Schweden Fast ein Tabu
Selten nur ist der schwedische Außenminister Sten Andersson um Worte verlegen. Doch zu einem vor nunmehr fünf Jahren ermordeten Freund und politischen Weggefährten fällt dem Sozialdemokraten nicht viel ein: "Olof Palme bedeutete mehr für mich, als ich zu seinen Lebzeiten je begriff", beteuert er verlegen. Welche Bedeutung Palme wirklich für sein Leben hatte, will oder kann der ehemalige Parteisekretär nicht erklären.
Palmes einstiger Tennispartner Harry Schein, der nun jede Woche mit den Palme-Söhnen Joakim, 32, und Marten, 29, die Bälle wechselt, ist ebenso ratlos. Palme, sagt er, "hat mein Leben bereichert". Deutlicher kann es der aus Österreich eingewanderte Ex-Bankmanager aber nicht sagen. Palmes einstigen politischen Widersachern geht es nicht besser. Carl Bildt, Vorsitzender der oppositionellen Konservativen, gesteht: "Ich begriff nicht, was ihn trieb und was er betrieb."
Fünf Jahre nach dem tödlichen Schuß, der in der letzten Februarnacht des Jahres 1986 mitten in Stockholm auf den Ministerpräsidenten abgefeuert wurde, gibt der Tote mehr Rätsel auf als der lebende Palme. Ewonne Winblad, Chefredakteurin des Fernseh-Nachrichtenmagazins "Rapport" kann sich das nur so erklären: "Es ist fast zum Tabu geworden, über Palme zu reden."
Dafür gibt es einen gewichtigen Grund. Nach der umfangreichsten Fahndung der schwedischen Kriminalgeschichte, an der anfangs über 300 Polizisten beteiligt waren und die heute immer noch 25 Kripobeamte beschäftigt, steht die Polizei mit leeren Händen da. Sie kann keinen Täter, keine Tatwaffe vorweisen - und schon gar kein Motiv.
Einen Mordverdächtigen, den rauschgiftsüchtigen Kleinganoven Christer Pettersson, den das Stockholmer Amtsgericht im Juli 1989 verurteilte, sprach das Oberlandesgericht im Herbst frei, aus Mangel an Beweisen.
Seither werkelt die geschrumpfte Mordkommission frustriert vor sich hin. Die aktive Fahndung wurde im vergangenen Sommer beendet. Die restlichen Beamten durchforsten und analysieren die vorliegenden 13 000 Tips und Hinweise. Fahndungschef Hans Ölvebro ist sicher: "Der Palme-Mörder findet sich in unserem Material."
Dort, davon ist der Schriftsteller Sven Aner überzeugt, wird der Name des Täters "wohl bis an dessen Lebensende liegen". Aner, der in Uppsala lebt, ist einer von gut einem halben Dutzend Amateurdetektiven, die noch immer auf eigene Faust recherchieren. "Mein Mißtrauen gegenüber der Polizei ist total", rechtfertigt er sein Engagement, das ihn vier Jahre voll beschäftigt und "mehr Ausgaben als Einkünfte" eingetragen habe.
Aber auch er kennt nicht den Mann, der die Waffe abfeuerte. Aner: "Um Palme spann sich ein Gewebe aus Haß und Aggressionen. Schwedische Polizisten, Marineoffiziere, Ultrarechte und die CIA hatten alle das gleiche Ziel."
Auf der "Polizeispur", der Annahme also, daß Palme einer als "Baseball-Liga" für ihre Brutalität berüchtigten Einsatzgruppe der Stockholmer City-Polizei zum Opfer fiel, jagen auch Kari Poutiainen, ein Lehrer, und sein Bruder Pertti. Sie glauben, daß bei den Ermittlungen absichtlich gemogelt wurde.
Belege: Über ein Jahr lang blieb das Original-Tonband, auf dem in der Leitungszentrale der Stockholmer Polizei der gesamte Sprechfunkverkehr der Mordnacht aufgezeichnet wurde, spurlos verschwunden. Außerdem war der Polizeiwagen 1180 unterwegs, der jedoch laut Dienstliste gar nicht im Einsatz gewesen sein soll. Aufgrund "der Kreise, die hinter dem Mord stecken", werde der Täter nie gefaßt, glaubt Kari.
Die angebliche Polizeifährte fesselte auch den Fernsehproduzenten Lars Krantz. In einem Buch gab er sogar die Namen jener beiden Polizisten preis, die er für mitschuldig hält. Von diesem Verdacht ist er bis heute nicht abgerückt, vermutet aber andere Drahtzieher. Krantz: "Der Mord ist eigentlich ein Familiendrama." Seiner Meinung nach war Palmes Ehefrau Lisbet zumindest Mitwisserin der Tragödie.
