„Rücken an Rücken oder Brust an Brust?“
Nach dem Blitzkrieg gegen Frankreich im Sommer 1940 hatten Hitler und seine Generale jeglichen Respekt vor der Sowjet-Union verloren. "Jetzt haben wir gezeigt, wozu wir fähig sind", sagte Hitler zum Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel: "Glauben Sie mir, ein Feldzug gegen Rußland wäre dagegen ein Sandkastenspiel."
Die Rote Armee sei "ein tönerner Koloß ohne Kopf", urteilte Hitler, "nicht mehr als ein Witz", sie müsse "zerlegt und in Paketen abgewürgt werden". Hitler prophezeite: "Wenn man den Koloß erst einmal richtig anpackt, dann bricht er schneller zusammen, als die ganze Welt ahnt."
Der Chef des Generalstabes des Heeres, Generaloberst Franz Halder, war gleicher Meinung - "Man braucht nur einmal mit der Faust hineinhauen, und das Ganze geht in Stücke" -, ebenso der Chef des Wehrmachtführungsstabes, General Alfred Jodl. Der verglich die Rote Armee mit einer "Schweinsblase", die mit einem Stich zum Platzen gebracht werden könne.
Gleich nach dem deutschen Überfall auf die Sowjet-Union brüstete sich Halder: "Es ist wohl nicht zuviel gesagt, wenn ich behaupte, daß der Feldzug gegen Rußland innerhalb von 14 Tagen gewonnen wurde." Er wurde in 1396 Tagen verloren.
Der zögerliche Angriff sowjetischer Truppen gegen das schon von den Deutschen geschlagene Polen im Herbst 1939 und der Winterkrieg gegen das kleine Finnland 1939/40, in dem die Rote Armee nur schwer und unter hohen Verlusten vorankam, der NS-Wahn von der Überlegenheit der "germanischen Herrenrasse" über die "slawischen Untermenschen" (NS-Vokabular) und, vor allem, Stalins Säuberungen in der Roten Armee hatten den dilettierenden Hitler wie die gelernten Strategen vom Generalstab - übrigens ähnlich wie amerikanische und britische Militärs - zu der grandiosen Fehleinschätzung der Roten Armee verleitet.
Drei von vier Flottenbefehlshabern, drei von fünf Sowjetmarschällen (darunter Michail Tuchatschewski und Wassilij Blücher), 13 von 15 Armeeoberbefehlshabern, 60 von 67 Korpskommandeuren, mehr als die Hälfte aller Divisons-, Brigade- und Regimentskommandeure, ungefähr 50 Prozent aller Offiziere waren, 1937/39, als "Feinde des Volkes" oder "Agenten der ausländischen Nachrichtendienste" liquidiert oder verhaftet worden. "Gesäubert" wurden auch das Verteidigungsministerium, der Generalstab und die Militärakademien. Zwei Drittel der kommunistischen Polit-Arbeiter standen auf der Abschußliste, darunter alle 16 Armeekommissare zweiten Ranges.
"In keinem Krieg, auch nicht im Zweiten Weltkrieg, hatte ein Land solche Verluste an hohen und höchsten Offizieren", beklagte nach dem Krieg Sowjet-Generalmajor Pjotr Grigorenko, der nach dem Krieg jahrelang verbannt und in Irrenhäusern eingesperrt war, Stalins blutigen Kahlschlag.
"Also, marsch!" notierte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels Ende Mai 1941 in sein Tagebuch: "Es werden nun sehr aufregende Wochen kommen." Er zitterte "vor Erregung" und konnte "den Augenblick, da der Sturm losbricht, kaum noch abwarten". Und er freute sich: "In Moskau rätselratet man", doch: "Stalin scheint langsam hinter den Dreh zu kommen. Im übrigen aber starrt er immer noch wie das Kaninchen auf die Schlange."
Am 16. Juni 1941 schlich Goebbels, der Geheimhaltung wegen, "durch eine Hintertür" in die Reichskanzlei. Hitler erläuterte ihm "ausführlich die Lage":
Der Angriff auf Rußland beginnt, sobald unser Aufmarsch beendet ist. Das wird im Laufe etwa einer Woche der Fall sein . . . Es wird ein Massenangriff allergrößten Stils. Wohl der gewaltigste, den die Geschichte je gesehen hat. Das Beispiel Napoleons wiederholt sich nicht . . .
Die Russen sind genau an der Grenze massiert, das Beste, was uns überhaupt passieren kann. Wären sie weit verstreut ins Land gezogen, dann stellten sie eine größere Gefahr dar. Sie haben etwa 180 bis 200 Divisionen zur Verfügung, vielleicht auch etwas weniger, jedenfalls ungefähr soviel wie wir. An personellem und materiellem Wert sind sie mit uns überhaupt nicht zu vergleichen . . . Sie werden glatt aufgerollt . . . Wir stehen vor einem Siegeszug ohnegleichen.
Hitler schätzte "die Aktion auf etwa 4 Monate", Goebbels "auf weniger", der Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall Walther von Brauchitsch, auf "4 bis 6 Wochen". "Wir müssen handeln", meinte Hitler: "Moskau will sich aus dem Krieg heraushalten, bis Europa ermüdet und ausgeblutet ist. Dann möchte Stalin handeln, Europa bolschewisieren und sein Regiment antreten." Rußland "würde uns angreifen, wenn wir schwach werden, und dann hätten wir den Zweifrontenkrieg".
War das, was Hitler da sagte, wirklich Stalins Konzept? Jedenfalls entsprach es gänzlich der Analyse, die der Kremlchef 1925 - Hitler hatte gerade "Mein Kampf" verfaßt - vor dem Zentralkomitee der KPdSU vorgetragen hatte:
Bei Verwicklungen in den uns umgebenden Ländern wird sich vor uns unbedingt die Frage unserer Armee, ihrer Macht, ihrer Bereitschaft als lebenswichtige Frage erheben. Das bedeutet nicht, daß wir bei einer solchen Situation unbedingt aktiv gegen irgend jemand auftreten müssen . . .
Sollte aber der Krieg beginnen, so werden wir nicht untätig zusehen können - wir werden auftreten müssen, aber wir werden als letzte auftreten . . . Und wir werden auftreten, um das entscheidende Gewicht in die Waagschale zu werfen, ein Gewicht, das ausschlaggebend sein dürfte.
