„Wir fühlen uns wie in Äthiopien“
Die Kinder sind die Zukunft der Nation! Die Kinder sind der Frühling unseres Volkes! Sie stellen den Kommunismus dar!
Die 62 Kinder in dem grünen Haus hinter dem grünen Eisenzaun haben ihre Zukunft bereits hinter sich; 62 Säuglinge, nur ein paar sind älter als ein Jahr. Die kräftigsten werden den Frühling erleben, aber kräftig ist keines von ihnen. Alle sind unterernährt, viele krank, winzige Schatten, Gerippe mit grauen Menschengesichtern. Einige schreien, doch auch ihr Schreien ist bloß ein dünnes, spitzes Wimmern. All diese Kinder, das ist gewiß, stellen die rumänische Abart des Kommunismus dar.
Die Dystrophie-Abteilung, die Station für unterernährte Säuglinge des Kinderkrankenhauses von Temesvar, liegt mitten in der Stadt, an offener Straße und doch wie unsichtbar in einem Park versteckt, allen Bürgern ein Geheimnis. Seit zehn Jahren wurden hier unterernährt geborene Babys, Kinder von unterernährten Müttern, so lange weiter unterernährt, bis sie starben oder von ihren Eltern wieder abgeholt wurden. Die meisten setzten ihr Scheinleben im Waisenhaus fort.
Die Fenster der kleinen Zimmer sind noch immer mit schwarzen Vorhängen verhüllt: Als in Temesvar Mitte Dezember die rumänische Revolution losbrach, hatten die Verteidiger des Ceausescu-Reiches auch auf die Krankenschwestern geschossen - die wickelten gerade die Babys.
"Die Geheimpolizisten der Securitate wollten sogar unsere armseligen Kinder töten", sagt die dicke Assistenzärztin Simona Stoca, 29, auf ewig entsetzt: "Kinder, die Zukunft der Nation!"
Obwohl Ceausescu vom Erdboden verschwunden ist, erschossen von der Armee; obwohl seine imperialen Porträts und Losungen von den Wänden getilgt sind; obwohl nur der Haß noch von ihm zeugt - seine Kinder-Lügen haben sich sogar in der Hungerstation eingenistet. Doch dann besinnt sich Simona Stoca: "Wo doch Ceausescu die Frauen zwang, Kinder zu machen." Ihr Haß siegt über ihre Dressur.
Soldaten mußten die Krankenschwestern beschützen, wenn sie über die Straße huschten, um in der Krankenhausküche das Essen zu holen.
Essen? Die neun Kinder in Zimmer 1 wimmern nicht mal mehr. Eines schüttelt unaufhörlich das graugrüne Köpfchen. "Vitaminmangel", sagt die Ärztin, als ob das alles erklärte. Als seien sie erfroren, liegen die Babys da, große schwarze Augen auf den schäbigen weißen Kissen starren und starren, ohne zu sehen. An der Wand ein kleiner Wickeltisch mit einem Stapel Stoffwindeln, daneben die Badewanne unter dem rinnenden Wasserhahn. Ein kleiner Heizofen soll alle wärmen.
"Wir hatten im Dezember nicht mehr als zwölf Grad", sagt Simona Stoca, "wo es doch für unsere Kinder mindestens doppelt so warm sein müßte, damit sie leben können." An diesem klaren Januarmorgen hat sie 16 Grad gemessen, den Babys in den Gitterbetten ist weder Behagen noch Unbehagen anzusehen, ihre Welt ist Mangel und noch immer nicht gestillter Hunger.
Die Kinder in Zimmer 2 sind alle krank, sie leben nur mit halber Kraft, Infektionen wehrlos preisgegeben. Alle sind krank, bis auf Ciclovon. Glücklich hebt ihn die Ärztin heraus: "Ist das nicht ein schönes Kind? Bei ihm haben wir es geschafft." Ciclovon, acht Monate alt, wird leben, er zaubert sogar ein Lächeln in sein bleiches Gesicht, dann lacht er glucksend.
Im ersten Stock wurden die einjährigen Kinder unterernährt, sie sind schmächtig wie Neugeborene. Der kleine Tudor ist eigentlich über den Berg, aber wo sind seine Eltern? Seine Eltern, Tagelöhner auf einer "Farm", einer Kolchose im Banat, sind verschollen. Solche Verhältnisse sind alltäglich, solche Familien werden "unorganisiert" genannt.
Die Dorfärzte wurden bestraft, wenn ein Neugeborenes starb, ehe es ein Jahr alt war: Aus Angst schoben sie Frühgeburten und kranke Säuglinge aus kinderreichen Familien eilends in die Hungerstationen ab.
Hans ist ein Wunderkind: Von Juli bis Dezember hat er gerade 300 Gramm zugenommen, in den letzten zehn Tagen jedoch 600 Gramm. Seine schorfige Haut wird bald geheilt sein.
Auch Ion, bis unters Kinn in Windeln verpackt, wog nur dreieinhalb Kilo, als er schon 18 Monate alt war - jetzt wächst auch er.