Nicht weniger abstrus erscheint die Theorie, die der Schriftsteller Sven _(* 1968 in Stockholm. ) Wernström vertritt. Danach sind die sozialdemokratische "Partei, die Polizei und der Sicherheitsdienst Säpo auf irgendeine Art verwickelt". Palme hatte zum Zeitpunkt des Mordes eine lästige Ermittlung wegen Steuerhinterziehung am Hals, die Unterlagen wurden kurz vor der Tat vernichtet.
Amateurkriminalisten schließen nicht aus, daß auch der Verkauf von 400 Feldhaubitzen der schwedischen Waffenschmiede Bofors an Indien, bei dem Friedensfreund Palme persönlich Pate gestanden hatte, zur Belastung wurde. Bofors, so stellte sich später heraus, zahlte dabei Schmiergelder. Indiens Regierungschef Gandhi soll den Handel gedeckt haben, der zu seiner Wahlniederlage beitrug.
Wäre Palme politisch darüber gestolpert, so vermutet Wernström, hätte er die Sozialdemokraten mitgerissen.
Zwei selbsternannte Privatdetektive sehen noch immer Hinweise auf ausländische Organisationen, die angeblich hinter dem Mord stecken. Ebbe Carlsson, ein Verlagsredakteur und Intimus des gescheiterten ersten Fahndungschefs Hans Holmer, glaubt weiterhin, daß die Arbeiterpartei Kurdistans PKK mit dem Attentat zu tun habe.
Carlsson betrieb seine Nachforschungen mit Einverständnis der Justizministerin Anna-Greta Leijon. Als herauskam, daß er illegal Wanzen einschmuggeln ließ, mußte die Ministerin den Hut nehmen. Carlsson ermuntert zur Fortsetzung der offiziellen Fahndung: "Sonst wird dieser Eiterherd das politische Leben noch auf Jahre hinaus vergiften."
Eine neue Fährte will dagegen Olle Als en, damals Leitartikler des liberalen Stockholmer Blattes Dagens Nyheter, aufgetan haben. Nach einer Information, die er von dem früheren CIA-Agenten Ibrahim Razin erhalten haben will, schickte Licio Gelli, Leiter der berüchtigten italienischen Loge Propaganda Due, P2, drei Tage vor dem Mord ein Fernschreiben an seinen amerikanischen Logenbruder Philip Guarino. Wortlaut: "Berichte unserem Freund, daß der schwedische Baum gefällt werden wird."
Weshalb die Loge an Palmes Tod interessiert gewesen sein soll, bleibt bei Alsen offen. Palme galt als der bekannteste Politiker Schwedens; er war mit seinem Engagement wiederholt angeeckt und hatte die Regierungen anderer Staaten verärgert. So verübelten ihm US-Präsident Richard Nixon und Außenminister Henry Kissinger seine Kritik am Vietnamkrieg, Israel ärgerten seine Kontakte mit PLO-Chef Jassir Arafat. Aber Einfluß besaß Palme international kaum.
Ein mögliches Motiv, das Palmes Beseitigung durch ausländische Organisationen wünschenswert erscheinen ließ, glaubt Nathan Shachar erkannt zu haben, Korrespondent von Dagens Nyheter in Jerusalem und der Sohn des Literaturprofessors Knut Ahnlund, Mitglied jener Schwedischen Akademie, die den Literatur-Nobelpreis verleiht.
Nach Shachars Analyse verfolgte Palme politische Pläne, die sowohl der US-Regierung in Washington als auch der Nato-Zentrale in Brüssel mißfielen. Der schwedische Regierungschef unterstützte den sowjetischen Vorschlag, in Nordeuropa eine atomwaffenfreie Zone einzurichten, die in der Praxis auch die Nato-Mitgliedstaaten Dänemark und Norwegen einbezogen hätte.
Palme habe dieses Spiel betrieben, weil es "bei der Friedensbewegung beispiellosen Beifall gefunden" habe. Seltsam genug, so Shachar, daß dieses Doppelspiel "in den phantasievollen Szenarien, die ein Motiv für den Mord herausarbeiten wollen", nie beachtet worden sei.
Kaum eine Gruppe, die noch nicht zu den Palme-Mördern gezählt worden ist. Kein Wunder, daß Cheffahnder Hans Ölvebro sämtliche Amateurdetektive herzlich satt hat: "Alle ihre Angaben sind reine Desinformation." Er wird damit leben müssen, solange die Polizei keinen Mörder vorführen kann. o