War das die Lage nach dem Abschluß des deutschsowjetischen Nichtangriffspaktes vom August 1939, der Stalin triumphieren ließ: "Ich habe Hitler hinters Licht geführt"? Leonid Breschnew, damals Parteisekretär für Verteidigung, später Staats- und Parteichef, prahlte vor 400 Parteiagitatoren, die wissen wollten, wie sie den "Leuten die Sache . . . klarmachen" sollten: "Wir werden so lange klarmachen, bis im faschistischen Deutschland kein Stein mehr auf dem anderen steht."
Die "imperialistischen Mächte" schlugen aufeinander ein, wie vorausgesehen. Stalin hatte eine von ihnen, Deutschland, zum Angriff geradezu ermuntert. Die Sowjet-Union kassierte halb Polen, die baltischen Staaten, Bessarabien und die Nordbukowina (von Rumänien). Aber war die Rote Armee, wie Stalin verlangt hatte, "auf alles vorbereitet"?
Eine Stunde nach dem Überfall auf die Sowjet-Union, am 22. Juni 1941, überreichte der deutsche Botschafter in Moskau, Friedrich Werner Graf von der Schulenburg, im Kreml ein Memorandum der Reichsregierung:
Zusammenfassend erklärt . . . die Reichsregierung, daß die Sowjetregierung den von ihr übernommenen Verpflichtungen zuwider . . . mit ihren gesamten Streitkräften an der deutschen Grenze sprungbereit aufmarschiert ist. Damit hat die Sowjetregierung die Verträge mit Deutschland gebrochen und ist im Begriff, Deutschland in seinem Existenzkampf in den Rücken zu fallen. Der Führer hat daher der deutschen Wehrmacht den Befehl erteilt, dieser Bedrohung mit allen zur Verfügung stehenden Machtmitteln entgegenzutreten.
Außenminister Wjatscheslaw Molotow, der den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt und Geheimprotokolle zur Aufteilung Polens, Nordost- und Südosteuropas zwischen der Sowjet-Union und dem Reich unterzeichnet hatte, fragte: "Ist das eine Kriegserklärung?" Als Schulenburg hilflos die Arme hob, sagte Molotow: "Das haben wir nicht verdient."
Hatte die Sowjet-Union das verdient? Zwar war die Rote Armee "an der deutschen Grenze aufmarschiert". Aber war sie, bei Kriegsbeginn, auch "sprungbereit"?
Jahrzehnte haben Historiker die von der Reichsregierung aus naheliegenden Gründen in die Welt gesetzte und, sodann, vom Reichspropagandaministerium in Umlauf gebrachte Behauptung vom Präventivkrieg zurückgewiesen, wonach Deutschland einem drohenden Angriff der Sowjet-Union zuvorgekommen sei. Hitler selbst hatte sich darüber lustig gemacht: "Die Motivierung unserer Schritte vor der Welt muß sich also nach taktischen Gesichtspunkten richten . . . Wir werden also wieder betonen, daß wir gezwungen waren, ein Gebiet zu besetzen, zu ordnen und zu sichern."
Während sich die Zunft über die Schuld am Ersten Weltkrieg noch in den sechziger Jahren erbittert zerstritt - Auslöser war das Buch "Griff nach der Weltmacht" des Hamburger Historikers Fritz Fischer -, gab es keinen Zweifel an der deutschen Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg, den "Rußlandfeldzug" eingeschlossen.
"Hitlers Entschluß zum Krieg im Osten ist völlig unabhängig von den politischen und militärischen Aktionen Stalins . . . zu betrachten", befand - einer für fast alle - Historiker Gerd Ueberschär vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Freiburg.
Die Beweise sind lückenlos: Akten der Reichsregierung, Protokolle über "Führerbesprechungen" mit den Generalen - beginnend schon am 3. Februar 1933, vier Tage nach der "Machtübernahme" -, das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht und des Generalstabschefs des Heeres, Aufmarsch- und Angriffspläne gegen die Sowjet-Union - beginnend im Juli 1940 -, die "Führerweisung" Nr. 21 für die Operation "Barbarossa" (vom 18. Dezember 1940) -, historische Studien, zahlreiche Memoiren und neuerdings die Goebbels-Tagebücher.
Alle Dokumente bestätigen, daß Hitler den imperialistischen "Lebensraum" wie den rassisch-ideologisch fixierten "Vernichtungskrieg" gegen die Sowjet-Union und das "jüdisch-bolschewistische" System vorbereitete und auslöste, den er schon in "Mein Kampf" angekündigt hatte:
Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein. Zur Weltmacht aber braucht es jene Größe, die ihm in der heutigen Zeit die notwendige Bedeutung und seinen Bürgern das Leben gibt . . .
Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.
Was Hitler, beispielsweise, im August 1939 dem Schweizer Völkerbundskommissar für die Freie Stadt Danzig, Carl Jacob Burckhardt, anvertraute, war ernst gemeint und aufrichtig: "Alles, was ich unternehme, ist gegen Rußland gerichtet. Wenn der Westen zu dumm und zu blind ist, um dies zu begreifen, werde ich gezwungen sein, mich mit den Russen zu verständigen, den Westen zu schlagen, und dann, nach seiner Niederlage, mich mit meinen versammelten Kräften gegen die Sowjet-Union zu wenden."
Kommen alle diese bisher als sicher angenommenen Erkenntnisse 48 Jahre nach Beginn des Rußlandkrieges ins Wanken?
Nach einigem Vorgeplänkel in Zeitschriften und Zeitungen läßt das gerade im Klett-Cotta Verlag erschienene Buch von Viktor Suworow "Der Eisbrecher. Hitler in Stalins Kalkül"** eine hitzige Kontroverse unter Fachleuten, Beifall auf der Rechten und Spektakel an Stammtischen erwarten - einen neuen "Historikerstreit", wie ihn vor zwei Jahren die Auschwitzlüge des Berliner Historikers Ernst Nolte ausgelöst hatte, der Auschwitz als eine "asiatische Tat", als nationalsozialistische Reaktion auf die stalinistischen Straflager "Gulag" verständlich machen wollte? "Gulag"-Dichter Alexander Solschenizyn prophezeit: "Die Veröffentlichung dieses Buches wird eine enorme historische Bedeutung haben."
