim Bau, wo es wahrlich genug zu mauern gibt, verhinderten der Geldmangel der Kommunen und das Gezerre um die Eigentumsrechte den Start. Im Dienstleistungsbereich wirkt der Umstand nach, daß dort, wie in der Industrie, weitaus mehr Menschen als nötig beschäftigt waren. Neue Jobs bei Banken oder Supermärkten wiegen nicht auf, was durch Rationalisierung erst mal an Stellen verlorengeht.
Anders als die Schönfärber aus der Politik und aus den Unternehmensverbänden wagen die Forscher in ihrem Gutachten keine Prognose. Nüchtern halten sie fest: "Viele Sanierungskonzepte sind fragwürdig."
Nichts hat sich bislang in den Betrieben bewegt. "Umstrukturierung durch Investitionen" ist bisher kaum in Gang gekommen. Die Firmen produzieren zwar inzwischen nicht mehr so aufwendig wie bisher, weil viele Mitarbeiter entlassen oder in die Kurzarbeit geschickt wurden. Doch der Produktionsapparat kann bei weitem nicht das leisten, was die West-Konkurrenz mit ihren automatisierten Fertigungsverfahren schafft.
"Ungelöst ist", so das Gutachten, "fast überall die zentrale Aufgabe, neue Produkte zu entwickeln." Daß dies in absehbarer Zukunft geschieht, erscheint ausgeschlossen.
Die Unternehmen sind blank, sie müssen sparen, und sie sparen bei der Entwicklung - "teilweise in einem solchen Maße, daß Produkt- und Fertigungsinnovationen kaum noch möglich sind".
Industrielle Tristesse von Rostock bis Riesa, von Cottbus bis Chemnitz. Die alten Märkte sind weg, neue nicht in Sicht. Das Geld, das vom Westen in die neuen Länder fließt, wird für Produkte ausgegeben, die aus den Fabriken der alten Länder kommen.
Fazit: "Die Wirtschaft in den neuen Ländern befindet sich in einer Krise, deren Dimension alle Konjunktur- und Strukturkrisen in den alten Bundesländern bei weitem übertrifft."
Gewaltige Summen sind nun fällig, um die Region östlich der Elbe industriell aufzurüsten. Um welche Beträge es geht, hat ein Team des Internationalen Währungsfonds (IWF) in einer umfangreichen Studie zu ermitteln versucht. Die Daten stimmen bemerkenswert überein mit früheren Berechnungen, die im Sommer vergangenen Jahres angestellt und von den politisch *GESCHICHTE-1 *
Verantwortlichen mit Nichtachtung bedacht wurden.
Die IWF-Experten gehen in ihrem Szenario davon aus, daß ein Beschäftigter im Osten 30 Prozent dessen an Waren oder Diensten schaffte, was in der alten Bundesrepublik üblich war.
Um Anschluß zu gewinnen, muß moderne Technik für die Kontore und Fabriken gekauft, müssen viele neue Betriebe aufgebaut werden. Soll ein Ost-Arbeitnehmer in zehn Jahren *___80 Prozent dessen erarbeiten, was ein vergleichbarer ____West-Kollege packt, dann müßten bis dahin, so der IWF, ____1,0 bis 1,3 Billionen Mark (in Preisen von 1990) im ____Osten investiert werden; *___das gleiche wie der Beschäftigte im Westen produzieren, ____dann müßten 1,5 bis 1,9 Billionen Mark für ____Investitionen bereitgestellt werden.
20 Prozent dieses Aufwands hätte der Staat - entsprechend der Quote im Westen - für öffentliche Investitionen zu bestreiten, ohne Bahn und Telekommunikation. Macht mithin 1700 Milliarden Mark als mittlerer Wert, um in der industriellen Ausrüstung, im Transportwesen und in der Telekommunikation auf West-Niveau zu kommen.
Nicht eingeschlossen in diesen Summen ist der Milliarden-Aufwand für die Säuberung der Umwelt in Bitterfeld und anderswo (der auf nochmals rund 300 Milliarden Mark taxiert wird).
