„Computer am Dienstag, Chaos am Mittwoch“
Steffen Uhlmann war bis Anfang 1989 Wirtschaftsredakteur der "Neuen Berliner Illustrierten" in Ost-Berlin. Der studierte Journalist und Außenwirtschaftler, 39, ist Absolvent der Parteihochschule Karl Marx, der Kaderschmiede der SED. Bei einer Dienstreise blieb er im Westen.
Der SED-Generalsekretär verlor die Geduld. Die Parteimitglieder, wetterte Erich Honecker Mitte vergangenen Jahres in einem internen Rundschreiben, sollten endlich aufhören mit den "Biertischdiskussionen" über Glasnost und Perestroika. Ruhe sei die erste Genossenpflicht.
Was die Sowjet-Union derzeit mit dem Umbau ihrer Wirtschaft treibt, ist nach der offiziellen Linie allein Sache der KPdSU. Die DDR, dozierte SED-Chefideologe Kurt Hager vor Schulräten, verfolge konsequent ihre eigene Politik. Und alle Welt könne sich jederzeit vom hohen Entwicklungsstand der DDR und von ihren Plänen überzeugen.
Die DDR ist - unbestritten - das stabilste Land des Ostblocks; Jahr für Jahr weisen die Statistiken kräftige Steigerungsraten auf. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus, die Zahlen sind nicht viel wert. Das Fälschen von Kennziffern und Daten ist seit Jahren eine Art Gesellschaftsspiel, an dem sich (fast) alle beteiligen: die Abteilungsleiter und Meister, Betriebsdirektoren, Parteisekretäre, Minister, die Genossen im Zentralkomitee und im Politbüro.
Im vorigen Dezember verabschiedete die Volkskammer den Haushalt für 1989, der offiziell ausgeglichen ist und von stabilen Steigerungsraten des Nationaleinkommens ausgeht. In Wahrheit stagniert das Nationaleinkommen real, und der Staatshaushalt ist defizitär. Tilgung von Auslandsschulden und Zinsbelastung werden nicht berücksichtigt.
"Was da seit langem läuft", kommentierte der Generaldirektor eines großen Industriekombinats den grandiosen Selbstbetrug, "ist ein geradezu mörderisches Selbstvernichtungssystem."
1988 sollten die schlechten Ergebnisse des Jahres 1987 - der strenge Winter hatte damals zu erheblichen Produktionsausfällen geführt - kompensiert werden. Der nächste Winter war zwar mild, aber der Abwärtstrend setzte sich fort. Um das zu kaschieren, wurden die Pläne in Milliarden-Höhe nach unten korrigiert. Trotzdem blieb die DDR-Wirtschaft noch um anderthalb Prozent bei der Nettoproduktion hinter den Planvorgaben zurück. Knapp ein Viertel aller Planvorgaben wurde nicht erfüllt.
Auch das Problem von Zulieferengpässen bekam die DDR nicht in den Griff. Die dadurch verursachten Produktionsstörungen schlugen mit über 2,5 Milliarden Mark zu Buche. Die schlechte Qualität der Erzeugnisse brachte noch einmal volkswirtschaftliche Schäden von einer Milliarde Mark.
Selbst die Landwirtschaft, ein Aushängeschild der DDR, mußte 1988 erhebliche Einbußen hinnehmen. Der Rückgang bei der Getreideernte von 11,2 Millionen auf 10 Millionen Tonnen hatte ein Futterdefizit von mindestens einer Million Tonnen zur Folge. Trotz zusätzlicher Importe, die die Außenhandelsbilanz weiter verschlechterten, gerieten viele Genossenschaften in die Gefahr, ihre Tierbestände nicht über den Winter zu bringen. Pausenlos waren Lastzüge unterwegs, um das dringend benötigte Futter von Nord nach Süd zu transportieren. Und keiner fragte, wer das eigentlich bezahlen sollte.