Der Autor, einst sowjetischer Generalstäbler und Geheimdienstoffizier, hält seinen richtigen Namen geheim; Suworow ist ein Pseudonym - nach dem berühmten russischen Feldherrn Alexander Wassiljewitsch Suworow (1729 bis 1800), der sich im Siebenjährigen Krieg unter der Zarin Katharina II. hervorgetan hatte? Die verschleierte Identität und die Tatsache, daß der Autor nunmehr im Dienst des britischen Secret Service steht, werden unweigerlich Anlaß zu Spekulationen geben. Noch vor Erscheinen seines Buches wurde über systematische Desinformation gemunkelt.
Suworow, geboren nach dem Zweiten Weltkrieg, hat, nach eigenen Angaben, zwei militärische Lehranstalten und die Diplomatische Militärakademie in Moskau absolviert. Nach seiner Verwendung im Generalstab soll ihn der militärische Geheimdienst GRU als verkappten Diplomaten an westeuropäische Sowjetbotschaften geschickt haben. Vor zehn Jahren lief er zu den Engländern über, die ihm politisches Asyl gewährten, vor ihren Karren spannten und den Emigranten, den ein sowjetisches Gericht zum Tode verurteilt hat, fortan rund um die Uhr bewachten.
Der Autor war, wie alle Forscher, die sich mit der sowjetischen Geschichte befassen, auf veröffentlichte Publikationen angewiesen. Die Dokumente, Protokolle, Befehle und dergleichen, lagern in unzugänglichen Archiven. Aber die Memoiren sowjetischer Generale und die "Militärhistorische Zeitschrift", das offizielle, mithin zensierte Organ des sowjetischen Verteidigungsministeriums, geben doch einigen Aufschluß.
Die sowjetische Debatte, die im Zuge der Entstalinisierung allmählich in Gang gekommen ist, dreht sich vor allem um die schier unbegreifliche Tatsache, daß die Rote Armee bei Kriegsbeginn völlig überrumpelt wurde.
Suworow behauptet:
"Als die Faschisten an die Macht gelangt waren, hat Stalin sie beharrlich und nachdrücklich in den Krieg gehetzt. Den Gipfel dieser Bemühungen stellt der Molotow-Ribbentrop-Pakt dar. Mit diesem Pakt garantierte Stalin Hitler Handlungsfreiheit in Europa und öffnete im Grunde genommen die Schleusen für den Zweiten Weltkrieg.
Es gibt mehrere Hinweise, daß der Termin für die sowjetische Operation ,Gewitter' (Suworow meint damit den Angriff auf Deutschland. -Red.) auf den 6. Juli 1941 festgesetzt war.
Am 22. Juni 1941 hat Hitler den sowjetischen Kriegsplan vereitelt . . . Hitler hat den sowjetischen Führern nicht erlaubt, ihren Krieg so zu führen, wie sie das vorgesehen hatten."
Bei Kriegsbeginn im Osten standen sich in der Tat zwei militärische Giganten gegenüber - "Rücken an Rücken oder Brust an Brust?", wie sich Hitler schon mal fragte. Die Wehrmacht hatte 3,6 Millionen Mann aufgeboten (darunter 600 000 verbündete Rumänen, Ungarn und Finnen), die Rote Armee 2,9 Millionen (weitere rund 1,3 Millionen standen im Hinterland). Die Sowjets verfügten über 14 000 bis 15 000 Panzer, 35 000 Geschütze und 8000 bis 9000 Kampfflugzeuge gegenüber 3648 Panzern, 7146 Geschützen und 2510 Kampfflugzeugen auf deutscher Seite*.
Die Rote Armee war aufmarschiert wie die deutsche Wehrmacht - die sich zum Angriff bereit gestellt hatte - unmittelbar an der Grenze, "ohne Rücksicht auf deren für eine Verteidigung denkbar ungünstigen Verlauf", heißt es sogar in der sowjet-amtlichen "Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges": "Selbst . . . der Sicherungsstreifen war in vielen Frontabschnitten nicht ausgebaut."
Die Sowjets nutzten nicht die Weite des Raumes, die Napoleon einst zum Verhängnis geworden war und in der sich auch Hitler totlaufen sollte.
Die "Stalin-Linie" entlang der alten Staatsgrenze, ein mächtiges Bollwerk von der Ostsee bis ans Schwarze Meer, mit panzerbewehrten Gefechtsanlagen, Pioniersperren aus Stahlbeton, unterirdischen Lagern und Lazaretten, wurde nach dem Überfall der Roten Armee auf Polen demontiert, die Bunker wurden zum Teil zerstört oder Kolchosenbauern überlassen.
Die Sowjets hatten keine Eile, die geplante "Molotow-Linie" entlang der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie zu befestigen, obgleich dafür unzählige "Gulag"-Strafgefangene zur Verfügung gestanden hätten, die in Einheiten des sowjetischen Geheimdienstes NKWD zusammengefaßt worden waren. Die Gefechtsstellungen waren weder durch Sperranlagen noch durch Minenfelder geschützt.
"Minen sind eine Sache von beeindruckender Wirkung, aber sie sind ein Instrument für die Schwachen, für diejenigen, die sich verteidigen", befand Sowjet-Marschall Grigorij Kulik im Juni 1941: "Wir haben nicht so sehr Minen nötig als vielmehr Instrumente zum Entminen."
Ex-Generalstäbler Suworow erläutert: "Truppen, die sich auf eine Verteidigung vorbereiten, graben sich ein, das ist eine unumstößliche Regel . . . versperren zunächst die Räume, über die der Gegner seinen Angriff vortragen wird, sie riegeln die Verkehrswege ab, errichten Stacheldrahtverhaue, heben Panzergräben aus, errichten Verteidigungsanlagen und Deckungen hinter den Wasserhindernissen. Doch die Rote Armee tat nichts dergleichen."
Das bestätigte auch Generalmajor Grigorenko: "Bei Kriegsausbruch waren die Befestigungen nicht fertig. Somit gab es auf dem Wege des wahrscheinlichen Vorstoßes des Feindes keine rechtzeitig vorbereitete Verteidigungslinie."
Sechs sowjetische Armeen und sieben mechanisierte Armeekorps, eine gewaltige Streitmacht mit rund 550 000 Mann und rund 7000 Panzern (Sollstärken), fast doppelt so viele, wie die Wehrmacht insgesamt besaß, massierten sich in den beiden Frontbögen von Bialystok und Lemberg; wie Balkone sprangen sie weit nach Westen vor. Befehlshaber dieser Truppen war Armeegeneral Dimitrij Pawlow, ein Fachmann für den "Einsatz mechanisierter Verbände in modernen Angriffsoperationen".