Auf zehn Jahre verteilt bedeuten diese 1700 Milliarden einen jährlichen Bedarf _(* Oben: Neues Volkswagen-Werk in Mosel ) _(bei Zwickau; unten: Verlegung von ) _(Telefonkabeln in Halle. ) von 170 Milliarden Mark für Investitionen; oder, wenn ein 80prozentiges Leistungsvermögen als realistischere Zielgröße angepeilt wird: rund 115 Milliarden Mark jährlich. Zieht man von den 170 Milliarden den öffentlichen Bereich mit rund einem Drittel ab, so bleiben etwa 120 Milliarden Mark, die an privaten Mitteln für den Neu-Aufbau der Produktion jährlich in den Osten geschafft werden müssen.
Ein Vergleich mit den Neu-Investitionen im westlichen Teil des Landes macht deutlich, daß "die Ressourcen-Erfordernisse für den Wiederaufbau" wahrhaft "gewaltig" sind, wie es in der IWF-Studie heißt.
Auf rund 100 Milliarden Mark belaufen sich in der alten Bundesrepublik gegenwärtig die sogenannten Netto-Investitionen - also jene Ausgaben für Maschinen und Fabrikhallen, mit denen nicht Verschlissenes ersetzt, sondern Neues geschaffen wird. Und dies bei der vierfachen Bevölkerungszahl.
Es dürfte schon rein technisch unmöglich sein, in zwölf Monaten auf einem Territorium wie der Ex-DDR so viele neue Produktionsmittel betriebsbereit zu machen. Mehr als 50, allenfalls 70 Milliarden sind wohl im Jahr nicht sinnvoll für Investitionen auszugeben.
Doch abgesehen davon: Keiner der frohgemuten Prognostiker aus dem Regierungsapparat und von der Unternehmenslobby hat bislang verraten, wie diese Mittel - 50, 70 oder 120 Milliarden - aufgebracht werden sollen.
Die meisten haben die Billionen-Zahlen der Währungsfonds-Studie nicht mal zur Kenntnis genommen. Hans-Peter Stihl beispielsweise, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, verkündet, "Katastrophenstimmung" sei nicht angebracht: Als Beleg führt er an, die Unternehmen planten "für die nächsten drei bis fünf Jahre Investitionen von 70 Milliarden Mark" - für drei bis fünf Jahre jene Summe, die in einem Jahr erforderlich wäre.
Stihls Ist-Betrag ist gewiß wirklichkeitsnäher als das Soll des IWF. Anders als nach der Währungsreform in der alten Bundesrepublik wird die ostdeutsche Wirtschaft ihre Ausgaben für neue und zusätzliche Produktionsmittel nur zum geringeren Teil selbst bezahlen können. Ein Volk, in dem die Hälfte der Erwerbsfähigen von Sozialleistungen lebt, legt wenig Spargelder beiseite. Folglich bleibt nicht genug, um mit dem Aufbau von Produktionsmitteln die Zukunft zu sichern.
Das Geld muß aus anderen Regionen kommen, von privaten Investoren aus den alten Bundesländern vornehmlich. Doch die zweistelligen Milliardenbeträge, sie rollten bislang nicht, allen Verheißungen zum Trotz.
Westliche Unternehmensführer merkten schnell, mit welchen Widrigkeiten sie im Osten zu kämpfen haben. Und sie begriffen rasch, daß sie die ostdeutschen Märkte gewinnmehrend vom Westen aus bedienen können.
Schwer verständlich, daß die Regierenden nach dem Start der Währungsunion fast ein Dreivierteljahr verstreichen ließen, bis sie sich entschlossen, westliches Geld mit satten Beihilfen in den Osten zu locken.
"Ein Maximum an Anreizen für investitionsbereite Unternehmen" sei nun geschaffen worden, frohlockte Wirtschaftsminister Möllemann schließlich im März, als das "Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost" stand. Und fürwahr, was Bonn nun an Zulagen und Zuschüssen, an Sonderabschreibungen und anderen Steuervergünstigungen feilbietet, das sind schon üppige Hilfen.
