Die Erben des Dr. Barschel
Ein Machtwechsel ist viel Arbeit, neue Namen, neue Nummern. Aber sonst ist ja alles gleich geblieben, für uns. Der Bürobote
Die Demokratie ist noch nicht wieder in Ordnung in Schleswig-Holstein. Der Ministerpräsident
Dicke Akten sind ungefährlich. Dünne Akten machen Arbeit. Wenn zwischen den Pappdeckeln mit der Aufschrift "Landesregierung Schleswig-Holstein" nur ein einziges Blatt Papier liegt, das weiß der Bürobote, dann stöhnt der Beamte. Denn dann steht der Vorgang ganz am Anfang. Das bedeutet, er macht viel Arbeit. Wenn der Bote das Blättchen dann noch in einem roten statt in einem grauen Deckel hereinträgt, wird es besonders gefährlich. Eilt, heißt das. Viel Arbeit, schnell, schnell. Wenn dann noch ein weißes Schildchen heraushängt, wird's kriminell: "Heute" steht da drauf.
Der Bürobote Klaus Hinz hat seit dem 31. Mai 1988 Stapel von gefährlich dünnen, roten Akten mit heraushängenden Zettelchen durch die Gänge der Kieler Staatskanzlei geschoben. So viel wie noch nie in seinem Botendasein, und Hinz hat immerhin drei Ministerpräsidenten überlebt. Reingucken dürfe er ja nicht, in die Deckel, sagt er, offiziell, aber auch an dem Posteingang merke man den Neuanfang, "das hängt mit den hohen Erwartungen an die neue Regierung zusammen".
Wenn Hinz sein Aktengefährt über den Steinboden des Treppenhauses schiebt, rumpelt die dreistöckige Karre wie ein Bollerwagen. Auf den Teppichböden in den Gängen der Staatskanzlei aber schnurren die Kugellager leise vorwärts, manchmal vornehm quietschend.
Ein aufregendes Jahr liegt hinter dem Boten, Hinz mußte umlernen. Neue Referate, neue Nummern, neue Namen, neue Gesichter. Nicht mehr "Guten Morgen, Herr Ahrendsen, Herr Pfeiffer, Herr Behnke, Herr Hebbeln, Frau Eichler, Herr Friedersen", sondern "Guten Morgen, Herr Wessels, Frau Steinkamp, Frau Schmid, Herr Pelny, Frau Günther, Frau Flick".
42 Türschilder mußte der Hausmeister in der Staatskanzlei auswechseln. Die Kommandozentrale des Dr. Barschel wurde ausgeräumt. Die waren nicht alle stur und steif. Tut einem schon leid, daß die weg mußten (Der Bürobote). Zwei gingen in den Ruhestand, Hebbeln in den endgültigen, Behnke in den einstweiligen, die anderen wurden versetzt, ins Kultusministerium, ins Finanzministerium, ins Umweltministerium, ins Sozialministerium. Das sind ja alles Beamte, die können sie ja nicht alle auf die Straße setzen (Der Bürobote).
Neben 17 Milliarden Mark Schulden hinterließ Dr. Barschel seinen politischen Erben 65 000 Staatsdiener, davon 2523 in den Ministerien, 81 in der Staatskanzlei. Die Nachfolger waren in Amt und Würden gekommen mit dem Argument, 38 Jahre lang seien die Beamten in Schleswig-Holstein nicht nach Qualifikation, sondern nach Parteibuch befördert worden; über die Fähigkeiten ihrer Untergebenen urteilten die neuen Vorgesetzten im Abschlußbericht des Barschel-Untersuchungsausschusses so: "Willfährigkeit, Bedenkenlosigkeit und Kritiklosigkeit auf seiten von Mitarbeitern der Landesregierung sind der Boden gewesen, auf dem sich die politisch kriminellen Machenschaften Dr. Barschels und seiner Gehilfen entfalten konnten."
Was macht eine Regierung, die eine neue politische Kultur versprochen hat, mit den alten Gefolgsleuten des "Jasagertums" und der "Rückgratlosigkeit"? Dumme Frage, die neue Politik natürlich. Wie? "Ich verlange von meinen Beamten genau das Opfer", sagt der Umweltminister, "genau den gleichen großen Umdenkungsprozeß, den ich von den Leuten außerhalb auch verlange. Der Apparat spiegelt in der Schwerfälligkeit genau die Gesellschaft wider." - "Das Problem ist der Mangel an Phantasie", klagt der Innenminister, "jahrzehntelang ist die nicht gefordert worden." - "Wir versuchen, unsere Ideen mit viel Überzeugungskraft", sagt der Sozialminister, "in die Apparate hineinzubringen. Dazu bedarf es Motivation, Vertrauen, Vermittlung von Zusammenarbeit. Ein harter Weg."