Kritiker sind sich einig, daß die mit dem VIII. Parteitag der SED 1971 eingeleitete "Politik der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" nicht mehr greift. Die DDR-Wirtschaft verliert zunehmend an Dynamik. Die Planwirtschaft produziert immer mehr Bürokratismus und tötet dringend benötigte Flexibilität. Das einzige, was wächst, ist der Verwaltungsapparat. Dort finden 14 000 Beamte mehr als geplant Arbeit und Lohn - das ist etwa die Belegschaft von drei Großbetrieben.
27 000 Verwaltungsangestellte sollen, so verkündete Finanzminister Ernst Höfner, eingespart werden, an den Erfolg der Aktion glaubt niemand. Kommentar eines Kenners: "Das geschieht nach der Vogelschwarm-Baum-Methode. Einer klatscht, alle schwirren auf, um sich dann auf einem anderen Ast gelassen wieder hinzusetzen."
Statt langfristiger Strategie betreiben die Wirtschaftsplaner der SED nur noch pragmatische Schadensbekämpfung. Sie reißen hier ein Loch auf, um dort ein anderes zu stopfen - sozialistische Sisyphusarbeit.
Als die Sowjet-Union der DDR Ende der siebziger Jahre mit einiger Verzögerung die gestiegenen Erdölrechnungen präsentierte und auch die anderen Rohstoffpreise explodierten, entschlossen sich die Wirtschaftsexperten um Günter Mittag, künftig voll auf die heimische Braunkohle zu setzen. Autarkie gegenüber den Unwägbarkeiten der internationalen Preisentwicklung hieß die Devise, "ETU" (Energieträgerumstellung) die dafür gefundene Zauberformel.
Kampagnemäßig setzte Mittag binnen weniger Jahre ein Programm durch, das zeitweilig bis zu 60 Prozent aller verfügbaren Investitionsgelder in Anspruch nahm - für neue Kraftwerke, Feuerungsanlagen, Energieausrüstungen und höhere Schornsteine. Gerade neu errichtete Anlagen, die mit Öl und Erdgas arbeiteten, wurden stillgelegt, 63 000 Heizer zwischen 1982 und 1984 von Öl auf Braunkohle umgeschult.
Seit 1981 wurden neun neue Tagebaue aufgeschlossen, die Förderung auf 310 Millionen Tonnen hochgefahren. Damit ist die DDR einsamer Spitzenreiter in der Welt, sie fördert ein Viertel der Weltproduktion. Die Agitatoren feierten ETU enthusiastisch. Kein Tag verging ohne Erfolgsmeldung, aber bald hatte niemand mehr den Überblick, was bei der Umstellung auf Braunkohle unter dem Strich herauskam.
Die Bilanz heute: Mehr als 80 Prozent ihrer Elektrizität gewinnt die DDR aus der Braunkohle. Rund zehn Prozent des Bedarfs sichern Atomkraftwerke, den Löwenanteil liefert das Werk in Lubmin bei Greifswald. Die DDR hat sich damit von Importen fast unabhängig gemacht.
Aber zu welchem Preis? Noch immer frißt die Energiewirtschaft Jahr für Jahr fast zwölf Milliarden Mark an Investitionen. Das ist etwa genausoviel, wie für Elektrotechnik/Elektronik, Schwermaschinen- und Anlagenbau, Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau sowie Leichtindustrie zusammen ausgegeben wird, alles strukturbestimmende Zweige, von deren Entwicklung die künftige Leistungskraft der DDR-Volkswirtschaft wesentlich abhängt.
In den Hauptfördergebieten - den Bezirken Cottbus, Halle, Leipzig - frißt ein Großtagebau jährlich etwa 40 Quadratkilometer Land. 36 Tagebaue unterschiedlicher Größe gibt es gegenwärtig. Wo alte Dörfer verschwinden, entstehen riesige Gebiete unwirtlichen Landes.