Wer eine Million Mark für neue Büros oder Maschinen im Osten ausgibt, der kassiert zunächst mal 230 000 Mark von Bonn als Zuschuß. Er darf überdies die Hälfte der Ausgabe bereits im Anschaffungsjahr als Sonderabschreibung von dem steuerpflichtigen Gewinn abziehen, den er in seiner Stammfirma macht. Schließlich entfällt im Ost-Betrieb Vermögen- und Gewerbekapitalsteuer.
All diese staatlichen Zugaben sorgen zusammen dafür, daß die Rentabilität einer Investition im Osten fast um die Hälfte steigt. Und das Geldgeschenk läßt nicht mal lange auf sich warten: Bis zu 40 Prozent der Vergünstigungen findet sich im ersten Jahr nach der Ausgabe auf dem Konto des Investors wieder.
Genug also, um nun das Wunder im Osten doch bald Wirklichkeit werden zu lassen? Genug, gewiß, um manchen zögerlichen West-Manager zum Start in den Osten anzuregen; genug, um manche neue Fabrik, die für Paderborn oder Pirmasens geplant war, nun in Plauen oder Potsdam hochzuziehen.
Doch daß die Bonner Milliarden-Verlockungen wirklich jene gigantischen Investitionsströme nach Osten saugen werden, die laut IWF-Rechnung erforderlich wären, scheint gänzlich ausgeschlossen.
Trotz der klotzigen Subventionen sind nach einer Ifo-Umfrage in diesem Jahr gerade mal Investitionen von zehn Milliarden Mark geplant. Das schafft rund 44 000 neue Arbeitsplätze, verschwindend gering im Verhältnis zu dem, was an Jobs verlorengeht.
Sicherlich, es wird in allen Teilen der Ex-DDR neue Betriebe oder von West-Unternehmen sanierte Firmen geben, das VW-Werk bei Zwickau beispielsweise oder den BASF-Ableger in Schwarzheide. Doch das sind nicht mehr als Entwicklungsinseln in einem maroden Umfeld.
Nach wie vor stehen ja alle Investitionshemmnisse im Wege: die komplizierten Eigentumsprobleme, die arbeitsunfähige Verwaltung, die lausigen Lebensbedingungen für West-Personal, miserable Kommunikations- und Transportmöglichkeiten, Mentalitätsbarrieren bei den Ostdeutschen.
Ein weiteres Hindernis kam in den letzten Monaten hinzu. Nach einem fast zehnjährigen, ununterbrochenen Aufschwung herrscht in vielen westlichen Industrieländern gegenwärtig eine bedrückende Flaute. Die Unternehmen der Exportnation Deutschland spüren, daß die ausländische Kundschaft weniger bestellt.
In einer solchen Phase weiten die Vorstände selten ihre Produktionsanlagen aus; mithin gibt es auch für viele keinen Grund, Fabriken im deutschen Osten zu kaufen oder zu bauen.
Das konjunkturelle Tief wird abziehen, ein anderes Handicap wird jedoch zunehmend an Gewicht gewinnen. Löhne und Gehälter im Osten steigen in den nächsten Jahren in riesigen Sprüngen, gänzlich losgelöst von der Leistungsfähigkeit der Unternehmen.
Die IG Metall hat mit den Arbeitgebern in Mecklenburg-Vorpommern einen wegweisenden Tarifvertrag unterzeichnet. Er sieht eine Angleichung der Löhne und Gehälter an West-Niveau bis 1994 vor; nur die Arbeitszeiten bleiben noch einige Jahre auf höherem Ost-Standard.
Der Vertrag von Mecklenburg-Vorpommern ist ein Pilotprojekt. In Bälde werden alle Unternehmen in der ehemaligen DDR verpflichtet sein, binnen drei, vielleicht vier Jahren mit gewaltigen Einkommenszuschlägen vom jetzigen Niveau, das etwa 40 Prozent der West-Löhne entspricht, auf volles West-Geld aufzuschließen. Voraussehbar war auch diese Entwicklung. Lohnunterschiede von rund hundert Prozent sind innerhalb eines Landes schwer durchzuhalten. Die Abwanderung von Ost nach West, schon jetzt beängstigend, würde gewaltige Ausmaße erreichen.