Der Minister als Therapeut, das Ministerium als Umerziehungslager. Im ersten Jahr des Machtwechsels ist eine neue Regierung vollauf damit beschäftigt, die alten Beamten für die neue Politik zu begeistern. Kein Wunder also, wenn die Menschen außerhalb der Apparate das Gefühl haben, es ändere sich nichts.
In Schleswig-Holstein wurden erstaunliche Umerziehungserfolge erzielt.
Ministerialrat Jürgen Lambrecht beispielsweise, der für Barschel die Broschüre "Betr. Engholm" erarbeitete und den legendären Satz schuf, "Engholm bläst die Posaune des Ostens", ist der Regierung Engholm nun als Referent für Ost-Flüchtlinge zu Diensten.
Ministerialrat Claus Asmussen, der Engholms angebliche Steuerschuld so gewissenhaft für Pfeiffer zusammenstellte, macht sich nun als Experte für Bundesverfassungsgerichtsverfahren nützlich. Regierungsdirektor Herwig Ahrendsen, Barschels Ersatz-Pfeiffer, wurde in einem Computerkurs um- und weitergebildet. Die Vorgesetzten sind voll des Lobes.
Die Kultusministerin allerdings muß gelegentlich Gerüchten entgegentreten, ihre Beamten arbeiteten immer noch mehr für ihren Vorgänger als für sie. Obwohl Eva Rühmkorf als ehemalige Direktorin der Hamburger Jugendstrafanstalt Vierlande von allen Ministern die größte Erfahrung in Sachen Resozialisierung mit ins Amt brachte, ist in ihrem Hause die Entbarschelung am wenigsten fortgeschritten. Das mag daran liegen, daß ihre Behörde der Ideologie-Stall der schwarzen Vorgänger war und nun, neben dem Umweltministerium, als Entsorgungspark für abgebrannte Beamte aus der Staatskanzlei herhalten muß.
Zuversichtlich verkündete der Referent einer CDU-Strategieversammlung: "Ich hoffe, in Schleswig-Holstein gibt es im Bildungsbereich noch viele Beamte, die nach dem Regierungswechsel nicht ihre Herkunft verleugnen."
Die Kultusministerin ist, wie andere Minister auch, in ihrem eigenen Hause umzingelt von Referenten und Abteilungsleitern, die der verflossenen Regierungspartei in gehobenen Funktionen angehören. Drei neue Planstellen wurden ihr bewilligt, 367 Altgediente erbte sie vom Vorgänger. "Wir hätten schneller Zeichen setzen können", räumt sie ein, "wenn es hier im Hause Leute gegeben hätte, die nicht festgelegt wären auf: Gesamtschule taugt nichts!" Genau zwölf Sozialdemokraten machte der Sozialminister in seinem Hause ausfindig, als er sich an den Neuanfang machte.
148 neue Planstellen spendierte der Kieler Landtag für den Regierungswechsel; 2604 Staatsdiener saßen schon unter Barschel in der Staatskanzlei und in den Ministerien. In ihren Schreibtischen die alten Reden und Vorlagen, in ihren Köpfen die alten Ideen. "Zu wissen, hier ist ein großes Reservoir aus vielen Jahren Arbeit, mit tollen Gedanken, kann man die nicht noch mal verwenden?" fragt sich nicht nur Joachim Schuldt, einst und jetzt Ministerialrat in der Staatskanzlei. "Die Ideen, die Formulierungen, von denen kann man sich ja nicht trennen." Und so landen dann immer mal wieder "Ergüsse aus der alten Zeit", wie es Schuldt nennt, auf den Schreibtischen der neuen Minister.