"Ich glaube, daß kein Soldat diesen Aufmarsch als einen Defensivaufmarsch . . . charakterisieren kann", urteilte der einstige Generalstabschef Halder nach dem Krieg bei einer Vernehmung durch einen amerikanischen Untersuchungsrichter. Halder:
Die Skizze zeigt eine ausgesprochen starke Massierung der russischen Kräfte in diesen nach Westen vorspringenden Bereichen ("balkonartig, etwa bei Bialystok und Lemberg"). Keine zur Verteidigung gegliederte Truppe wird sich derartig in einem in den Feind hinein reichenden Bereich massieren, wo die Gefahr, umfaßt und abgeschnitten zu werden, ganz besonders groß ist . . .
Ferner ist charakteristisch, daß gerade in diesen nach Westen ausladenden Bereichen die Masse der russischen Kavallerieverbände versammelt ist. Das ist nur erklärbar aus der Absicht, aus diesem Balkon abzuspringen nach Westen und die Kavallerie sofort nach vorne in Bewegung zu setzen. Zur Verteidigung wird kein Mensch Kavallerieverbände in dieser Masse in die vorderste Linie legen.
Es ist ferner charakteristisch, daß die schnelleren Verbände auch wieder in die Nähe dieses . . . Bereiches sehr nahe an die Front herangehalten sind. In der Verteidigung hält man die motorisierten Verbände weit zurück, um sie an der Stelle dann einzusetzen, wo Krisen entstehen.
Es kommt noch etwas hinzu . . . daß die Russen in diesem Bereich sehr starke Neuanlagen an Flughäfen vorgenommen hatten und diese auffallend grenznahe anlegten.
Grigorenko stellte, ebenfalls nach dem Kriege, ähnliche Überlegungen an:
Solche Verteilung wäre nur in einem Fall begründet, dann nämlich, wenn diese Truppen für eine Überraschungsoffensive bestimmt wären. Beim gegnerischen Angriff waren diese Truppen schon bald umfaßt. Der Gegner brauchte nur kurze Schläge an der Basis unseres Keils auszuführen, und die Umfassung war vollständig. Das bedeutet, daß wir unsere Truppen selbst in einen Kessel hineingezwängt haben.
"Ein unvorstellbares Chaos ist über die Sowjetarmeen hereingebrochen", meldete das Oberkommando der Wehrmacht am 2. Juli 1941: "Mehr und mehr ist zu übersehen, daß die Vernichtungsschlacht ostwärts von Bialystok eine Entscheidung von weltgeschichtlichen Ausmaßen gebracht hat." Bis zum 11. Juli wurden dort, laut OKW-Bericht, 323 898 Gefangene gemacht, 3332 Panzer und 1809 Geschütze erbeutet oder vernichtet.
Daß auch Suworow die Frontbögen als schlagende Beweise für sowjetische Angriffsplanungen wertet, versteht sich von selbst. Allerdings unterläßt er es, die gravierenden Indizien auf dem Hintergrund der sowjetischen Militärtheorie zu überprüfen, der Theorie von der "beweglichen" - offensiven - Verteidigung. In der sowjetischen Felddienstvorschrift von 1939 heißt es:
Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken wird jeden feindlichen Angriff mit einem vernichtenden Schlag der ganzen Macht ihrer Streitkräfte beantworten . . .
Zwingt uns der Feind den Krieg auf, dann wird die Rote Armee die offensivste aller Armeen sein. Wir werden den Krieg offensiv führen und ihn auf das Territorium des Gegners tragen.
Suworows Version, die er einem Kapitel seines Buches als Motto voranstellt, liest sich so: "Die Rote Arbeiter- und Bauernarmee wird die aggressivste von allen jemals dagewesenen Offensivarmeen sein." Der Halbsatz: "Zwingt uns der Feind den Krieg auf . . ." kommt bei ihm nicht vor.
Zwar war es längst in Übung gekommen, jeglichen Krieg, gerade einen Angriffskrieg, als Verteidigungskrieg zu kaschieren, und die Sowjet-Union, der sogenannte Befreiungskriege ins weltrevolutionäre Konzept paßten, hätte dabei sicher keine Ausnahme gemacht. Noch 1980 hieß es in der Moskauer Zeitschrift "Der Kommunist in den Streitkräften", die "sozialistische Armee" sei "nicht nur eine Waffe zur Verteidigung des sozialistischen Heims", sondern auch geeignet, "dem Proletariat . . . in seinem Kampf mit dem Imperialismus entscheidende Hilfe zu erweisen".
Zwar ergibt sich aus dem totalen Zusammenbruch der Roten Armee bei Kriegsausbruch, daß sie auf Verteidigung nicht oder auf eine unbegreiflich fehlerhafte Weise vorbereitet war. Sowjetmarschall Iwan Bagramjam räumte nach dem Desaster ein: "Wir hatten vor dem Krieg . . . hauptsächlich gelernt, anzugreifen. Einem so wichtigen Manöver wie dem Rückzug hatten wir nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt mußten wir dafür Lehrgeld zahlen."
Aber: Nichtsdestoweniger bleibt, trotz aller Indizien, die sowjetische Angriffsabsicht unbewiesen, bis Dokumente vorliegen, die den politischen Willen des Kreml zum Angriffskrieg eindeutig belegen. Doch selbst dann kann an dem offenbaren Faktum nicht gerüttelt werden, daß die Deutschen am 22. Juni 1941 angegriffen haben - wie geplant, und nicht etwa, um einem sowjetischen Schlag zuvorzukommen.
Die Konzentration sowjetischer Truppen, darunter Offensiv-Streitkräfte wie Gebirgsjäger, Luftlandeeinheiten, Fallschirmjäger und Kavallerie, und die Aufmarschgliederung der Roten Armee entlang der sowjetischen Westgrenze (mitten durch Polen), gegenüber Rumänien, das die deutsche Kriegsmaschine mit dem kriegswichtigen Öl versorgte, und Finnland, dem Sperriegel an der Ostsee und wichtigsten Nickellieferanten, lassen, behauptet Suworow, an sowjetischer Angriffsplanung keinerlei Zweifel. Für dieses Urteil reichen ihm militärtechnische und militärisch-operative Fakten.
