ARBEITSLOSE LEHRER Alles oder nichts
Eine gute und eine schlechte Nachricht wird Nordrhein-Westfalens Kultusminister Hans Schwier (SPD) diese Woche zu dem Thema erhalten, das ihn mehr beschäftigt als jedes andere. Es geht um seinen Vorschlag, den 590 000 bundesdeutschen Lehrern das Gehalt um vier Prozent und die Arbeitszeit um eine Unterrichtsstunde zu kürzen, um vom eingesparten Geld 18 000 bis 22 000 Stellen für arbeitslose Lehrer zu schaffen.
Die gute Nachricht: 80 Prozent der Bundesbürger bejahen seinen Vorschlag, ergab eine Umfrage des Bielefelder Emnid-Instituts für den SPIEGEL (siehe Graphik). Die Mehrheiten sind - wie das Institut auszählte - in allen Gruppen der Bevölkerung gleich groß, bei den Armen wie den Reichen, den Jungen wie den Alten, den Linken wie den Rechten, den Kirchgängern wie den Konfessionslosen. Und sogar die Wähler der CDU/CSU und der Grünen, sonst fast immer verschiedener Meinung, sind sich in diesem Punkt einig.
Eine solche Übereinstimmung stellen die Meinungsforscher nur selten fest. Daß fast alle Bundesbürger den Kampf gegen das Waldsterben für "besonders wichtig" oder "wichtig" erklären, war ein solches Ergebnis. Ging es bei Umfragen um Lehrer und Schulen, hat es noch nie eine so große Mehrheit für irgendeinen Beschluß oder Vorschlag gegeben.
Die schlechte Nachricht: Zwar bringt Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Johannes Rau den Vorschlag seines Kultusministers auf die Tagesordnung der Konferenz, zu der sich die Länderchefs am Mittwoch dieser Woche in Bonn versammeln. Aber der Vorschlag hat dort fast keine Chance, akzeptiert zu werden.
Allenfalls wird es eine Kompromißformel geben, die alles offen läßt. Aber nicht mal darauf konnten sich die Chefs aller Staats- und Senatskanzleien einigen, als sie am 30. November das Treffen der Ministerpräsidenten vorbereiteten.
Die Fronten sind starr. Die Kultus- und Länderchefs der CDU/CSU wollen nur an die Lehrer appellieren, sie sollten freiwillig ihre Arbeitszeit und dementsprechend ihre Bezüge kürzen. Schwier
und Rau hingegen glauben, ohne Zwang nicht mehr zu einer halbwegs erträglichen Lösung kommen zu können.
Geschieht nichts, schliddert die Bundesrepublik in eine neue Bildungskatastrophe. Schaden droht nicht nur den Junglehrern, sondern auch den Schulen und Schülern.
Noch 1981 wurden mehr Bewerber eingestellt als abgewiesen, seither ist es umgekehrt, und die Zahl der arbeitslosen Lehrer steigt sprunghaft an. Im vergangenen Jahr fand nur jeder vierte Bewerber eine Stelle, und ein totaler Einstellungsstopp rückt näher.
Bei den Arbeitsämtern sind 25 000 arbeitslose Lehrer registriert, aber nicht alle haben sich dort gemeldet. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) schätzt, daß es bereits 60 000 Lehrer gibt, die arbeitslos sind oder nach dem Auslaufen befristeter Verträge binnen kurzem werden.
Die Zahlen werden in den nächsten Jahren weiter steigen. Für 1990 liegen die Hochrechnungen zwischen 10 000 und 120 000, dann wäre jeder sechste Lehrer arbeitslos, und damit wäre die Quote höher als in fast allen anderen Berufen.
Das Problem verschärft sich auch deshalb, weil die Schülerzahl erheblich zurückgeht, von 12,2 Millionen im Jahre 1975 auf 8,3 Millionen im Jahre 1992. Die sogenannte Schüler-Lehrer-Relation würde sich in einigen Ländern gar nicht verschlechtern, wenn von den Stellen der Lehrer, die in Pension gehen, keine einzige wiederbesetzt würde. In allen Bundesländern versuchen die Kultusminister die Finanzminister daran zu hindern, allzu radikal Lehrerstellen zu streichen - mit unterschiedlichem Erfolg.
Wer nur die Zahlen sieht, mag die Arbeitslosigkeit von 25 000 oder sogar von 100 000 Lehrern in einem Land mit insgesamt 2,2 Millionen Arbeitslosen für ein Teilproblem halten, das nicht gewichtiger ist als viele andere. Aber es gibt Besonderheiten.
Die Schulen drohen zu "vergreisen". 1980 waren die meisten Lehrer (62 Prozent) jünger als 40 Jahre, bei einem Einstellungsstopp würden 1990 umgekehrt die meisten (84 Prozent) über 40 Jahre alt sein.