Doch niemand hat bis jetzt verraten, wie Lohnsteigerungen auf das Fünffache (von 1989 bis 1994) erwirtschaftet und bezahlt werden sollen.
Eine solche Erhöhung der Arbeitskosten gibt den noch arbeitenden Verlustbetrieben in den neuen Ländern den letzten Rest; sie schreckt zugleich die kühl kalkulierenden Unternehmen aus dem Westen ab, im notwendigen Ausmaß im Osten Geld anzulegen.
Da verpufften dann in vielen Fällen wohl auch die deftigen Staatszuschüsse. Im großen EG-Markt halten andere Länder ebenfalls attraktive Vergünstigungen bereit: Spanien, Portugal oder Irland zum Beispiel. Dort aber liegen die Kosten für den Produktionsfaktor Arbeit weit unter dem deutschen Niveau.
"Es ist absurd", sagt Ernst-Moritz Lipp, der Chef-Volkswirt der Dresdner Bank, "durch zu hohe Löhne Investitionen unrentabel zu machen, die Schäden dann mit Investitionsförderung zu begrenzen und - wo alles nichts mehr hilft - die Menschen mit Arbeitslosengeld auszuhalten."
Der Banken-Volkswirt empfiehlt, im Verein mit anderen Ökonomen, der Staat solle Lohnzuschläge zahlen. Die Betriebe würden die Arbeitsentgelte nur im Rahmen der Produktivitätsgewinne in der ostdeutschen Wirtschaft erhöhen. Die Differenzbeträge zu den Gehältern, die in den Tarifverträgen ausgehandelt wurden, müßte Bonn überweisen.
Lohnzuschüsse, die für Beschäftigung sorgen, würden den Neuaufbau im Osten erleichtern, würden die sozialen Spannungen mindern; sie wären sinnvoller als Geld für Kurzarbeit Null oder für Arbeitslosigkeit.
Lipp: "Wenn man die Zahlungen auf die unteren Lohngruppen beschränkt, würde das den Staat bis zu zehn Milliarden Mark pro Jahr kosten."
Weitere Milliarden wären dies allerdings, Milliarden, die bislang in keiner Haushaltsrechnung enthalten sind. Woher nehmen?
Mit den laufenden Transferzahlungen für die ostdeutschen Länder, für die Arbeitslosenversicherung, die Rentenkassen und all die anderen bedürftigen Stellen, mit den Milliarden zudem, die der Staat für Osteuropa und die Sowjetunion bereitstellen muß - mit all dem sind die finanziellen Möglichkeiten des Gemeinwesens längst ausgereizt.
Lohnsubventionen im Osten lassen sich nur mit Ausgabe-Verzichten im Westen oder mit weiteren Steuererhöhungen bezahlen. Mehr öffentliche Schulden sind nicht vertretbar, längst schon ist das "Gesamtdefizit zu hoch", wie der langjährige Wirtschaftsstaatssekretär Otto Schlecht sagt.
Egal ob der Zuschlag zur Lohn- und Einkommensteuer über den 30. Juni 1992 hinaus erhalten bleibt; ob Bonn zwei Prozentpunkte bei der Mehrwertsteuer drauflegt; ob (wie Zentralbankratsmitglied Nölling vorschlägt) die vielen Erbschaften härter besteuert und Grundvermögen einem Gebot des Verfassungsgerichts entsprechend endlich einer zeitgemäßen Besteuerung unterworfen wird; ob nicht doch die irrwitzigen Hilfen für die Landwirte, den Steinkohlebergbau oder die Sparer gekürzt werden: Der Westen des vereinten Landes kommt an weiterem Verzicht zugunsten des Ostens nicht vorbei.
Die ökonomische Logik der Einheit ist unerbittlich; wer sich ihr heute zu entziehen sucht, wird morgen um so mehr zu zahlen haben.