"Was blieb Hitler übrig?" fragt der Autor: "Sollte er geduldig warten, bis ihn Stalins Axt im Nacken traf?" Der Überläufer, vom Antikommunismus offenbar benommen, begreift nicht, "warum man Hitler" - angeblich Stalins "Eisbrecher der Revolution" - "für einen Aggressor hält, Stalin dagegen für ein Opfer". Sein Fazit ist mehr gewagte Interpretation als Dokumentation. Er reiht militärisches Indiz an Indiz, den Beweis aber bleibt er schuldig. Es fehlt, sozusagen, das Geständnis.
Suworow berichtet über Ausrüstung und Bewaffnung der Roten Armee, über Einsatzgrundsätze und Manöverlagen, die Dislozierung von Großverbänden und Neuaufstellung bestimmter Spezialeinheiten. Den politischen Willen des Kreml setzt Suworow voraus. Die Expansionsgelüste und militärischen Planungen des Gegners, Deutschlands, und die aberwitzigen Einfälle Hitlers läßt er völlig außer Betracht.
Um den politischen Willen der Sowjets zum Angriff zu belegen, wird vielfach, so auch von Suworow, eine 40-Minuten-Rede Stalins herangezogen, die er am 5. Mai 1941 auf einem Bankett im Kreml vor Absolventen der Militärakademien gehalten hat. Über diese Geheimrede kursieren verschiedene, einander kaum widersprechende, wohl aber ergänzende Versionen. Eine stammt von dem britischen Journalisten Alexander Werth, einem Rußlandkenner, der sich auf "mündliche russische Quellen" beruft. Danach soll Stalin gesagt haben:
Die Rote Armee sei noch nicht stark genug, um die Deutschen ohne weiteres schlagen zu können. Die Sowjetregierung wolle daher mit allen ihr zur Verfügung stehenden diplomatischen Mitteln versuchen, einen bewaffneten Konflikt zumindest bis zum Herbst hinauszuzögern, weil es um die Jahreszeit für einen deutschen Angriff zu spät sein werde.
Dieser Versuch könne gelingen, aber auch fehlschlagen. "Wenn er gelingt, wird der Krieg mit Deutschland fast unvermeidlich im Jahre 1942 stattfinden, und zwar unter viel günstigeren Bedingungen . . . Je nach der internationalen Situation wird die Rote Armee einen deutschen Angriff abwarten oder aber selbst die Initiative ergreifen, da eine dauernde Vorherrschaft Nazi-Deutschlands in Europa "nicht normal" sei.
Gustav Hilger, bis Kriegsausbruch Botschaftsrat an der Deutschen Botschaft in Moskau, der, wie sein Missionschef, Graf Schulenburg, bestrebt war, den deutsch-sowjetischen Konflikt abzuwenden, verhörte während des Krieges drei höhere, in deutsche Gefangenschaft geratene sowjetische Offiziere, die Stalins Rede im Kremlpalast gehört hatten. "Für die Richtigkeit der Aussage der Offiziere spricht die Tatsache", hob Hilger hervor, "daß ihre Schilderungen fast wörtlich übereinstimmten, obwohl sie keine Gelegenheit gehabt hatten, sich miteinander zu verständigen":
Nach diesen Mitteilungen habe der Leiter der Kriegsakademie der UdSSR, Generalleutnant Chosin, einen Toast auf die Friedenspolitik der Sowjet-Union ausbringen wollen, worauf Stalin scharf ablehnend reagierte, indem er sagte, daß mit dieser Defensivlosung jetzt Schluß gemacht werden müsse, weil sie überholt sei. Zwar sei es der Sowjet-Union gelungen, unter dieser Parole die Grenzen der Sowjet-Union im Norden und Westen weit vorzuschieben und ihre Bevölkerungszahl um 13 Millionen zu vergrößern. Damit könne man aber keinen Fußbreit Boden mehr gewinnen.
Die Rote Armee müsse sich an den Gedanken gewöhnen, daß die Ära der Friedenspolitik zu Ende und die Ära einer gewaltsamen Ausbreitung der sozialistischen Front angebrochen sei. Wer die Notwendigkeit eines offensiven Vorgehens nicht anerkenne, sei ein Spießbürger und ein Narr. Auch müsse mit Lobpreisungen der deutschen Armee endlich Schluß gemacht werden.
Der Inhalt der Stalin-Rede soll, laut Suworow, allen Generalen und Obersten der Roten Armee mitgeteilt worden sein. Jedenfalls berichtete der sowjetische Generalmajor B. Tramm 1980 in der Moskauer "Militärhistorischen Zeitschrift": "Mitte Mai 1941 versammelte der Vorsitzende des Zentralrates der Gesellschaft zur Förderung der Verteidigung . . . Generalmajor der Luftstreitkräfte P. P. Kobelew, den Führungsstab des Zentralrats und machte uns mit den Hauptthesen der Rede von I. W. Stalin . . . bekannt."
Als Suworow 1985 und 1986 erste Ergebnisse und vermeintliche Erkenntnisse seiner Arbeit in einer britischen Fachzeitschrift - dem "Journal of the Royal United Services Institute for Defence Studies" ("RUSI") - veröffentlichte, begann in der Bundesrepublik eine neue Kriegsschulddebatte. Joachim Hoffmann, beamteter Historiker und Wissenschaftlicher Direktor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt, das dem Bundesverteidigungsministerium untersteht, brachte sie auf Touren. In einem "RUSI"-Leserbrief schrieb er: "Ich kann Suworows Darstellung von der strategischen Bedrohung durch die Sowjet-Union bestätigen." Abweichender Meinung war er in der Terminfrage, nämlich, ob Stalin schon 1941, wie Suworow meint, oder erst 1942 angreifen wollte.
In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ("FAZ") präzisierte Hoffmann: "Alle diese Maßnahmen lassen zweifelsfrei erkennen, daß es Stalin eben gerade nicht um die Vorbereitung zu einem Verteidigungskrieg zu tun war", und er folgerte, daß "im Sommer 1941 der eine Aggressor, Hitler, die letzte Gelegenheit hatte, dem anderen Aggressor zuvorzukommen".
Schon zuvor hatte Hoffmann im Militärgeschichtlichen Forschungsamt für internen Eklat gesorgt. Bei der Abfassung des vierten Bandes ("Der Angriff auf die Sowjetunion") des insgesamt zehnbändigen Standardwerks "Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg" wehrten sich Amtskollegen vehement gegen dessen Präventivkriegsthese. Wolfram Wette hält sie für einen Versuch, "der Last der deutschen Vergangenheit zu entfliehen" und dem "politischen Bewußtsein der Deutschen . . . eine traditionsreiche Feindbild-Orientierung zu bieten". Kollege Ueberschär urteilt: "Die politischen Thesen von Dr. Hoffmann sind in der Forschung singulär."