"Arbeit hätte ich genug", sagt Schwier und weiß sich in dieser Meinung mit seinen Minister-Kollegen einig. Noch immer fällt Unterricht aus, und es fehlen zum Beispiel Lehrer, um kleine Schulen trotz schrumpfender Schülerzahlen zu erhalten, um schwächere Schüler zu fördern und um Türkenkinder ordentlich zu unterrichten.
Anders als andere Jungakademiker haben die Lehrer nach Studium und Ausbildung nur einen potentiellen Arbeitgeber: den Staat. Sinnvolle Alternativen bieten sich derzeit für einige Tausend, aber nicht für etliche Zehntausende.
In allen Bundesländern wurden in letzter Zeit die rechtlichen Möglichkeiten für Lehrer erweitert, freiwillig auf Teilzeit-Beschäftigung überzugehen oder sich beurlauben zu lassen. Obwohl schon jeder fünfte Lehrer teilzeitbeschäftigt ist (überwiegend sind es Frauen), ist die Zahl der arbeitslosen Lehrer gestiegen.
Und auch die zwei Dutzend Ideen, die derzeit von den Experten in den Kultusministerien erörtert werden, sind nicht geeignet, die drohende Katastrophe abzuwenden. Entweder kosten sie zuviel Geld, oder sie bringen zuwenig Stellen.
Eine Lösung, wie sie Bundesverteidigungsminister Manfred Wörner vorige Woche für die Bundeswehr verkündete, brauchen die Kultusminister für das Lehrerproblem nicht mal in ihren Planungsstäben durchspielen zu lassen. Während Wörner nur 1500 Offiziere vorzeitig in Pension schicken will, müßten schon zehnmal mehr Lehrer zur Ruhe gesetzt werden, wollte man auf ähnliche Weise Platz für jüngere schaffen. Und wollten die Kultusminister die Lehrer von den Kathedern mit so hohen Abfindungen (bis zu 42 000 Mark) und erhöhten Pensionsansprüchen locken wie Wörner die Offiziere aus den Kasernenhöfen, müßten ihre Etats um Hunderte von Millionen Mark aufgestockt werden.
Schwier ist angesichts dieser Ausweglosigkeit entschlossen, seinen Vorschlag weiter zu verfechten, "solange es keinen besseren gibt".
Von den Unions-Ministern hat nur Bayerns Hans Maier ihn öffentlich immerhin für diskutabel erklärt. In internen Sitzungen und Papieren lehnen ihn allerdings nicht alle CDU-Kultusminister so entschieden ab, wie es nach außen scheint.
Trotzdem ist eine Einigung auf den Schwier-Plan oder irgendeine Variante nach derzeitigem Stand nicht gerade wahrscheinlich, denn zu viele Hindernisse müßten überwunden werden.
Notwendig wären Mehrheiten im Bundestag und in allen Landtagen. Für das Besoldungsrecht ist Bonn zuständig, die Arbeitszeit der Lehrer ist landesrechtlich geregelt.
Weil das Grundgesetz den Schutz des Berufsbeamtentums garantiert, ist es umstritten, ob eine Zwangskürzung der Lehrergehälter vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen könnte. Dies wird nicht nur von CDU/CSU-Ministern bezweifelt oder sogar verneint, sondern auch von einigen Innen- und Finanzministern der SPD.
Schwier hingegen ist davon überzeugt, daß eine Gehaltskürzung um vier Prozent (zum Beispiel um netto 100 bis 130 Mark bei Bruttobezügen zwischen 3600 und 5900 Mark) "keine unzumutbare Beeinträchtigung" jener Versorgung ("Alimentation") wäre, zu der der Staat gegenüber Beamten verpflichtet ist. Der Minister würde der Klage eines Betroffenen und einem Verfahren in Karlsruhe "mit Gelassenheit entgegensehen".
Schwier will die Kürzung befristen, allerdings auf zehn bis zwölf Jahre - bis die Schülerzahlen wieder steigen. Er hält zwar für denkbar, daß eine Gehaltskürzung nicht auf Lehrer beschränkt bleibt, sondern auf Beamte anderer Sparten mit hohem Bewerberandrang ausgedehnt wird ("Ich bin allerdings nur für Lehrer zuständig"). Aber keinesfalls sollen Kürzungen auch für Postboten oder Polizisten beschlossen werden. Erst ab Stufe A 12 (Amtsräte, Hauptleute, wenige untere Lehrergruppen) dürften sie nach seiner Vorstellung beginnen.
Nach Schwiers Meinung könnte an die Stelle einer Gehaltskürzung auch der Verzicht auf die nächste Gehaltserhöhung treten: "Die 3,2 Prozent, die es 1984 für den öffentlichen Dienst gibt, und die 4 Prozent meines Vorschlags liegen ja dicht beieinander."
