Rumänien Im Zwinger
Seine Glieder waren verkrampft an den dürren Körper gepreßt, aber seine Augen schienen auf dem Foto noch hellwach und dem Betrachter zugewandt: Am Montag, dem 26. März 1990, als das Bild von Sandor Balogh im SPIEGEL erschien, lag das Kind im "Salon 13" des rumänischen Jagdschlosses Cighid schon tot in seinem Bett - seit 1988 die 123. Leiche in diesem Kindervernichtungsheim.
Sandor, 13 Jahre alt geworden, war im Februar in der neuropsychiatrischen Klinik der Kreisstadt Oradea untersucht worden. In diesem Haus, wo der Intelligenzquotient der Kinder darüber entschied, ob sie noch medizinische Hilfe haben sollten oder nicht, hatte er sein Todesurteil erhalten: Ab nach Cighid. 43 Tage später starb Sandor.
In Hamburg mußte am Erscheinungstag des Artikels die Telefonzentrale des SPIEGEL personell verstärkt werden. Viele Leser wollten helfen, und Hilfe kam schnell. Das Deutsche Rote Kreuz in Bonn informierte seine Ärzte in Rumänien über das Horror-Kinderheim von Cighid.
In Cluj (Klausenburg) unterbrach der Mediziner Valentin Kelbling, 38, seine anstrengende Arbeit, mit nur einem Assistenten ärztliche Hilfe für rund 1000 Krankenhäuser und Ambulatorien, Kinder- und Altenheime zu organisieren. Cighid rückte in der Prioritätenliste auf den ersten Platz.
Sofort fuhr Kelbling in das etwa 200 Kilometer entfernte Kinderheim. In den Betten sah er Kinder "zwischen Dreck aus Exkrementen und Erbrochenem". Unter den über 100 Heimopfern konnte er vier Todeskandidaten erkennen: zwei Kinder mit Schädelhirntrauma, ein Kind mit einer angeschwollenen Gesichtshälfte, gefüllt mit Eiter, und ein fast verhungertes Kind.
Der DRK-Arzt, einst wegen des Numerus clausus daheim zum Studium nach Rumänien ausgewichen, ließ die vier Cighid-Kinder ins Krankenhaus der Kleinstadt Salonta bringen.
Vor ihm war schon eine DRK-Gruppe in Cighid gewesen. Daß dort Euthanasie durch Verwahrlosung betrieben wurde, hatte sich den Westdeutschen nicht erschlossen, zumal ihr Auftrag von der DRK-Zentrale auf materielle Bedarfsermittlung begrenzt war.
In Cighid wie in den anderen acht rumänischen Endstationen mit 1425 Plätzen für geistig behinderte Kinder ging die mörderische Mißachtung weiter - bis Kelbling geschickt wurde, ausgestattet mit Sondervollmachten und 20 000 Mark. Binnen zwei Tagen engagierte er 50 Putzfrauen, um den gröbsten Dreck zu beseitigen; sechs sprangen ab, als sie sahen, was sie tun sollten, acht nahmen kein Geld für ihre Arbeit an.
Dann rollte die erste Hilfe der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie an. Die vom Hamburger Amt für Jugend freigestellte Ärztin Charlotte Köttgen, 48, und ihre Kollegin Annette Pfeiffer, 40, übernahmen die Betreuung der Opfer und wiesen weitere 20 Kinder in die umliegenden Krankenhäuser ein.
Immer wieder diagnostizierte die Medizinerin Pfeiffer bei den Kindern eine Kombination von Unterernährung und Rachitisfolgen mit bleibenden Knochenverformungen, Anämie, Krätze und Kälteschäden.
Ihre Kollegin Köttgen sah Kinder, die wegen jahrelanger Bewegungslosigkeit im Bett die Beine nicht mehr geradebiegen konnten - "Fälle, die in keinem modernen Lehrbuch der Kinderheilkunde zu finden sind, weil es sie schon lange nicht mehr gibt."
Unterdessen installierte ein Team vom Arbeiter-Samariterbund binnen zwei Tagen zwei Bäder, und zum erstenmal floß in Cighid warmes Wasser aus der Leitung.
Als der Feuerwehrtechniker Christian Klein, 27, morgens in das Heim kam, entdeckte er, daß wieder zwei Mädchen in einem fensterlosen Käfig eingesperrt waren. Er entschloß sich, mit den aus Deutschland mitgebrachten Motorsägen Feuerholz zu machen und damit den Menschenzwinger vollzustapeln, so daß für Kinder darin kein Platz mehr war.
Dann traf aus Bukarest der Vizeminister für Gesundheit, Bogdan Marinescu, ein. Die elendigsten Kinder waren weg, im Kinderkäfig kein Kind mehr, der "Izolator" ein leerer, sauberer Raum, statt Pappe nun Glas vor den Fenstern, die verdreckten Matratzen verbrannt, die Betten gemacht, die Müllberge vor dem Haus mit einem Bagger weggeschoben. Trotzdem erschienen dem Minister die Zustände in Cighid noch immer "unerträglich".
Mit den Behörden des Kreises Bihor wurde abgemacht, daß zwei rumänische Ärzte sich um die Kinder kümmern sollen, dazu 10 Krankenschwestern, 26 unausgebildete Kinderpflegerinnen, 6 Putzfrauen, zwei Schneiderinnen und ein Maler. Kurzfristig muß nun improvisiert werden, langfristig kann aber über die Sanierung von Cighid erst nach den rumänischen Wahlen im Mai entschieden werden.
Während der Minister im nahen Krankenhaus von Salonta an einer gut gedeckten Tafel im Parterre bewirtet wurde, lag oben in der Kinderabteilung Alexandra Rezmues, 3, dem Tod nahe am Tropf. Sie wurde ebenfalls in Oradea für Cighid selektiert, als sie sich noch auf ihre dürren Ärmchen hatte stützen können. Sie traf an dem Tag ein, als Sandor Balogh tot in seinem Bett lag. f