Auch die konservative "FAZ", die schon im "Historikerstreit" patriotische Positionen bezogen hatte, nahm sich der Präventivkriegsthese an. Mit dem Aufsatz "Der Krieg der Diktatoren" leitete Redakteur Günther Gillessen, auch Journalistik-Professor in Mainz, eine Leserbrief-Diskussion ein, die auf andere Publikationen übersprang und, so Hoffmann zum SPIEGEL, "geradezu als Nebenkriegsschauplatz des Historikerstreits eingestuft" werden könne.
"FAZ"-Gillessen fragte, als hätte er den 22. Juni 1941 verpaßt: "Wer wollte wen im Jahre 1941 überfallen, Hitler Stalin oder Stalin Hitler?", und er befand: "Die Hypothese, Stalin hätte Hitler wenig später angegriffen, wenn er nicht von diesem angegriffen worden wäre, hat . . . Plausibilität gewonnen." Zwar nennt der Autor Hitler einen Angreifer und den deutschen Angriff auf die Sowjet-Union einen Angriff, aber, hintenherum, kommt doch die Präventivkriegsthese zum Vorschein: "Hitlers Überfall gab Stalin die Möglichkeit", schrieb Gillessen, "den Krieg . . . als Krieg der Verteidigung Rußlands, als großen vaterländischen Krieg, darzustellen."
"FAZ"mäßig wird spekuliert: "Spätere sowjetische Führungen suchten die schweren Verluste an Leben und Zerstörungen an Gut, die (der Krieg) brachte, in eine besondere Friedensschuld der Deutschen gegenüber der Sowjet-Union umzumünzen und außenpolitisch-propagandistisch zu operationalisieren. Die Fortsetzung fiele nicht mehr so leicht, wenn sich mehr Klarheit über die Vorgänge der Jahre 1940/41 gewinnen ließe."
Klarheit über jene Jahre hat die historische Forschung längst erbracht:
Ende Juli 1940, nach dem Sieg über Frankreich, beauftragte Hitler die Militärs, über eine Operation gegen die Sowjet-Union (Deckname: "Fritz", später "Barbarossa") "nachzudenken" - womit sie, längst in Kenntnis von Hitlers Grundintentionen, bereits begonnen hatten.
Schon am 3. Juli 1940 hatte Generalstabschef Halder seine Operationsabteilung mit der Prüfung beauftragt, "wie ein militärischer Schlag gegen Rußland zu führen ist, um ihm die Anerkennung der beherrschenden Rolle Deutschlands in Europa abzunötigen".
Am 31. Juli 1940 notierte der Generaloberst Hitlers "Entschluß": "Im Zuge dieser Auseinandersetzung muß Rußland erledigt werden. Frühjahr 1941. Je schneller wir Rußland zerschlagen, um so besser." Kriegsziel: "Vernichtung der Lebenskraft Rußlands."
Von sowjetischer Bedrohung konnte derzeit nicht die Rede sein und war es auch nicht - wohl aber von einem "überraschenden Überfall auf Sowjetrußland" (General Jodl am 29. Juli 1940). Hitler meinte, "daß die Russen in 100 Jahren nicht angreifen". Halder befand: "Es liegen keine Anzeichen für russische Absichten uns gegenüber vor." Generalmajor Erich Marcks bedauerte in einer Studie für den Generalstab des Heeres gar, daß die "Russen uns nicht den Liebesdienst eines Angriffs erweisen werden".
Immer mehr schwand jedoch die Illusion, England würde, ungeschlagen, aufgeben. Kriegspremier Winston Churchill verkündete, während das verbündete Frankreich schon einer Niederlage entgegen ging: "Krieg bis zum Sieg." Ebenso schwand, endgültig nach der verlorenen Luftschlacht über England, die Hoffnung, "Seelöwe", die nur halbherzig vorbereitete Invasion der britischen Insel, würde das Weltreich in die Knie zwingen.
Scheinbar auf dem Höhepunkt seiner Macht, geriet Hitler in die Bredouille. Sein programmatisches Hirngespinst, mit den Engländern, den vermeintlichen germanischen Waffenbrüdern, über Rußland herzufallen, wich der scheinbar pragmatischen Spekulation, erst die Sowjet-Union zu "erledigen", sodann, den Rücken frei und mit Kriegsmaterial wie Rohstoffen reichlich versorgt, England zu besiegen, bevor die USA in den Krieg eintreten würden. Hitler: "Ist . . . Rußland zerschlagen, dann ist Englands letzte Hoffnung getilgt."
Mitte November 1940 erschien der sowjetische Außenminister Molotow (damals auch Regierungschef) in Berlin und präsentierte neue, weitgehende Forderungen: freie Durchfahrt aus der Ostsee ("Großer Belt, Kleiner Belt, Sund, Kattegat, Skagerrak"); Stützpunkte an den türkischen Meerengen; "Interesse" --- S.161 an Rumänien, Ungarn, Jugoslawien und Griechenland. Die Lage schien günstig für eine offensive sowjetische Außenpolitik, und der Kreml wollte sie nutzen.
Hitler hatte sie förmlich dazu eingeladen, eine potentielle Bedrohung selber heraufbeschworen, als er 1939 mit den Russen Kippe machte - um "den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben" -, Polen mit ihnen teilte, ihnen die baltischen Staaten vor die Flinte trieb und Finnland als sowjetische Interessensphäre anerkannte.
"Wir haben viele Erfolge gehabt, aber wir beabsichtigen nicht, uns mit dem zufriedenzugeben, was wir erreicht haben", hatte Molotow schon im August 1940 vor dem Obersten Sowjet geäußert: "Wir werden neue und noch glorreichere Erfolge für die Sowjet-Union erzielen."
Von Hitlers Beschwörungen, England liege praktisch schon am Boden, hielt Molotow nichts; im Luftschutzkeller mit Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop spottete er darüber. Ebensowenig lockte ihn Hitlers großzügiges Angebot, das Erbe des britischen Weltreichs zwischen Deutschland und der Sowjet-Union aufzuteilen. Auf Hitlers Versuch, die Sowjets nach Süden abzudrängen, Richtung Persischer Golf und Indien, ging Molotow nicht ein. Die Moskauer Expansionspolitik blieb auf zaristischem Kurs, Richtung Meerengen und Balkan.