Die ökonomischen Ergebnisse sind zweifelhaft. Um eine Tonne Braunkohle zu fördern, müssen fünf, teilweise bis zu zehn Tonnen Abraum bewegt werden - 1988 etwa 1,4 Milliarden Tonnen. Die Kohle ist zum Teil stark salzhaltig, hat einen schlechten Heizwert und belastet die Umwelt. Der Heizwert von vier bis sechs Tonnen Rohbraunkohle entspricht dem einer Tonne Erdöl. 58 Prozent der Braunkohle bestehen aus Wasser, das macht jeden Transport unrentabel.
Ein Zurück ist nicht möglich. Die DDR hat sich mit ihren hohen Investitionen für Jahrzehnte an die Braunkohle gekettet.
Der DDR-Bedarf an Kraftwerkskapazität liegt im Sommer zwischen 12 000 und 15 000 Megawatt, steigt im Winter auf 20 000 Megawatt und um mindestens weitere 2000 bei tiefen Frostgraden. Die Ostdeutschen liegen damit im Pro-Kopf-Verbrauch an dritter Stelle in der Welt. Nur ein Tonnen-Ideologe kann eine solche Plazierung feiern. Statt Öl und Gas muß Günter Mittag in den Spitzenzeiten nun Strom aus Österreich und der Bundesrepublik importieren.
Und die Aussichten sind trübe: Der Bau des zweitgrößten Braunkohlekraftwerks in Jänschwalde (3000 Megawatt) ist im März vollendet worden; es soll zugleich das letzte Braunkohlekraftwerk der DDR sein. Aber auch Jänschwalde wird die Energielücke nicht schließen können. Der GAU von Tschernobyl hat den weiteren Ausbau beziehungsweise Neubau von Kernkraftwerken in Lubmin und Stendal verzögert. Die DDR setzt zwar weiterhin auf Kernkraft, muß aber nun höhere Sicherheitsbestimmungen einhalten. Das kostet Zeit und vor allem Geld, das eigentlich für den Umweltschutz, die Modernisierung veralteter Anlagen und das Energiesparen gebraucht wird.
Die Planer der SED haben jetzt eine neue Zauberformel entdeckt: High-Tech. Die DDR setzt auf den Aufbau von Schlüsseltechnologien, in erster Linie auf Mikroelektronik, aber auch auf Biotechnologie, Gen-, Laser- und Automatisierungstechnik.
Als 1977 auf dem 7. Plenum des Zentralkomitees der SED der Beschluß gefaßt wurde, eine eigene mikroelektronische Basis zu schaffen, machte alsbald in der Partei die Überzeugung die Runde, diesmal sei man auf den abfahrenden Zug gerade noch rechtzeitig aufgesprungen.
Die Ergebnisse, die im letzten Jahrzehnt erreicht wurden, sind anscheinend aller Ehren wert: Computer, von welchem Leistungsniveau auch immer, gehören heute zum gewohnten Bild der Industrie. Erste biotechnologische Verfahren werden bereits in der Produktion angewendet. In ausgewählten Betrieben erprobt die DDR-Industrie Formen der automatisierten Fabrik.
Begleitet wurde diese Entwicklung durch eine Propagandawelle, auf die erfahrene DDR-Bürger auf ihre Weise reagierten. Den tagtäglichen Jubel über CAD (computergestütztes Design) und CAM (computergestützte Fertigung) übersetzen sie inzwischen so: "Computer am Dienstag, Chaos am Mittwoch."
Die DDR, darauf verweist die SED mit besonderem Stolz, gehört heute zu dem kleinen Kreis von Staaten, die über eine eigene mikroelektronische Basis verfügen. Insgesamt 14 Milliarden Mark hat die DDR dafür bislang investiert - viel Geld für das kleine Land, aber zuwenig, um das internationale Tempo wirklich mithalten zu können.
Im September vergangenen Jahres übergab Zeiss-Generaldirektor Wolfgang Biermann das Labormuster eines 1-Megabit-Chips an Erich Honecker. Bereits Monate vorher hatte Robotron-Dresden den ersten 32-Bit-Computer der Öffentlichkeit vorgeführt.