Der Lastenausgleich, der 45 Jahre völlig unterschiedlicher ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklung einebnen muß, hat mit den beschlossenen Abgabenerhöhungen und Investitionshilfen gerade erst angefangen.
Es muß mehr für das Zusammenführen der beiden Landesteile aufgebracht werden, nicht nur, weil womöglich Lohnzuschüsse zu zahlen sind. Auch nachdem sich die West-Politiker dazu durchgerungen haben, den Ost-Ländern mehr Mittel zukommen zu lassen, sind die östlichen Gebietskörperschaften allzu dürftig mit Geld versorgt. Die Steuereinnahmen der Länder und Kommunen im Osten liegen je Einwohner bei 1300 Mark, im Westen sind es 4700 Mark.
Mit solchen Einnahmen können die ostdeutschen Städte bestenfalls ihre Verwaltungskosten bestreiten. Für Investitionen bleibt nichts auf den Konten übrig. Die Berliner und Kieler Autoren der Studie über den Zustand der Ost-Wirtschaft sind daher der Meinung, "daß die Mittel bei weitem nicht ausreichen werden, um die Finanzlöcher im Beitrittsgebiet zu füllen".
Nichts führt eben an der schlichten Ökonomen-Gleichung vorbei, daß es für das Volkseinkommen zwei Verwendungsmöglichkeiten gibt: Konsumieren und Investieren. Wenn der Bedarf für neue Produktionsanlagen so gewaltig ist wie jetzt der in den neuen Ländern, dann bleibt unvermeidlich weniger zum Konsumieren.
Die deutsche Wirtschaft sieht sich schließlich nicht nur im Osten des Landes und im Osten Europas mehr denn je gefordert. In EG-Europa gibt es von 1993 an keinerlei Handelsgrenzen mehr; mit gewaltigem finanziellen Aufwand rüsten die Unternehmen für den kontinentalen Kampf um die Kunden. Auf den Weltmärkten wird unterdes der Wettbewerb immer härter; wer nicht rechtzeitig immense Geldbeträge in neue Produkte und kostengünstige Produktionsverfahren steckt, wird abgehängt.
Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung im neuen Deutschland kann nicht aufgehen, wenn der Westen die gewohnten Wohlstandssteigerungen wie bisher voll für sich beansprucht. "Wir müssen auf einen Zuwachs auf unseren Lebensstandard vorübergehend verzichten", mahnt Lipp seine westlichen Mitbürger.
Niemand unter den politischen Honorablen stimmte die Bürger auf die fälligen Opfer ein. So wird weitergemacht wie bisher.
Als Vorreiter für alle anderen Arbeitnehmer hat die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes (ÖTV) für ihre Klientel Einkommenserhöhungen durchgesetzt, die sich einschließlich aller Nebenabreden auf über sieben Prozent summieren. Die IG Bau, Steine, Erden zog vergangene Woche mit einem Sieben-Prozent-Abschluß nach; die IG Metall wird gewiß nicht unter dieser Marke bleiben.
Rund sieben Prozent heißt: Abzüglich einer erwarteten Preissteigerung von drei bis vier Prozent bleibt ein Gewinn von ebenfalls drei bis vier Prozent. Diese Erhöhung wird nicht mal durch das erwartete Produktivitätsplus im Westen (gut zwei Prozent) gedeckt. Ein Solidarbeitrag für den Osten ist gänzlich ausgeschlossen.
Im Gegenteil. Die Forderungen von zehn oder elf Prozent werden von den Gewerkschaftsführern unter anderem mit dem Argument unterlegt, die Lohnzuschläge müßten einen Ausgleich schaffen für die jüngsten Steuererhöhungen.
Die Gewerkschaftsfürsten, und viele mit ihnen, übersehen offenkundig, daß der bestehende Produktionsapparat nicht auf Dauer eine um 20 Prozent gewachsene Bevölkerung zusätzlich, mit ihren wachsenden Ansprüchen, versorgen kann; daß, wie Ex-Wirtschaftsminister Karl Schiller gerade mahnte, "die Basis der Wirtschaft die industrielle Produktion ist"; daß gewaltige Ressourcen von West nach Ost geschafft werden müssen, um in den neuen Ländern konkurrenzfähige Produkte herzustellen.
