MINISTER Auf Distanz
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist von ihrem Mitglied Hans Schwier, 58, enttäuscht, wieder mal. "In aller Heimlichkeit", so ließ der nordrhein-westfälische GEW-Vorsitzende Alf Hammelrath vergangene Woche mitteilen, habe der NRW-Kultusminister Schwier einen "Schritt in die falsche Richtung" getan.
Dorthin bewegt sich der Minister nach GEW-Ansicht mit dem jetzt vorgelegten Entwurf einer "Verordnung über die Abschlüsse und die Versetzung in der Sekundarstufe I", der - falls der NRW-Landtagsausschuß für Schule und Weiterbildung zustimmt - "die Leistungsanforderungen in allen Schulformen erhöht" (Schwier).
Kernpunkte: Von der 10. in die 11. Klasse soll nur noch steigen, wer eine Fünf in einem Hauptfach wenigstens mit einer Drei in einem anderen Hauptfach ausgleichen kann. Auch Nebenfächer wie Kunst, Musik und Sport werden "versetzungsrelevant".
Um mehr Leistung soll es künftig auch in den 53 nordrhein-westfälischen Gesamtschulen gehen. Der Entwurf sieht vor, daß die achtstufige Bewertungsskala der besseren Vergleichbarkeit wegen durch die sonst üblichen sechs Noten ersetzt wird. Und in die Sekundarstufe II soll dort nur noch aufsteigen, wer mindestens drei Leistungskurse in der Summe besser als "befriedigend" abschließt.
"Die sind wohl aufgewacht", staunte der Düsseldorfer CDU-Fraktionsvize Ottmar Pohl. Knapp fünf Monate vor der Kommunal- und ein Jahr vor der Landtagswahl "schlägt der SPD-Minister der Union zugkräftige Wahlkampfthemen aus der Hand", notierte die CDU-freundliche "Bonner Rundschau".
Politische Eigenwilligkeit hatte der einstige Volksschullehrer, Schulrat und Landtagsabgeordnete Schwier jedenfalls schon als NRW-Wissenschaftsminister (1980 bis 1983) gezeigt: Er schmolz das Studienplatzangebot für angehende Lehrer ein, verpflichtete die sechs Unikliniken zum Abbau von bezahlten Überstunden und setzte die Gründung der ersten bundesdeutschen Privatuniversität in Witten/Herdecke durch.
Kaum hatte er im Herbst letzten Jahres das Schulministerium übernommen, zog er den von seinem Amtsvorgänger Jürgen Girgensohn publizierten Entwurf einer Grundordnung für die Sekundarstufe I zurück. Der Kurs der sozialdemokratischen Bildungspolitik in Nordrhein-Westfalen begann sich zu ändern.
Weil ihm im schülerreichsten Bundesland (2,98 Millionen Schüler) die "Frage nach der heute notwendigen Bildung so wichtig" erschien "wie im vorigen Jahrhundert die soziale Frage", setzte Schwier beinahe Woche für Woche Zeichen, wie er sie zu beantworten gedachte. Anregungen, das Abitur bereits nach zwölf Jahren zu ermöglichen, verwarf er rundheraus: Mehr statt weniger, heißt jetzt die Parole. Gymnasiasten der Sekundarstufe II können künftig Kernfächer nicht mehr abwählen. Und auch NRW-Hauptschüler haben voraussichtlich ab 1986 zehn statt neun Pflichtschuljahre zu absolvieren - Baden-Württemberg und Bayern "sollen uns nicht mehr zu niedrige Standards vorhalten können" (Schwier).
Um "Parteipolitik aus der Schule zu verbannen", piekste Schwier mal nach rechts, mal nach links. "Bildungspolitik", so seine Überzeugung, "muß von 65 Prozent der Bevölkerung getragen werden." Die Verteilung des rechtslastigen "DDR-Kalenders 1984" des Bonner Gesamtdeutschen Instituts stoppte er ebenso wie einen Aushang der GEW für einen Schülerwettbewerb zum Thema Arbeitszeitverkürzung.