Den Zeiss-Chip bejubelte der SED-Generalsekretär: Der beweise, daß der Sozialismus dem Kapitalismus alles in allem hoch überlegen sei. Die ernüchternde Realität: Bis zur Produktion des Chips vergehen nach Biermanns Prognose noch ein bis zwei Jahre. In der Bundesrepublik wurden 1988 bereits sechs Millionen 1-Megabit-Chips gefertigt.
Und der Dresdner SED-Chef Hans Modrow zweifelt an Biermanns Prognose. Denn, so Modrow, es gebe derzeit noch erhebliche Schwierigkeiten bei der Serienproduktion für den Vorläufertyp des 1-Megabit-Chips, den 256-Kilobit-Speicherschaltkreis.
Die DDR zog in Erfurt, Dresden, Frankfurt/Oder und Teltow zur "Brechung westlicher Embargopolitik" (Biermann) mikroelektronische Betriebe hoch, Zeiss wird zum Hochtechnologiezentrum der DDR ausgebaut.
Doch die gewollten Kraftakte, die Konzentration der Investitionen auf ausgewählte Unternehmen, haben die Technologielokomotive Mikroelektronik ohne ihre Waggons davondampfen lassen. Wichtige Zulieferer und vor allem die potentiellen Anwender halten das Tempo nicht mit, weil es an Innovationskraft fehlt. Zudem sind die Produktionskosten für die Bauelemente viel zu hoch, das Sortiment hat Lücken.
Ein Teil der Bauelemente für Farbfernseher kommt weiter aus dem Westen, weil sie im Inland nicht zu haben sind. Dabei mogelt die DDR ohnehin: Neue TV-Modelle werden bloß von West-Modellen abgekupfert.
Zeiss-Manager Biermann allerdings tönte auf dem letzten ZK-Plenum im vergangenen Dezember, der Fernseher mit großem Monitor werde nur noch als Gesamtelektronik vier Schaltkreise eines 1-Megabit-Speicherschaltkreises benötigen. Fachleute im Halbleiterwerk Frankfurt/Oder hörten es mit Staunen. Ihr Kommentar: Der Mann weiß nicht, was in solch einem Gerät steckt.
Biermanns Unternehmen ist typisch für das Dilemma der DDR-Volkswirtschaft: Nicht das Hochtechnologiezentrum Zeiss in Jena ist der Devisenbringer Nummer eins im DDR-Bezirk Gera, sondern die hochbetagte Maxhütte in Unterwellenborn. Dort werden mit Hilfe belgischer Technologie Stahlprodukte hergestellt, die billig in den Westen verkauft werden.
Solange es der DDR nicht gelingt, aufwendige Investitionen in gewinnbringende Exportgeschäfte umzumünzen, wird sie keinen Deut an Effizienz gegenüber der davonlaufenden kapitalistischen Konkurrenz aufholen können. Im Gegenteil: Sie läuft Gefahr, noch weiter an Boden zu verlieren - dank einer Industriepolitik, die in vielen Bereichen an Schildbürgerstreiche erinnert.
Ein Musterbeispiel ist die Entwicklung des neuen "Wartburg" mit einem 1,3-Liter-Motor von VW. Neun Milliarden Mark hat die DDR nach SED-internen Angaben in das Auto investiert. Als der Wartburg 1988 auf der Leipziger Herbstmesse vorgestellt wurde, erwies sich, daß der Aufwand in keinem Verhältnis zum Ertrag stand: Der Wagen ist technisch hoffnungslos veraltet.
Um die Ausgaben für Importe so gering wie möglich zu halten, wurde an allen Ecken und Enden gespart nach der Devise: Möglichst alles selber machen. 187 Betriebe müssen für das "neue" Auto zuarbeiten; darunter sind nicht wenige, die nie etwas mit dem Autobau zu tun hatten - eine programmierte Störquelle.