Die Revolution hat der Hungerstation Lebensmittel beschert, Geschenke aus Ungarn, Italien, Belgien und Deutschland. Im schmalen Büro der Stationsärztin lagern, hinter doppelt verschlossener Tür, unbegreifliche Schätze: Babynahrung und Milchpulver. Am Tag vor Heiligabend kam die Nothilfe kistenweise an, eine andere Art von Leben zog in die Dystrophie-Station ein. Endlich können die Unterernährten ernährt werden. Doch wenn die Vorräte verbraucht sind, wird wieder die alte Not herrschen.
"Wir haben uns oft wie in Äthiopien gefühlt", sagt Rodica Costa, 35, die Stationsärztin, "nur hatten die dort mehr Medizin." Für Medikamente standen ihr täglich vier Lei pro Kind zu, ein Hohn, Antibiotika erreichten ihre Station nie, "wir kamen immer ganz zuletzt".
Der Brei für die hungernden Kinder war dünn, "enthielt zuwenig Proteine, nirgendwo gab es Milchprodukte zum Aufbau". Um einen Säugling in Temesvar menschenwürdig ernähren zu können, hätte sie 50 Lei am Tag benötigt - "bei diesen Schwarzmarktpreisen".
Wenn keine Milch geliefert wurde, mußte Gries in Tee genügen. Im Winter froren alle, warme Babykleidung kam im Etat nicht vor. Selbst ihr Personal war knapp, eine Schwester füttert, alle drei Stunden, 31 Säuglinge.
Alexander S., acht Monate alt, hat Besuch bekommen. Er liegt in den Armen seiner Mutter, die ihn weinend an sich drückt. Adriana S., 23, ist Arbeiterin in einer Schuhfabrik, ledig, sie haust im Arbeiterinnenheim und darf ihr Kind erst dann zu sich nehmen, wenn sie eine eigene Wohnung gefunden hat.
Wohnungen sind kostbar in Temesvar - "und so viele Antragsteller stehen vor mir auf der Liste". Sie weint still, ihr Kind ist stumm vor Glück. Als sie merkte, daß sie schwanger war, wußte sie auch: "Ich werde ein Kind gebären, daß ich weder ernähren noch beherbergen kann. Es ist eben passiert, ich konnte nichts machen."
Sie war in ihrer Schuhfabrik bespitzelt worden, so lange, bis eine ihrer Kolleginnen ahnte, wie es um sie bestellt war, und sie als werdende Mutter anzeigte. Abtreibung war unmöglich: Schon früher war Adriana S., wie andere Rumäninnen auch, alle drei Monate in die Frauenklinik kommandiert worden - zur gynäkologischen Untersuchung.
Nicht aus Fürsorge um ihre Gesundheit, sondern aus Neugier auf Schwangerschaften: Wer schwanger war, mußte gebären. Meist stand eine Securitate-Agentin dabei, "eine von der Menstruations-Polizei", wie die Arbeiterinnen bitter höhnten. "Wer nach angemessener Zeit nicht mit einem Kind niederkam", sagt die Stationsärztin Costa, "geriet ins Kreuzverhör."
Wurde Abtreibung vermutet, inszenierte der Ceausescu-Staat ein Strafverfahren. Eine der Schwestern aus der Hungerstation, eine ältere Frau, hatte abgetrieben, gesteht sie - und büßte mit dreieinhalb Jahren Gefängnis. Das Securitate-System konnte nur funktionieren, wenn das ganze Volk sich daran beteiligte und sich als Informationsquelle ausbeuten ließ; stets in der schamlosen Hoffnung auf kleine Vergünstigungen für kleine Hinweise.
Ceausescu hatte sein Volk zum Gebären verurteilt: 1966 ergriff ihn, wie einen Gott, der Wahn, er müsse den Neuen Sozialistischen Menschen erschaffen, und also befahl er seinen 19 Millionen Untertanen die Produktion von Kindern. Im Jahr 2000 sollten ihm 30 Millionen Rumänen huldigen. In seinen Phantasien gefiel er sich als der gemeinsame Vater aller. Kinderlose konnten nur gegen ihn sein. Sexualerziehung, Geburtenkontrolle und Abtreibung wurden verboten.
Sexualerziehung und Geburtenkontrolle waren auch vor dem Gesetz Nr. 770/1966 nichts als exotische Begriffe gewesen: Die Abtreibung galt in Rumänien als die traditionelle Form der Familienplanung. Sie kostete 30 Lei.
Plötzlich war Liebe kein Kinderspiel mehr: Schwere Gefängnisstrafen drohten allen Frauen, die abtrieben, noch ehe sie 45 Jahre alt waren und vier Kinder geboren hatten, alle Kinder mußten unter 16 sein. 1985 wurde das Gebärsoll auf fünf Kinder erhöht.
Kaiserschnitte gewährte der Staatsanwalt, wenn er sie gewährte. Wer das Gesetz übertrat, verstieß nicht nur gegen die Ordnung, er schloß sich auch als Deserteur aus der sozialistischen Gesellschaft aus.