Der Machtwechsel in der Demokratie wird gemeinhin als ganz normaler Vorgang bezeichnet. Doch was ist, wenn das im Apparat personifizierte Alte den Neuanfang erstickt? Nie vorher in der Geschichte der Bundesrepublik gab es nach einer Wahl einen solch radikalen Wechsel: Auf die Herrschaft der 38 Jahre regierenden Partei folgte die absolute Mehrheit der bisherigen Oppositionspartei. Der klassische Machtwechsel also, unverfälscht durch Koalitionen und ähnliche Verunreinigungen, wie geschaffen für journalistische Feldstudien. Wenn die ehemaligen Minister jetzt mit eigenem Wagen vorfahren, kein Fahrer mehr hinterher, keiner trägt die Tasche mehr, das ist schon merkwürdig (Der Bürobote).
Der Apparat, das sind Paternoster. Der Apparat, das sind Gänge; das ist Linoleum; das sind Türschilder. Der Apparat, das sind Beamte. Neue, alte, flexible. Alle loyal, selbstverständlich.
Der Flexible: "Man muß die Argumente einfach nur umdrehen. Vor einem dreiviertel Jahr gegen die Gesamtschule, jetzt für die Gesamtschule. Aber die Argumente als solche bleiben ja gleich" (Schuldt).
Der Alte: "Wer hat schon dieses Glück in seinem Leben, daß er immer die Meinung hat, die von der Führung gewünscht wird. Entscheidend ist, daß man loyal seine Pflicht tut. Die Verantwortung trägt der Minister" (Ministerialrat Herbert Schattke).
Der Neue: "Die preußische Tugend der Pflichterfüllung, das ist mir einfach zu wenig, der Beamte muß auch Verantwortung übernehmen. Die Beamten als Avantgarde des Fortschritts, da mag mancher drüber lächeln, aber da hat das französische Beamtentum beispielsweise schon mehr Ansätze als das deutsche" (Ministerialrat Gustav Sauer).
Der neue Beamte, nennen wir ihn Typ Engholm, sitzt mit dem Kollegen, Typ Barschel, auf einem Flur, in der Atomabteilung der Regierung. Der eine ist Experte für den Ausstieg, aus Hessen geholt, um als Abteilungsleiter die Wende zum Ausstieg einzuleiten. Der andere ist Experte für den Einstieg. Er hat elf Jahre Übung darin, Atomkraftwerke todsicher zu finden. Nun muß er als alter Rechtsexperte der Abteilung die Sicherheit der Kernkraftwerke vor Gericht anzweifeln. "Ich stehe loyal zur neuen Regierung", schwört der Rechtsexperte.
Der loyale Beamte war der Schwarze Peter der Barschel-Affäre. Er diente ergeben und schaute pflichtbewußt aus dem Fenster, wenn ihm etwas merkwürdig vorkam. Er war loyal bis in die Falschaussage, loyal bis in den Tod.
Über bewußte Illoyalität könne er sich nicht beklagen, sagt der neue Ministerpräsident. Dennoch staucht er schon mal, aus Angst vor Illoyalen, seine Persönliche Referentin zusammen, wenn ein Brief an die SPD-Polizeibetriebsgruppe den Behördenweg statt den Postweg nimmt: "Wer weiß, wer da alles reinschaut." Wir Kleinen, und wir Boten sind ja die Kleinsten hier, hatten anfangs schon Distanz zu ihm. Aber er hat gleich gegrüßt, sofort. Barschel, der hat immer nur kurz vor der Wahl gegrüßt (Der Bürobote).
Wenn Hinz sich mit seinem Aktenwagen der Zone des Ministerpräsidenten nähert, an die schwere Panzerglastür heranfährt, versperren ihm nicht mehr wie früher Sicherheitsbeamte den Weg. Die neue Sinnlichkeit soll man der Staatskanzlei schon vom Gang her ansehen. Offene Türen, weiße Wände, große Bilder. Schöner regieren. Der neue MP ist auch sehr kunstbeflissen, bedingt durch seine Frau. Barschel ja auch schon, aber der Neue noch mehr (Der Bürobote).
Auf seinen Vorgänger und Verfolger wird Engholm nicht mehr gern angesprochen. Erst Opfer werden zu müssen, um Ministerpräsident werden zu können, "das wird nicht meine liebste Lebenserinnerung sein". Doch nur aus dem Schmutz konnte er zur Lichtgestalt aufsteigen, zum neuen deutschen Staatsmann.
Du sollst Jazz hören, heißt sein erstes Gebot. Du sollst italienische Schuhe kaufen, sein zweites. Du sollst Bücher lesen. Du sollst die Bilder Deiner Frau lieben - Engholm hat seine ganz persönliche Konsequenz aus der Kieler Affäre gezogen. Denn mit seinem Vorgänger ist auch das Klischee des bis zur Besinnungslosigkeit schuftenden Landesvaters baden gegangen.