Doch, was soll's? Für Hitler war das Gipfeltreffen mit Molotow nur eine Farce. "Gleichgültig, welches Ergebnis diese Besprechungen haben werden", tat er schon vor Molotows Eintreffen kund, "sind alle schon mündlich befohlenen Vorbereitungen für den Osten fortzuführen. Weisungen darüber werden folgen, sobald die Grundzüge des Operationsplanes des Heeres mir vorgetragen und von mir gebilligt worden sind."
Einen Monat später, am 18. Dezember 1940, erging die "Führer"-Weisung Nr. 21: "Die deutsche Wehrmacht muß darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen."
Die militärische Lage schien immer noch günstig. Vor dem Oberkommando der Wehrmacht urteilte Hitler: "Wir haben im Frühjahr einen sichtlichen Höchststand in Führung, Material, Truppe, die Russen einen unverkennbaren Tiefstand." - "Der russische Mensch ist minderwertig, die Armee führerlos." - "Waffenmäßig" sei der "Russe unterlegen . . . die Masse der russischen Panzer schlecht gepanzert".
Aber es gab im Frühjahr auch Warnungen vor sowjetischer Bedrohung. Die militärische Feindaufklärung, Fremde Heere Ost, hatte die Konzentration der Roten Armee exakt ausgekundschaftet. Das Oberkommando der Wehrmacht beobachte "seit Monaten mit ständig wachsender Besorgnis die Entwicklung, die der Aufmarsch russischer Streitkräfte entlang der deutschen Ostgrenze nimmt", hieß es Mitte Mai 1941 in einem Bericht an das Auswärtige Amt:
Das Oberkommando der Wehrmacht ist durch diese Tatsachen . . . zu der Überzeugung gekommen, daß dieses, einer Mobilmachung praktisch gleichkommende Maß des russischen Aufmarsches . . . nur noch als Vorbereitung für russische Offensivmaßnahmen größten Umfanges gedeutet werden kann. Die Gefahr eines bewaffneten Konfliktes rückt daher in bedrohliche Nähe.
Generalstabschef Halder hingegen bezeichnete noch am 4. Juni den Aufmarsch der Roten Armee als defensiv. Eine "Großoffensive" sei "wenig wahrscheinlich", davon auszugehen "Unsinn".
In Rußland "regieren Männer mit Vernunft", lautete Hitlers Lageeinschätzung; Stalin, "der Herr Rußlands", sei "ein kluger Kopf"; er werde "nicht offen gegen Deutschland auftreten". Man müsse aber damit rechnen, daß er in für Deutschland schwierigen Situationen in wachsendem Maße Schwierigkeiten machen werde. Auch Hitler schloß nicht aus, eines ferneren Tages "plötzlich politisch kalt erpreßt oder angegriffen zu werden" - jedoch erst "ab Herbst 1942". Einstweilen sorgte sich Hitler, jemand könnte ihm, wie der italienische Duce in der "Sudetenkrise" 1938, mit einem Verhandlungsangebot die Tour vermasseln.
Im Frühjahr 1941 waren deutsche Truppen in Finnland eingesickert, in Rumänien und Bulgarien einmarschiert, hatten Jugoslawien im Handstreich niedergeworfen - mit dem die Sowjets gerade einen Freundschaftsvertrag geschlossen hatten -, schließlich kamen sie den Italienern zu Hilfe, die Griechenland angegriffen hatten, aber nicht vorankamen. Hitler hatte sich die Nickel-Vorkommen in Finnland und die Ölquellen in Rumänien gesichert, die er zunehmend dem sowjetischen Zugriff ausgesetzt sah. Zugleich hatte er das Angriffsglacis gegen die Sowjets besetzt.
In dieser heiklen Situation ging die Sowjetregierung auf Appeasement-Kurs. Weil sie den Krieg mit Deutschland unbedingt vermeiden wollte oder weil der eigene Aufmarsch noch nicht abgeschlossen war? Der Georgier Stalin handelte, meinte der ehemalige rumänische Außenminister Grigore Gafencu, nach einem georgischen Sprichwort - "seinen Gegner umarmen, um nicht von ihm erwürgt zu werden".
Am Tag der Eroberung Belgrads durch die deutschen Aggressoren erschien Stalin, am 13. April, in Moskau zur Verabschiedung des japanischen Außenministers, Yosuke Matsuoka, auf dem Bahnhof, was, bei ähnlichen Anlässen, noch nie dagewesen war. Demonstrativ umarmte er den deutschen Botschafter und den stellvertretenden Militärattache, Oberst Hans Krebs, und sagte: "Wir werden Freunde bleiben, und dafür müssen Sie jetzt alles tun."
Die Öl-, Rohstoff- und Getreidelieferungen, die im ersten Quartal ins Stocken geraten waren, stiegen sprunghaft an. Buchstäblich bis zum Tag des Kriegsbeginns blieben sie auf Höchststand.
Am 6. Mai machte sich Stalin - anstelle Molotows - zum Regierungschef. Während einige Historiker diesen Vorgang als deutschfreundliche Geste werteten, sieht Suworow darin Stalins Absicht, den "Befreiungsfeldzug" gegen die Deutschen auch offiziell selber zu führen, um den Lorbeer zu ernten.
Drei Tage später folgte eine weitere Appeasement-Geste. Die Sowjetregierung schloß die Moskauer Botschaften Norwegens, Belgiens, Griechenlands und des verbündeten Jugoslawien. Begründung: Diese von den Deutschen besetzten Länder seien keine souveränen Staaten mehr.
Am 13. Juni veröffentlichte die sowjetische Nachrichtenagentur Tass eine sensationelle, von Stalin selber verfaßte Erklärung zu "Gerüchten . . . über einen nahe bevorstehenden Krieg zwischen der UdSSR und Deutschland". Die Gerüchte besagten, laut Tass:
Deutschland habe territoriale und wirtschaftliche Forderungen an die Sowjet-Union gestellt, über die gegenwärtig verhandelt würde, um ein "neues, engeres Übereinkommen" zu erreichen;
die Sowjet-Union habe die Forderungen abgelehnt, was Deutschland veranlaßt habe, "seine Truppen an den Grenzen der Sowjet-Union zu konzentrieren, um die Sowjet-Union zu überfallen";
die Sowjet-Union habe "angeblich ihrerseits begonnen, sich intensiv auf einen Krieg mit Deutschland vorzubereiten, und ihre Truppen an den Grenzen Deutschlands konzentriert".