Die Kindersterblichkeit stieg unaufhaltsam, zuletzt waren von 1000 Neugeborenen 83 tot, das war europäischer Rekord. So dramatisch war die Kindersterblichkeit schließlich gestiegen, daß Babys erst dann ins Geburtenregister eingetragen wurden, wenn sie ihre ersten sechs Wochen überlebt hatten.
Von zehn Säuglingen kam eines mit zu geringem Gewicht auf die rumänische Welt und landete beispielsweise in der Hungerstation von Temesvar. In Temesvar gibt es seit 1984 sogar zwei Abteilungen für Dystrophie, die zweite ist in den Vororten untergebracht. In allen rumänischen Städten werden die Unterernährten und die davongekommenen Frühgeburten vor dem Volk verborgen. Denn, sagt die Stationsärztin Rodia Costa, "das Gesetz verbot zwar Abtreibungen, aber es sorgte sich nicht um das Leben".
Unerwünschte Kinder kamen zu Tausenden zur Welt, in eine Welt, in der selbst erwünschte Kinder nicht satt wurden - und landeten in einer Hungerstation.
Mütter, die vergebens abzutreiben versuchten, störten dabei die Entwicklung des Embryos, das gestörte und behinderte Kind landete in einer Hungerstation.
Heimlich Geborene wurden von ihren verzweifelten Müttern auf Bahnhöfen ausgesetzt, in Kirchen versteckt und vor Hochhäusern aufs Pflaster gelegt: Sie landeten in einer Hungerstation.
Die acht Brutkästen der Frauenklinik Bega der Universität von Temesvar sind überbelegt, in einem kämpfen zwei Babys gegen den Tod: Unterernährte Sieben-Monats-Kinder mit Infektionen, Kinder von infektionsgeschwächten Müttern. Das Elend trägt den Namen Ceausescu.
Auf der Intensivstation sucht eine junge Frau Rettung vor dem Verbluten, sie ist, sie war im fünften Monat schwanger und hat die Abtreibung selber eingeleitet - "mit einer Sonde". Sie hängt am Tropf, drei Ärzte stehen mit ernsten Mienen an ihrem Bett, Puls 130, 40 Grad Fieber - "und wir haben keine Antibiotika", sagt der Chefarzt.
Mariana B. ist 29 Jahre alt und von Beruf Weberin: Sie mußte ihr zweites Kind gebären, obwohl sie und ihr Arzt seinen Tod vorhersagen konnten, es starb im Sommer 1988 mit zwei Jahren an Gehirnentzündung, Folge einer Infektion im Mutterleib.
Nun war sie wieder schwanger und krank geworden, die gleiche Infektion - und sie wollte kein krankes Kind mehr haben. Mit geschlossenen Augen, den Kopf zur Seite gedreht, macht sie ihr Geständnis: "Früher hätte ich das nie gewagt. Ich will Kinder haben, aber nur, wenn ich wieder gesund bin."
Die Revolution hat das Früher abgelöst, aber nicht ausgelöscht. Daß die Revolution wirklich stattgefunden hat und ihr Leben verändern wollte, begriffen die rumänischen Frauen, als die neue Regierung in ihrem allerersten Dekret auch die Abtreibungsgesetze aufhob. Das war so revolutionär wie das Ende der Lebensmittelrationierung und die Abschaffung der Todesstrafe.
Und am 6. Januar veröffentlichte die Ärzte-Zeitschrift Medizinisches Leben zum ersten Mal seit 23 Jahren eine Statistik der Abtreibung. 1984 waren, das hatte Ceausescu noch ermittelt, 471 Frauen bei der Abtreibung gestorben, ihre 799 Kinder wurden zu Waisen.
Die Mediziner begannen zu rechnen: Wenn seit 1966 Jahr für Jahr mindestens 500 Frauen Opfer von Engelmacherinnen oder der eigenen Hand geworden waren, die Wahrscheinlichkeit ist groß, betrug ihre Todesziffer 11 550, und: Sie hinterließen 19 550 Waisen; allesamt Ceausescus Kinder.
War daraus seine mörderische Leibgarde entstanden, die Killerschwadronen der Securitate, die bis nach seinem Tod gegen die Revolution kämpften?
Ioan Munteanu, 51, Chefarzt der Bega-Klinik, rief während des Aufstandes über Radio Temesvar alle Frauen mit Problemen auf: "Kommt in die Klinik! Wir helfen euch!" Die Frauen verstanden sein Angebot genau, sie kamen zu Hunderten, endlich konnten sie sich offenbaren, denn auch zwischen die Ärzte der Krankenhäuser hatten sich Securitate-Spitzel geschlichen. Seitdem nimmt Munteanu bis zu 50 Abtreibungen täglich vor, nicht von Frauen selbst eingeleitete Abgänge.
"Das ist natürlich keine Lösung", klagt er, "wir fallen zurück auf das Jahr 1966, jetzt gilt wieder das alte Gesetz, 30 Lei pro Abort." Aber, sagt er traurig, "die Frauen wollen die Kinder nicht, was begreiflich ist, denn alle sind unterernährt. Das ganze Volk ist unterernährt, wer das leugnet, der lügt". f