Kein Grund zur Angst
Heiner Geißler, 61, ist stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Ein bißchen mehr humanistische Bildung könnte in der Asyldebatte von Nutzen sein. Der griechische Philosoph Epiktet hatte schon vor 1900 Jahren die gescheite Erkenntnis: "Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die Ansichten über die Dinge."
Die Verwirrung in der Ausländerdebatte hat ihre Ursache nicht in den Fakten, sondern in den Meinungen und Reden darüber. Wenn auf die komplexe Situation der Übervölkerung in der Welt bei gleichzeitiger Schrumpfung und Vergreisung der deutschen und europäischen Bevölkerung die Antwort lautet: "Das Boot ist voll", dann hat dies ähnliche Qualität wie früher "lieber rot als tot" als Antwort auf den Ost-West-Konflikt. Solche Sprüche sind als Antworten auf komplexe Situationen einfach zu simpel, um richtig sein zu können.
Was ist, wenn trotz Ergänzung des Artikels 16 GG - die auch ich als Gesetzesvorbehalt notwendig finde - und trotz des nötigen Ausführungsgesetzes die Zahl der Asylbewerber kaum zurückgeht, weil das eigentliche Problem die millionenfache Flüchtlingsbewegung ist?
Was werden die Menschen eines Tages von Politikern und Journalisten halten, die heute den Eindruck erwecken, als könnten die Deutschen eines Tages wieder unter sich sein, und die in wenigen Jahren den Menschen erklären müssen, daß die wiedervereinigten Deutschen in einem geeinten Europa nicht mit weniger, sondern mit mehr Ausländern zusammenleben werden als heute?
Der Rechtsradikalismus hat viele Ursachen: Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Underdog-Komplexe, die an noch Schwächeren abreagiert werden. Der Streit um das Asylrecht nützt natürlich den Radikalen und schadet den demokratischen Parteien.
Rechtsradikalismus ist vor allem ein Ergebnis von Desinformation. Zur geistigen Führung gehört, daß man die Deutschen nicht über ihre Zukunft und die künftige Gesellschaft im unklaren läßt. Man muß die Dinge nennen, wie sie sind:
Erstens: Der Kern der Problematik besteht darin, daß die Zahl der Heimatlosen auf der Welt mehr als eine halbe Milliarde Menschen beträgt. Die ersten Vorboten dieser Völkerwanderung klopfen an die Türen unserer Sozialämter. Sie werden diese Türen eines Tages einschlagen, wenn wir vor diesen neuen internationalen sozialen Fragen versagen.
Da das soziale Elend der Welt nicht in den Sozialämtern gelöst werden kann, müssen die Fluchtursachen beseitigt werden. Mit einem gemeinsamen Programm der Industrieländer muß internationale soziale Marktwirtschaft durchgesetzt werden, also: Wirtschaftshilfe für Osteuropa, Beseitigung der Handelshemmnisse, Öffnung der Märkte, schnelle Entschuldung der Dritten Welt, deutliche Einschränkung des Waffenexports, beschleunigte Abrüstung und Förderung der Demokratisierung in allen Kontinenten.
Zweitens: Die Deutschen werden nicht - wie jetzt - mit fünf Millionen, sondern in Zukunft mit sieben, acht, vielleicht sogar zehn Millionen Ausländern zusammenleben. Dies ist kein Grund zur Angst, sondern für ein Volk der Mitte und für unsere ökonomische Entwicklung eine Selbstverständlichkeit und eine Chance. Es gibt zwar Angst vor Ausländern, aber sie ist nicht begründet.
Die deutsche wie die europäische Wirtschaft brauchen Ausländer als Arbeitnehmer, als Konsumenten, als Steuerzahler. Die Renten sind nach 2015 nicht mehr bezahlbar, wenn wir auf deutsche Beitragszahler angewiesen wären.
Die Zuwanderung muß gesteuert werden wie in Amerika. Das heißt, wir brauchen in Absprache mit den europäischen Ländern eine Kontingentierung der Zuwanderung. Das kann natürlich nicht für Asylberechtigte gelten.
Nicht der Zuzug von Ausländern, sondern die mangelnde Verjüngungs- und Anpassungsfähigkeit und das Anti-Immigrationsdenken der deutschen Gesellschaft sind die eigentliche Gefahr für unsere Zukunft.
Drittens: Es kommt nicht mehr auf die Frage an, ob wir mit Ausländern zusammenleben wollen, sondern darauf, wie wir mit ihnen zusammenleben. Wir können diese Frage nicht beantworten im Sinne des Nationalismus oder sogar des Rassismus, sondern nur im Geiste der Humanität und der Toleranz.
Die Vorstellung, wir könnten unsere zukünftige Gesellschaft als ein modernes Sparta konstruieren, mit Spartiaten, Periöken und Heloten, also mit Menschen erster und Millionen Menschen zweiter und dritter Klasse, ist das eigentlich Beängstigende und Gespenstische an der jetzigen Diskussion. Als ob Mord und Totschlag von Nordirland über Jugoslawien bis Berg-Karabach nicht damit zu tun hätten, daß eine Bevölkerungsgruppe die andere diskriminiert.
Eine zukunftsorientierte Ausländerpolitik erfordert eine moderne Einbürgerungspolitik, die das Staatsbürgerrecht nicht mehr völkisch, sondern republikanisch definiert.
Wenn wir es gut meinen mit unserer Zukunft, muß sich unser Volk auf eine multikulturelle Gesellschaft vorbereiten. Darin bewahren wir selbstverständlich unsere deutsche Identität, leben aber in Toleranz und gegenseitiger Achtung mit deutschen Staatsbürgern zusammen, die sich zu unserer Verfassung bekennen, die aber durchaus eine andere Herkunft, eine andere Hautfarbe oder eine andere Muttersprache haben.