RÜSTUNG Test der Männlichkeit
Bevor das Karnevals-Korps der "Bonner Stadtsoldaten" am vergangenen Donnerstag das Auswärtige Amt besetzte, hatte Hausherr Hans-Dietrich Genscher noch einen wichtigen Termin. Kanzler Helmut Kohl wollte mit seinem Duzfreund aus besseren Tagen unter vier Augen diskutieren, wie die über die libysche Giftgasaffäre aufgebrachten Alliierten durch einen Loyalitätsbeweis zu besänftigen seien.
Genscher ahnte schon, was auf ihn zukommen würde. Kohl will beim Nato-Jubiläumsgipfel im Mai dem Drängen der Amerikaner und Briten nachgeben und der als Modernisierung getarnten neuen Runde atomarer Aufrüstung in Europa zustimmen. Es soll Schluß sein mit der bisher von der Koalition gemeinsam vertretenen Beschwichtigungsformel, in der Nato bestehe kein "aktueller Handlungsbedarf"; es reiche aus, wenn sich das westliche Bündnis eine "Option" offenhalte.
Aufgeschreckt von den Verdächtigungen, die Bonner drifteten unter dem Einfluß östlicher Abrüstungsofferten ab, hatte Kohl ohne vorherige Absprache mit Genscher seinen Verteidigungsminister Rupert Scholz (CDU) in der vergangenen Woche nach London geschickt und den vor allem von CSU-Chef Theo Waigel geforderten neuen Unionskurs vortragen lassen.
Als Gegenleistung für das Bonner Einlenken sollen sich Amerikaner und Briten allerdings bereit erklären, mit den Sowjets möglichst bald über atomare Kurzstreckenwaffen (88 im Westen gegen 1365 im Osten) zu verhandeln und gemeinsame Obergrenzen festzulegen. Wieviel neue atomare Kurzstreckensysteme dann in Westeuropa in Stellung gebracht werden, soll auch von Fortschritten bei der im März beginnenden Wiener Konferenz über konventionelle Streitkräfte abhängig gemacht werden.
Einen solchen "zweiten Doppelbeschluß", gab Scholz-Gastgeber George Younger in London zu Protokoll, könne auch er sich vorstellen.
Der erste Doppelbeschluß stammt aus dem Jahre 1979: Damals kündigte die Nato die Stationierung von Pershing-2-Raketen und Marschflugkörpern für den Fall an, daß die Sowjets nicht zum Abbau ihrer SS-20-Raketen bereit sind. Ende 1987 verständigten sich Moskau und Washington auf eine Null-Lösung: Die Mittelstrecken-Potentiale in Ost und West werden wieder abgebaut.
Eine Null-Lösung bei Kurzstreckenwaffen aber soll es nicht geben; Amerikaner und Engländer wollen die veralteten Waffen durch völlig neue ersetzen, wie die gerade aktualisierte Fassung einer Geheimstudie des Nato-Oberbefehlshabers John Galvin über die "nuklearen Erfordernisse" belegt: Atombomben sollen durch Abstandsflugkörper mit einigen hundert Kilometern Reichweite ersetzt und die 88 "Lance"-Raketen von neuen Geschossen mit knapp 500 Kilometern Reichweite abgelöst werden. Galvin will zudem die Zahl der Trägerfahrzeuge für Atomwaffen drastisch vermehren. Diese Hochrüstung soll vor allem dem deutschen Publikum dadurch schmackhaft gemacht werden, daß von rund 3000 nuklearen Artillerie-Granaten (Reichweite bis zu 35 Kilometern) nur etwa 65 Prozent bleiben sollen.
Der neue Doppelbeschluß schafft den Christliberalen mehrere Probleme: Mit dem Modernisierungsvotum setzt Kohl nicht nur den Erfolg des für Mitte Juni verabredeten Besuchs des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow aufs Spiel. Er nimmt auch in Kauf, daß die Liberalen in der Koalition aufbegehren. Drei Tage nach Gorbatschows Abreise ist Europawahl-Tag. Und auch der Bundestagswahlkampf 1990 kann leicht zu harten Auseinandersetzungen über Rüstung und Raketen führen.
Kohl aber will seinen neuen Kurs durchsetzen, obwohl Politiker wie der CDU/CSU-Fraktionsvize Volker Rühe gewarnt haben, die Modernisierung zum "Männlichkeitstest" deutscher Wehrbereitschaft hochzureden. Anders als 1979 drängen diesmal nämlich die Sowjets auf Verhandlungen; sie schlagen auch bei Kurzstreckenraketen eine Null-Lösung vor. Gorbatschow und seine Alliierten überraschen überdies seit Wochen die Nato mit Ankündigungen, einseitig Divisionen und Luftwaffengeschwader aufzulösen, Panzer zu verschrotten und Soldaten zu entlassen.
Obendrein gab der Warschauer Pakt letzte Woche seine militärische Geheimniskrämerei auf und präsentierte erstmals konkrete Zahlen über seine Streitkräfte. Verdutzt mußten die westlichen Miilitärs feststellen, daß sie die Russen in einigen Bereichen unterschätzt hatten.
So räumte die Ost-Allianz den Besitz von 59 470 Panzern ein, während die Nato dem Osten nur 51 500 zugeschrieben hatte. Und statt der 1365 taktischen Raketen, die der Westen bisher im Warschauer Pakt vermutet hatte, gibt es laut Ost-Angaben dort mehr als 1600.
Trotz dieser neuen Offenheit mag der deutsche Nato-Generalsekretär Manfred Wörner nicht auf Gorbatschow setzen: "Wir können unsere Sicherheit nicht auf eine Person und Absicht bauen - beide können morgen weg sein."
Und der neue US-Verteidigungsminister John Tower machte den europäischen Bundesgenossen klar, wie der Westen dem Kremlchef am besten begegnen müsse: Unter dem Stichwort "competitive strategies" (Wettlauf-Strategie) solle die Nato ihre knappen Finanzmittel in die Rüstungsbereiche lenken, in denen sie technologisch den Russen jetzt schon überlegen ist. Das werde die Sowjets zwingen, ihr Geld in Abwehrwaffen zu stecken, die den Westen "nicht bedrohen können".
Daß die Sowjet-Union bisher noch jede Angriffswaffe des Westens kopiert hat, wenn auch mit einigen Jahren Verzögerung, stört den neuen Pentagon-Chef nicht. #