An solche Politikermasken glaubt nun kein Mensch mehr, und darum gibt sich der Ministerpräsident neuen Typs lieber gleich als politischer Flaneur. Unablässig betont er, wie gern er nicht am Schreibtisch sitzt, lieber abends in ein Rock-Konzert geht oder in eine Ausstellung. Wahrscheinlich möchte er in die Geschichtsbücher eingehen als der erste Politiker, der Mensch geblieben ist. Ich transportiere kein Bild von mir, Entschuldigung, ich transportiere mich (Der Ministerpräsident).
Wenn Engholm Photos von Engholm auswählt, legt er die mit dem seriösen Landesvaterblick beiseite und bevorzugt die mit dem heiteren Amtssex. Wenn er zum Arbeitgeberpräsidenten unterwegs ist, kommt er lieber zu spät, als auf ein Erholungspfeifchen unterwegs zu verzichten. Wenn er brütende Seeadler besucht, geht er lieber entspannt durch den morgendlichen Wald, als mit dem Auto pünktlich die folgende Betriebsbesichtigung zu erreichen. "Muße pflegen" sagt er so oft wie andere "Arbeitsplätze sichern".
Er sei der erste Ministerpräsident, der sich nach dem Amtsantritt dem Amüsement hingebe, kritisieren enge Mitstreiter aus der eigenen Partei. Das ist kleinbürgerlicher Neid. Es sind selten die Arbeiter von Howaldt, die mir vorhalten, ich trinke ein Glas Wein (Der Ministerpräsident). Die sozialdemokratischen Engholm-Kritiker haben noch nicht begriffen, daß dieser Mann nicht tickt wie ihr Vogel an der Parteispitze. Politikmaschinen, davon haben wir genug in Deutschland (Der Ministerpräsident).
Die Kritik aus den eigenen Reihen schmerzt Engholm, er fühlt sich zu Unrecht zuwenig geliebt. Nach 38 Jahren in der Opposition geht es den Genossen zu langsam mit der Wende; auch der vornehme Umgang der Minister mit der schwarzen Bürokratie stößt auf Unwillen, was wohl auch daran liegen mag, daß Sozialdemokraten aus Schleswig-Holstein bisher nicht so recht zum Zuge gekommen sind: Von zehn Staatssekretären kommen nur zwei aus dem eigenen Stall, und von 13 neuen Abteilungsleitern nur drei.
Umgekehrt würde das bedeuten, ich suche Menschen mit einem großen, offenen, fröhlichen Herzen und einem begrenzten Verstand. Später einmal, wenn man sich an das neue Gefühl, regieren zu dürfen, gewöhnt hat, dann wird der Fundus größer werden, aus dem man Führungskräfte rekrutieren kann (Der Ministerpräsident).
Als kürzlich die Besetzung von leitenden Justizposten auf die Kritik sowohl der eigenen Partei als auch der Unternehmer des Landes stieß, rutschte Engholm heraus: "Wenn ich von linken Sozialdemokraten und der Wirtschaft gleichermaßen kritisiert werde, dann liege ich richtig."
Modernes Politikmanagement schwebt Engholm vor, ohne große Rücksicht auf Parteiklüngel. Seine "Denkfabrik", eine Gesprächsrunde mit Prominenz aus Wissenschaft und Wirtschaft, die Strukturprobleme des Landes lösen soll, ist des Ministerpräsidenten liebstes Politikmodell. Denkfabrik? Ich weiß nicht, haben die anderen davor nicht gedacht? (Der Bürobote).
Engholm liebt den großen Wurf, die lässig hingeworfene atemberaubende Perspektive. Er vereint Vision ("Schleswig-Holstein muß der Süden des Nordens werden"), Moral ("Wir Politiker sind keine Fürsten") und Pragma ("Radio Schleswig-Holstein muß gezwungen werden, mehr einheimischen Jazz zu senden") wie vor ihm nur John F. Kennedy und Karlheinz Böhm.