Aber auch bei den Investitionen, die mit ausländischer Hilfe vorgenommen wurden, häuften sich die Fehler und Schlampereien. Schlimmes Beispiel: das mit japanischer Hilfe gebaute Metallgußwerk in Leipzig, ein Hunderte Millionen Mark teures Objekt, dessen Technologie die DDR-Industrie bis heute nicht beherrscht. Bis zu 50 Prozent der Motorengehäuse waren anfangs schlicht Ausschuß. Wieviel es derzeit sind, ist ein strenggehütetes Geheimnis - aus gutem Grund: Das vom VW-Konzern gelieferte Montageband für die Wartburg-Motoren wird mit fertigen Motoren bezahlt.
Es gab weitere Pannen: Als die neue Montagehalle für die Motoren in den Karl-Marx-Städter Barkas-Werken stand, stellte sich heraus, daß sie zu kurz geraten war. Da auf dem Gelände von Barkas kein weiterer Platz vorhanden ist, mußte eine zusätzliche Produktionsstätte in einem Nachbarort aufgebaut werden. Jetzt karrt man die halbfertigen Motoren hin und her, um sie dann, komplett montiert, auf die 210 Kilometer lange Reise nach Eisenach zu schicken, wo der Wartburg gebaut wird.
Mehr als eine Milliarde Mark war schon früher in den Sand gesetzt worden: Ursprünglich wollten die Autobauer aus Eisenach auch einen Wartburg mit Dieselmotor auf den Markt bringen. Doch das Projekt scheiterte, weil es nicht gelang, die notwendige Einspritzpumpe zu fertigen. Die eigens dafür hochgezogene Halle in Berlin-Marzahn wird bis heute nur provisorisch genutzt, da auch das Folgeprojekt, die Fertigung von Robotern, aus technischen Gründen aufgegeben wurde.
Weitere Beispiele aus der Bilanz verfehlter oder merkwürdiger Investitionsentscheidungen: Eines der Aushängeschilder für automatisierte Fertigung in der DDR ist das Elektromotorenwerk Dresden-Ost. Es produziert sogenannte Stellmotoren, beispielsweise für Roboter. Mit einem riesigen Aufwand hat die DDR in Dresden einen ersten Schritt zur automatisierten Fabrik getan - und darüber das eigentliche Produkt vergessen. Als das Werk seine Produktion aufnahm, stellte man fest, daß künftig statt der gefertigten Gleichstrom- nun Wechselstrommotoren gefragt sind. Die Umstellung wird Jahre dauern.
In Berlin ging nach jahrelanger Bauzeit ein für mehrere hundert Millionen Valutamark von Japan gekauftes Fernsehbildröhrenwerk in Betrieb. Zu dem Unternehmen gehört ein ähnlich großes Werk im Bezirk Cottbus, das die Glaskolben liefert. Beide Werke decken den Bedarf der DDR ab und sollen darüber hinaus noch exportieren. Das aber funktioniert nicht. Gefragt sind auf dem Weltmarkt inzwischen Rechteckbildröhren. Die aber können die DDR-Hersteller mit der in Berlin installierten Technik nicht produzieren. Man hat sich eine veraltete Technologie aufschwatzen lassen. Die Umrüstung würde nochmals mehrere hundert Millionen Valutamark verschlingen. Die TV-Hersteller behelfen sich derweilen mit einem Trick: Sie montieren rechteckige Plastikblenden auf die alte Röhre.
Im metallurgischen Zentrum Nummer eins der DDR, in Eisenhüttenstadt, nahm vor einigen Jahren das vom österreichischen Staatsunternehmen Voest gebaute Konverter-Stahlwerk seinen Betrieb auf. Das Werk macht ökonomisch nur Sinn, wenn die dort geschmolzenen hochveredelten Stähle auch im geschlossenen Kreislauf weiterverarbeitet werden. Neben den vorhandenen Hochöfen, die zum Teil modernisiert wurden, und dem Kaltwalzwerk wird dazu eine Warmbandstraße benötigt. Die aber fehlt.
Ein erster Versuch, diese Lücke zu schließen, wurde bereits in den sechziger Jahren abgebrochen. Die Fundamente liegen heute noch. Der zweite Versuch, geplant war eine Kooperation mit der Sowjet-Union, ging bisher über aufwendige Vorarbeiten nicht hinaus. Wieder wurde das Projekt um Jahre verschoben. Den bundesdeutschen Stahlproduzenten Hoesch, Thyssen und Salzgitter AG kann das nur recht sein. Sie fahren jährlich Aufträge für eine halbe Milliarde Mark aus der DDR ein.