Geschieht dies nicht, dann wird das Wohlleben auf andere Weise bezahlt. Wenn die Bundesbank mitspielt und das Geld vermehrt, dann drückt das Mißverhältnis von angebotenen und nachgefragten Produkten die Preise nach oben; dann führt die deutsche Einheit geradewegs in die Inflation.
Eine Zeitlang zumindest läßt sich auch auf Kosten der ausländischen Lieferanten gut leben. Das fände dann seinen Niederschlag in einer roten Außenbilanz. Skeptische Mitglieder des Zentralbankrats sehen die Bundesrepublik bereits auf dem Weg in eine dauerhaft defizitäre Leistungsbilanz; die Überschüsse in der Bilanz von Ex- und Importen sind schon stark geschrumpft.
Wirklichkeitsnäher ist allerdings ein anderer Entwurf. Die Bundesbanker werden ihren gesetzlichen Auftrag, den Geldwert zu erhalten, ernst nehmen; sie werden, wie mit der Diskonterhöhung von Ende Januar angedeutet, das Geld knapp machen. Die Konjunktur würde womöglich abgewürgt. Und das könnte im schlimmsten Fall bedeuten: Das Land, das vor einer gewaltigen Aufbauarbeit steht, wird mit allen seinen Teilen in eine Rezession schlittern. "Wir programmieren den wirtschaftlichen Zusammenbruch", schreibt der Betriebswirtschaftsprofessor und Wirtschaftswoche-Herausgeber Wolfram Engels.
Abgrundtiefer Pessimismus, unverantwortliche Panikmache? Wohl kaum. Die ökonomischen Grundrechenarten wurden durch die deutsche Einheit nicht außer Kraft gesetzt. Was nicht produziert wird, kann nicht verbraucht werden.
Es hat sich schon gerächt, daß Politiker und Verbandspräsidenten ihre gen Osten gerichteten Mutmach-Sprüche selbst geglaubt haben. Das Aufschwungprogramm, das jetzt beschlossen wurde, hätte schon vor einem Dreivierteljahr fertig sein müssen.
Die Berliner Treuhandanstalt hätte sich dann vielleicht früher schon von der frohgemuten Vorstellung verabschiedet, sie könne den Großteil der Ost-Firmen binnen kurzem an West-Investoren verkaufen. Die Regierenden hätten womöglich geschaffen, was immer noch fehlt: eine zumindest grobe Konzeption, aus der ersichtlich wird, welche Branchen und Konzerne im Osten erhalten werden und welche ohne jede Chance sind.
Nachdenkliche Zeitgenossen sahen die Schußfahrt ins wirtschaftliche Desaster voraus. Der SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi hat in seinem Buch "Das Deutsche Wagnis", das der SPIEGEL vorab als Serie druckte, die Zusammenhänge korrekt beschrieben.
"Das ökonomische Szenario des deutschen Wagnisses ist eine Wohlstandsübertragung aus der BRD in die DDR in bisher unbekannten Ausmaßen", notierte er bereits im September 1990.
Strapaziös wird auch die Dauer dieser Übertragung. Sicherlich, die Lebensverhältnisse im Osten werden sich, wenn erst mal der herbeigesehnte Tiefpunkt erreicht ist, von Jahr zu Jahr verbessern. Aber selbst wenn die wirtschaftspolitische Fehlerquote klein gehalten wird, selbst wenn die Bereitschaft zum Teilen wächst, wird sich dieses Integrationsprogramm nicht in zehn, schon gar nicht in Kohls drei bis fünf Jahren vollenden lassen.
Der Ist-Zustand, wie er von den Wirtschaftsforschern in Berlin und Kiel beschrieben wird, und die Bedarfsrechnung, die der Währungsfonds aufmacht, sie bestätigen Dohnanyis Prognose: "Eine Generation, das heißt 20 bis 30 Jahre, sind sicher ein realistischerer Zeitraum."