Kein anderer Politiker ist moralisch so unangreifbar wie Björn F. Engholm. Barschels Schmutzfeldzug hat ihn über den Tod hinaus geheiligt. Er könnte regelmäßigen Verkehr mit minderjährigen, schwulen Schafen haben oder Opium rauchen oder Steuern hinterziehen, kein Schwein, nicht einmal DER SPIEGEL könnte darauf hoffen, das mit Erfolg anzuprangern.
In den überregionalen Medien widerfährt ihm eine beängstigende Kritiklosigkeit, die sonst nur Schlagergrößen entgegenschlägt. Das ZDF ermittelte ihn in der Skala der Traummänner auf Platz zwei hinter Patrick Swayze ("Dirty Dancing"), und auch der "Stern" sieht ihn heiß geliebt. Es hilft einem, wenn man sich in der Presse auch mal so wiederfindet, wie man sich selber sieht (Der Ministerpräsident). Kurzum: Wenn es schon Politiker geben muß, dann solche.
Du sollst keine Kinderkliniken besuchen. Du sollst keine behinderten Kinder ins Landeshaus einladen. Du sollst nicht an Volksläufen teilnehmen. Pfeiffer regiert immer noch mit in Kiel. Er schreibt dem Ministerpräsidenten und seinen Ministerinnen und Ministern vor, was sie, im Gegensatz zu ihren Kollegen in anderen Bundesländern, um Gottes willen nicht machen dürfen.
Du sollst nicht von "Macht" reden. Das Wort ist allenfalls in der Verneinung zu gebrauchen, etwa so: "Ich habe nicht die Macht übernommen, ich habe Akten gelesen" (Die Finanzministerin). "Mit Macht regieren, das ist nicht unser Anspruch" (Die Kultusministerin). "Das Wort Macht habe ich nie als glücklich empfunden, das Wort Einfluß hat für mich mehr Sinn" (Der Umweltminister). "Ich habe keine Macht, ich bin ein normaler Mensch, der im politischen Bereich arbeitet" (Der Sozialminister).
Das Kabinett der Ohnmächtigen stieß im ersten Jahr nach dem Machtwechsel fortlaufend an die Grenzen der Macht, die es gar nicht haben will. Die Finanzministerin klagt über die Schulden und die langfristigen Verpflichtungen der alten Regierung, die der neuen Regierung keinen Spielraum für Politik mehr lassen, "die Handlungsfähigkeit ist nahe Null". Schon drei Tage nach dem Machtantritt war ihr klar, "daß einige Wahlversprechen nicht oder zumindest nicht bald eingelöst werden können".
Der Umweltminister mußte erkennen, daß "die konzertierte Aktion gegen den Umweltschutz, das vernetzte System der Widerstände" stärker ist, als er angenommen hatte, und sogar bis in die eigenen Ministerien reicht. "Die Probleme steigen jedes Jahr um 20, 30 Prozent, unsere Ausgaben nur um zwei, drei Prozent."
Der Sozial- und Atomminister hat gelernt, wie verbissen die Energieunternehmen die Milliarden verteidigen, die sie in die Kernkraft gesteckt haben. "Die finden Partner in Teilen der Wirtschaft, die dann auf uns zukommen und sagen: Wenn ihr wirklich den Ausstieg wollt, dann seid ihr ein Land, das wirtschaftlich nicht mehr interessant ist." Und dann machen dem Minister auch noch die Gerichte Vorschriften; sie finden die Atomkraft nicht nur sicher, sondern jetzt auch Windkraftanlagen als störend für das Landschaftsbild.
Der Innenminister schließlich muß mit ansehen, wie das Bundesverfassungsgericht das beschlossene Kommunalwahlrecht für Ausländer in die Mangel nimmt. Und der Ministerpräsident? Im Grunde ist Schleswig-Holstein dereguliert. Die Landesregierungen rutschen, was die Kompetenzen angeht, immer mehr in den Hintergrund. Ein Ministerpräsident hat nicht so viel Macht, wie die Menschen glauben.
Wollte Barschel also gar nicht die Macht verteidigen, sondern nur die Illusion der Macht? Ich habe ihn immer den Kurfürsten genannt (Der Bürobote). Und wenn es keine Macht gibt in Kiel, gab es dann überhaupt einen Machtwechsel? Ich bin, was die Erwartungen an Macht angeht, ja eher zurückhaltend und bescheiden (Der Ministerpräsident). Wechselten am 31. Mai 1988 womöglich nur die Insignien der Macht den Besitzer? Wurde die übelste Affäre der deutschen Nachkriegsgeschichte letztendlich nur inszeniert, um zu klären, wer die Chauffeure und die Sekretärinnen kriegt?