Wie auch immer der Kultusminister und Lehrer-Dienstherr seinen Plan begründet oder variiert, von den Funktionären aller Lehrerverbände wird er mindestens so entschieden zurückgewiesen wie von den CDU-Ministern. Fast wortgleich lehnen sie ein "Sonderopfer" der Lehrer ab.
"Die Arbeitslosigkeit unter Lehrern", doziert zum Beispiel die GEW, "muß als Teil der Gesamtarbeitslosigkeit gesehen werden, sie kann deshalb auch nur im Rahmen eines Gesamtkonzeptes gelöst werden." Ähnlich äußern sich die anderen Verbände.
Diese Argumentation ermöglicht es dem "Verband Bildung und Erziehung" (105 000 Mitglieder), *___einerseits festzustellen, daß die arbeitslosen Lehrer ____"durch ihren besonderen
Status als Beamtenanwärter ohne jede soziale Absicherung, ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld, Krankengeld oder Beihilfe vor dem Nichts stehen", *___andererseits es für "zynisch" zu erklären, "daß primär ____die Lehrer dazu ausersehen sein sollen, ihren Nachwuchs ____in Arbeit und Brot zu bringen".
Ob alle Lehrer über den Schwier-Vorschlag so negativ urteilen wie ihre Funktionäre, ist zweifelhaft.
Mit der SPIEGEL-Umfrage konnte zwar die Meinung der Beamten insgesamt erforscht werden (75 Prozent für den Schwier-Vorschlag), nicht aber speziell die Meinung der Lehrer. Sie machen kaum mehr als ein Prozent der Bundesbürger aus und sind in Bevölkerungs-Umfragen nur mit zwei Dutzend Befragten vertreten - zu wenigen, um deren Meinung für repräsentativ zu halten.
Aber die GEW selbst war es, die ein Indiz für Meinungsunterschiede zwischen ihrer Spitze und ihrer Basis lieferte.
Als bei einer GEW-Untersuchung nach der Meinung über eine Gehaltskürzung zugunsten von Arbeitslosen gefragt wurde, lehnten dies zwar 35 Prozent ab, und nur 10 Prozent erklärten sich "auf jeden Fall" einverstanden.
Aber 53 Prozent der befragten Lehrer wären unter Bedingungen dazu bereit. Die wichtigste: Es müßte garantiert werden, daß die eingesparten Gelder für die Schaffung neuer Stellen verwendet würden und nicht im großen Topf der Finanzminister verschwänden.
Dazu Schwier: "Das würde garantiert, und es würde so eindeutig und anschaulich bewiesen, daß es jeden Lehrer überzeugt."
[Grafiktext]
GEHALTS-KÜRZUNG ZUGUNSTEN ARBEITSLOSER LEHRER? SPIEGEL-Umfrage: 80 von 100 Bundesbürgern für Vorschlag des Kultusministers Schwier Für den SPIEGEL fragte das Bielefelder Emnid-Institut 2000 Männer und Frauen, repräsentativ für alle Bundesbürger ab 18 Jahren: "Kürzlich hat ein Kultusminister ein Gesetz vorgeschlagen, nach dem die Lehrer eine Stunde weniger arbeiten und ihr Gehalt entsprechend um vier Prozent gekürzt bekommen sollen. Das eingesparte Geld soll verwendet werden, um Stellen für arbeitslose Lehrer zu schaffen. Sind Sie eher für oder eher gegen ein solches Gesetz?" Das Ergebnis: Für Kürzung des Gehalts um vier Prozent und der Unterrichtszeit um eine Stunde: Dagegen: Keine Angaben: Wähler der CDU/CSU und der Grünen gleicher Meinung Nahezu unabhängig von ihrer politischen Einstellung, ihrem Alter und ihrer Schulbildung bejahen die meisten Bundesbürger den Vorschlag des Kultusministers Hans Schwier (Nordrhein-Westfalen). Für Kürzung des Gehalts und der Unterrichtszeit Bundesbürger im Alter von 18 bis 21 Jahren 22 bis 25 26 bis 29 30 bis 39 40 bis 49 50 bis 64 65 Jahren und älter Wähler der CDU/CSU SPD FDP Grünen Bundesbürger je nach Schulbildung Hauptschule ohne Lehre Hauptschule mit Lehre Realschule Abitur Arbeitslose Lehrer: in drei Jahren verdreifacht Die Zahl der arbeitslosen Lehrer ist in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Bei den Arbeitsämtern wurden als arbeitssuchend registriert: Die Gesamtzahl liegt noch höher, weil sich nicht alle arbeitslosen Lehrer beim Arbeitsamt gemeldet haben. Die "Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft" schätzt die Gesamtzahl auf derzeit 60 000, Schwiers Kultusministerium auf 46 000.
[GrafiktextEnde]