Dazu erklärte Tass:
Deutschland habe keinerlei Forderungen an die Sowjet-Union gerichtet;
Gerüchte über die Absicht Deutschlands, den Nichtangriffspakt mit der Sowjet-Union zu brechen und "einen Angriff auf die Sowjet-Union zu unternehmen" seien "völlig grundlos";
alle Gerüchte darüber, daß die "Sowjet-Union einen Krieg mit Deutschland vorbereitet", seien "erlogen und provokatorisch";
die Einberufungen von Reservisten und die bevorstehenden Manöver dienten der "Schulung der Reservisten" und der "Kontrolle der Arbeit des Eisenbahnapparates"; es sei "zum mindesten albern, diese Maßnahmen der Roten Armee als feindselige Aktion gegenüber Deutschland hinzustellen".
Suworow interpretiert die Tass-Erklärung als großangelegtes Täuschungsmanöver, um Zeit für den eigenen Angriff zu gewinnen. "Bei jedem grandiosen Prozeß gibt es einen kritischen Moment, von dem an die Ereignisse einen irreversiblen Charakter annehmen", konstatiert der Autor; dieser Zeitpunkt sei nun gekommen: "Nach diesem Tag war der Krieg für die Sowjet-Union völlig unvermeidlich, und zwar mußte er im Sommer 1941 beginnen, ganz unabhängig davon, was Hitler unternehmen würde."
Suworow sieht in dem Umstand, daß die Rote Armee keinerlei Vorsorge für den kommenden Winter getroffen hatte, den Point of no return. Es gab in den westlichen Grenzbezirken kaum feste Quartiere; die Masse der Roten Armee kampierte in Zelten oder in provisorischen Unterkünften in den Wäldern. Ein Zurück habe es nicht mehr gegeben. Das an sich brüchige Transportsystem wäre vollends zusammengebrochen.
Hitler hingegen kommentierte die Tass-Meldung in ungebrochener Angriffslust und Siegeszuversicht als "Ausgeburt der Angst", wie Goebbels in sein Tagebuch schrieb: "Stalin zittert vor den kommenden Dingen."
Womöglich trifft Gafencu den Kern des "merkwürdigsten aller Communiques" - es sage, meinte er nach dem Krieg, "sehr wohl, was es sagen wollte":
Stalin wollte den Deutschen formelle Zusicherungen geben, um ihnen jeden Vorwand zum Angriff zu nehmen . . . Er wollte ihnen zeigen, daß er über ihre Vorbereitungen längs der Grenzen unterrichtet sei und sich nicht über ihr Treiben täusche; zur gleichen Zeit aber, da er ihnen die Erklärungen bot, die er gern selbst von ihnen haben wollte, legte er ihnen nahe, wie man sich verständigen könnte.
Noch am Abend vor Kriegsbeginn bat Molotow den deutschen Botschafter in den Kreml; von der Schulenburg, der die deutsche "Kriegserklärung" schon in seinem Safe verwahrte, berichtete dem Auswärtigen Amt über Molotows Vorhalte:
Eine Reihe von Anzeichen erwecken den Eindruck, daß die deutsche Regierung unzufrieden mit der Sowjetregierung sei. Es seien sogar Gerüchte im Umlauf, daß sich ein Krieg zwischen Deutschland und der Sowjet-Union vorbereitet . . . Die Sowjetregierung könne sich die Ursache der deutschen Unzufriedenheit nicht erklären . . . Er wäre dankbar, wenn ich ihm sagen könnte, welche Gründe die gegenwärtige Lage des deutsch-sowjetrussischen Verhältnisses hervorgerufen hätten.
Als die deutschen Truppen am 22. Juni 1941, um 3.30 Uhr, die Sowjet-Union überfielen, zögerte Stalin mit dem Schießbefehl. Er glaubte, wie Nikita Chruschtschow 1956 in seiner Entstalinisierungsrede enthüllte, an eine "Provokation seitens einiger undisziplinierter Einheiten der deutschen Armee". Stalin hatte sich zu seiner Datscha, außerhalb Moskaus, fahren lassen und sich schlafen gelegt.
Trotz aller Warnungen, insgesamt ein halbes Hundert, von Staatsmännern wie Winston Churchill, Agenten wie Richard Sorge und Rudolf Rößler, und Widerstandsgruppen wie der "Roten Kapelle", hielt er einen deutschen Angriff, solange das von den Amerikanern unterstützte England nicht geschlagen war, für absolut ausgeschlossen. "Nur ein Narr riskiert einen Zweifrontenkrieg", beharrte Stalin - womit er recht hatte.
Erst am späten Abend, die Deutschen waren schon 15 bis 20 Kilometer tief in die Sowjet-Union eingedrungen, erteilte Stalin die "Weisung Nr. 3". Sie sah, so der sowjetische Generalstabschef Georgij Schukow, "den Übergang unserer Truppen zu Gegenoffensivhandlungen vor, mit der Aufgabe, den Feind an den wichtigsten Abschnitten zu zerschlagen und auf sein Gebiet vorzustoßen", wie es die sowjetische - nach Lage der Dinge eisgraue - Militärtheorie befahl.
"Natürlich besaßen wir ausführliche Pläne und Anweisungen für das, was am Tag ,M' zu geschehen hatte", kommentierte Sowjet-Generalmajor M. Grezow 1965 in der Moskauer "Militärhistorischen Zeitschrift": "Aber leider war nichts darüber gesagt, was zu geschehen hatte, falls der Gegner plötzlich zum Angriff übergehen sollte."
Die Rote Armee erlebte ein Cannae. Sie wurde "auf der ganzen Linie überrascht", schrieb Halder am 22. Juni 1941 in sein Kriegstagebuch. In den größten Kesselschlachten wirklich aller Zeiten verlor sie in den ersten drei Kriegswochen, laut OKW-Bericht, 400 000 Soldaten, 7615 Panzer, 4423 Geschütze und 6233 Flugzeuge.
Nach dem Krieg nannte Generalmajor Grigorenko in seinem in den Westen geschmuggelten Buch "Der sowjetische Zusammenbruch 1941" die Ursachen für das unbeschreibliche Desaster: "Wir haben alles getan, was unsere Verteidigung geschwächt hat, und alles vernachlässigt, was sie gestärkt hätte." #