Der GEW, deren Mitglied Schwier seit 30 Jahren ist, hielt er überhaupt eine Menge vor: Lehrer dürften "Pluralismus nicht mit Orientierungslosigkeit verwechseln"; "innerhalb einer Schule" müsse "ein Grundkonsens über die zu beachtenden oder zu vernachlässigenden Regeln" herrschen.
Und weil die GEW auf dem Treffen ein Votum für die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ablegen wollte, hakte Schwier in seiner Rede auch dieses Thema gleich mit ab: "Eine 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich für Lehrer halte ich für illusorisch." Der Lehrerberuf sei nicht mit dem eines Metallers zu vergleichen.
Statt dessen legte er den Lehrern nahe, für zwei Wochenstunden weniger Arbeit auf vier Prozent Gehalt zu verzichten, damit so 6000 Junglehrer eingestellt werden können. Schwier zu den GEWlern: Viele der nun arbeitslosen Junglehrer "sind qualifizierter als manche, die in den vergangenen Jahren, in den Zeiten des Lehrermangels, eingestellt worden sind".
Daß der Minister nicht zuletzt auch an der Qualifikation mancher GEW-Pädagogen zweifelte, wurde hausintern besonders deutlich. Schwier-Vorgänger Girgensohn hatte mit der Zeit viele wichtige Posten des Ministeriums und fast 50 Prozent der Schulaufsicht im Land mit GEW-Leuten besetzt, die schließlich die entscheidende Hausmacht abgaben. Schwier dirigierte in seinem Hause Kompetenzen um oder ignorierte sie.
Entscheidungen von Belang, die Girgensohn nie ohne das Plazet der GEW zu treffen wagte, bespricht Schwier "zuerst mit den kompetenten Fachleuten". Die GEW habe zwar "eine notwendige Rolle", so erläutert er, "aber die Rolle des Kultusministers ist nicht die eines GEW-Funktionärs, und GEW-Funktionäre sind auch nicht so etwas wie Hilfstruppen des Kultusministers".
Daß ein sozialdemokratischer Schulminister sich solche Distanz zur Lehrer-Gewerkschaft (43 000 Mitglieder in NRW, davon zwei Drittel Sozialdemokraten, ein Drittel Alternative und Kommunisten) leisten kann oder vielleicht sogar muß, liegt vornehmlich an der _(Beim Besuch des ) _(Werner-Heisenberg-Gymnasiums in ) _(Leverkusen. )
Gewerkschaft selber. Das einst einflußreichste bildungspolitische Diskussionsforum für Sozialdemokraten ist nicht nur in den Augen des SPD-Politikers Schwier "zu sehr Standesorganisation der im Amt befindlichen Lehrer" geworden, "mit einem chronischen Hang zu pädagogischen Traum-Klischees und zum Protest gegen die Obrigkeit", dabei häufig "von Minoritäten gegängelt" und in Sachfragen "bis auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner unter sich zerstritten".
Öffentlich wurde der Riß zwischen nordrhein-westfälischer SPD und GEW im Herbst 1981. Damals mußte auf Druck der GEW-Linken die kompromißbereite Ilse Brusis den Vorsitz des Landesverbandes an den Essener Schulrat Alf Hammelrath abgeben. Auf derselben Tagung stellten GEW-Lehrer den Antrag, den Beamtenstreik einzuführen und Ministerpräsident Rau samt vier seiner Minister wegen gewerkschaftsschädigenden Verhaltens in Sachen Sparpolitik aus der GEW auszuschließen. Bis heute ist Rau nach Ansicht der NRW-GEW "arbeitnehmerfeindlich" und "führend im Einkommensklau".
Auf Schelte muß sich auch Schwier gefaßt machen, wenn er demnächst damit anfängt, den Einfluß der Lehrer-Gewerkschaft auf die derzeit größte GEW-Domäne zurechtzurücken: die Gesamtschule. Erstmals ist mit Schwier in NRW ein SPD-Kultusminister bereit, nicht nur die Stärken der Gesamtschule zu loben, sondern sich auch mit deren Schwächen zu beschäftigen. Fazit einer internen Bestandsaufnahme im Hause Schwier: NRW hat neben einigen hervorragenden auch die schlechtesten Gesamtschulen im Bundesgebiet, was nicht am System, sondern an "Fehlentwicklungen" liege.