Die SED-Führung hat die kritische Situation in der Industrie erkannt und will in diesem Jahr immerhin 76 Milliarden Mark investieren; aber es bestehen berechtigte Zweifel, ob diese Milliarden die beabsichtigten Ergebnisse bringen. Die Kraftakte in der Mikroelektronik fressen weiter immense Summen. Für Neuinvestitionen fehlt es an Baukapazitäten, weil die durch den Wohnungsbau gebunden sind.
Die mangelnde Investitionskraft der DDR trifft nicht nur die Industrie, sondern die gesamte Infrastruktur des Landes, zum Beispiel das mit Schlaglöchern übersäte Straßennetz, die Eisenbahn, Post und Telephon. Innerhalb Berlins braucht ein Brief häufig eine Woche, auf einen Fernsprechanschluß wartet der Bürger in der Hauptstadt in der Regel mehr als zehn Jahre, in der Provinz noch länger. Es fehlt an leistungsfähigen Vermittlungsstellen und Übertragungsleitungen. Mit der Einführung der modernen digitalen Vermittlungsstellen ist erst nach 1990 zu rechnen. Glasfaserkabel sind minderer Qualität; sie werden zwar produziert, aber kaum verlegt.
Datennetze gehören im Westen längst zum Arbeitsalltag. In der DDR ist man über bescheidene Anfänge noch nicht hinausgekommen. Zwar gibt es kleine Insellösungen innerhalb der Kombinate, doch die Netze verbinden noch nicht einmal die verschiedenen Produktionsorte. So werden die auf Disketten gespeicherten Informationen per Auto oder Paketpost ausgetauscht.
Die DDR-Führung hat die Verantwortung für Innovationen zunehmend auf die über 200 Kombinate des Landes verlagert. Bereits ein Fünftel aller Ausrüstungsinvestitionen wird jetzt in den Kombinaten selbst gefertigt - Tendenz steigend. Doch dieser Trend produziert ungewollte Nebeneffekte. Nach dem Prinzip "Eine Hand wäscht die andere" kungeln nun General- und Betriebsdirektoren gegenseitige Lieferungen am Biertisch aus - Beziehungen sind alles.
Der Leiter eines agrochemischen Zentrums im Bezirk Magdeburg hat sich in einen alten "Wolga"-Kombi einen kraftstoffsparenden Dieselmotor einbauen lassen. Mit einem großen Anhänger zuckelt er einmal im Monat über Land, um Ersatzteile für Reparaturen heranzuholen. Traktorenteile, aus der Traktorenfabrik im gleichen Bezirk "planmäßig" an die Ostseeküste geliefert, wandern so auf Umwegen in den benachbarten Betrieb zurück.
Der starre Planungsmechanismus treibt Blüten von exotischer Schönheit: Da "importiert" das große Textilmaschinenkombinat Textima in Karl-Marx-Stadt 1988 gegen Devisen dringend benötigte Werkzeugmaschinen aus dem "Fritz-Heckert"-Kombinat auf der anderen Straßenseite. Textima belastet damit zwar sein knappes Importkontingent, erhält dafür aber Ausrüstungen, die es für eine rationellere Fertigung braucht. Die Fabrik auf der anderen Straßenseite kann gleichzeitig Exportsteigerung ins NSW (nicht sozialistische Wirtschaftsgebiet) nachweisen.
Der Staat drückt beide Augen zu, weil er die wachsende Schattenwirtschaft nicht mehr verhindern kann.
Die DDR rühmt sich seit Jahren ihrer Vollbeschäftigung; im Staat der Arbeiter und Bauern sei das Recht auf Arbeit verwirklicht. In der ganzen Republik werden heute Arbeitskräfte gesucht. Aber das hat Ursachen: ein aufgeblähter Verwaltungsapparat - 16,5 Prozent der Beschäftigten sitzen in Büros; ein veralteter Maschinenpark und eine viel zu geringe Arbeitsproduktivität. Investitionen in der DDR schaffen in der Regel immer noch mehr Arbeitsplätze, als sie einsparen.