Wenn die Landesregierung keine Macht hat, ist dann wenigstens das Parlament Herr der Dinge? Aber nein, sagt die Landtagspräsidentin, immer mehr Kompetenzen hätten sich nach Bonn und nach Brüssel verlagert. Nicht mehr das Beschließen von Gesetzen sei Hauptaufgabe des Landtages, sondern die Kontrolle der Regierung.
Zwar kontrolliert die Mehrheitsfraktion des Landtages ihre Regierung sehr fleißig, aber der eigentliche Kontrolleur, die Opposition, ist abwesend, in Gedanken immer noch am Sarg der guten, alten Zeit. Bei den Haushaltsberatungen stellte die Regierungsfraktion 245 Änderungsanträge, die CDU-Opposition aber nur 62. Die SPD-Fraktion übernimmt gegenwärtig beide Rollen, die mehrheitsbeschaffende Funktion wie auch die Kontrollfunktion, weil daneben noch nichts passiert (Der Ministerpräsident).
Wenn Engholm vor das Parlament tritt, beschleicht den Betrachter das Gefühl, einem Auftritt von Leonard Bernstein vor dem Kirchenchor von Flensburg beizuwohnen, so groß ist der Klassenunterschied. Von Kontrolle kann nicht die Rede sein. Ich erinnere auch nicht, daß ein Beitrag gekommen wäre, den ich mir wirklich hätte zu Herzen nehmen müssen (Der Ministerpräsident).
Die Parlamentsreform, die vor allem die Rechte der Opposition stärken soll, treibt löblicherweise die Regierungsfraktion voran, gegen die Bedenken der Opposition und des Ministerpräsidenten. Die Reform wird in Kiel als Konsequenz aus der Barschel-Affäre verkauft, eine Verwischung der Lehren. Denn die Zivilcourage der untergebenen Beamten und der umgebenden Minister und Parteifreunde hätte den machtbesessenen Doppeldoktor aufhalten können, nicht aber eine Parlamentsreform. Der hatte sie alle in seinem Bann, da wurde gezittert (Der Bürobote).
Die Affäre liegt wie eine Keule in den Händen der Regierung. Wenn die CDU im Jahr danach doch mal das Haupt hob, bekam sie ihre Verfehlungen unter Barschel um die Ohren geschlagen. Die Schläge treffen immer ins Schwarze.
Den Namen "Barschel" nimmt kaum noch jemand in den Mund. Der Mann scheint das Landeshaus nie betreten zu haben. Es existiert nur eine düstere Vorzeit, von der alle wissen, daß es sie gegeben hat. Nur gelegentlich verscheucht die Erinnerung die Verdrängung; wie aus dem Unterbewußtsein platzen dann die Reizworte in die Beratungen des Hohen Hauses. "Pfeiffer", entfuhr einem Abgeordneten, als der Ministerpräsident während einer Parlamentsdebatte über Computer sprach und klagte, die Regierung habe einen Nachholbedarf in der Informationsbeschaffung.
Und mitten in den Haushaltsberatungen 1989 schleuderte der Abgeordnete Meyer in die Debatte über den Einzelplan 03: "Und immer noch leben wir in diesem Lande unter dem Druck von nicht beantworteten Fragen. Noch kein Bericht aus der Schweiz über den Tod des früheren Ministerpräsidenten Dr. Uwe Barschel."
Der Geist von Barschel sei in den Haushaltsberatungen wiederauferstanden, meint die Kultusministerin, "so ein Geist von Diffamierung und auf die Integrität von Persönlichkeit zielende Strategien". Eine neue politische Kultur habe sich in Schleswig-Holstein noch nicht durchgesetzt, resümiert der Umweltminister. Barschel habe auch Gutes geleistet, gibt der Sozialminister zu bedenken. Wir wollen aus gutem Eigeninteresse des Landes heraus die unselige Vergangenheit nicht jede Woche wieder neu ins Gedächtnis rufen (Der Ministerpräsident). Die Finanzministerin befürchtet, "daß es in vier, fünf Jahren knallt und die Leute dann fragen, warum haben wir damals nicht darüber geredet?"
Da ruft doch einer von nebenan aus dem Fenster: Na haste Feierabend in deiner Mafia-Bande! (Der Bürobote). #