Die DDR hat in Wahrheit nicht zuwenig Arbeitskräfte, sondern zu viele Arbeitsplätze. Und daran wird sich auch künftig wenig ändern. Schon jetzt sind über 80 Prozent aller Frauen im erwerbsfähigen Alter berufstätig, arbeiten noch mehr als 300 000 Rentner (von 2,7 Millionen), sind etwa 10 000 Soldaten (150 als Lokführer) ständig in der Wirtschaft im Einsatz.
Da im eigenen Land keine Arbeitskräfte mehr aufzutreiben sind, muß die DDR ihren wachsenden Bedarf mit ausländischen Arbeitskräften decken. Gegenwärtig arbeiten etwa 85 000 Ausländer (Tendenz steigend) in mehr als 800 Betrieben. Das größte Kontingent stellt dabei Vietnam mit über 53 000. Der Rest rekrutiert sich aus Mosambikanern, Kubanern, Angolanern und neuerdings Chinesen. Ein Problem: Die Zahlungskraft der Ausländer drückt zusätzlich auf den dürftigen, durch Subventionen verzerrten Markt.
Der Abbau der Subventionen bis 1990 ist beschlossene Sache. Ausgenommen sind die Waren des täglichen Grundbedarfs, die Dienstleistungen, Mieten und Verkehrstarife. Doch auch die müssen zur Disposition gestellt werden. Die Subventionen für diese Bereiche sind mittlerweile auf die horrende Summe von über 60 Milliarden Mark im Jahr angewachsen. Die DDR lebt über ihre Verhältnisse. Noch ist allerdings die Angst vor der politischen Instabilität und die Vision vom gerechten sozialen Gemeinwesen größer als der Wille, zu vernünftigen wirtschaftspolitischen Entscheidungen zu kommen.
Seit Jahren appelliert die SED-Führung an die Betriebe, moderne und hochwertige Konsumgüter zu entwickeln und herzustellen - bisher mit geringem Erfolg. Videorecorder, CD-Player, Videokameras - Fehlanzeige. Im vergangenen Jahr kam endlich der erste "Walkman made in GDR" heraus - in nicht ausreichender Stückzahl, teuer (400 Mark), schwer, groß und hoffnungslos veraltet.
In den Betrieben, die neben Investitionsgütern auch Dinge fürs tägliche Leben produzieren sollen, verfällt man auf die kuriosesten Ideen: Der eine fertigt einen "Gackelboy" an, mit dem man wasserlos Eier kochen kann, der andere versucht es mit einem Babykostwärmer, den keiner haben will. Der dritte Betrieb befaßt sich mit einem kombinierten Gefrier- und Kälteschrank, weil ein ehemals führender Genosse im Namen des Betriebs das Wort "Kühlautomat" entdeckt hatte.
Ohne jegliche Erfahrung wurden daraufhin Entwicklung und Produktion gestartet. Das Ergebnis ist ein Monstrum, das in keine Neubauküche paßt.
Im Westen wird immer wieder gerätselt, was diesen Wirtschaftsmechanismus a la DDR eigentlich noch in Gang hält. Mal schwingt Häme, mal Anerkennung mit. Sicher ist: Mit einem bißchen Kapitalismus wird die DDR nur Schiffbruch erleiden. Was not tut, ist Perestroika. Die gegenwärtige SED-Führung wehrt sich mit Händen und Füßen dagegen, weil sie sich seit Jahrzehnten mit einer Aura der Unfehlbarkeit umgeben hat - die Partei hat immer recht. Die objektiv wirkenden ökonomischen Gesetze, so hat der greise Ministerpräsident Willi Stoph in einem Anfall von Hellsichtigkeit gesagt, könne man nicht überlisten.
Die SED-Führung versucht es trotzdem. #