MILITÄR Unbedachte Handlung
Als Manuela vom Schulausflug nach Hause kam, fanden die Eltern das zwölfjährige Mädchen "völlig verstört" und "von oben bis unten verdreckt". Das Kind erzählte eine "unglaublich klingende Geschichte".
Zwei Panzer, so berichtete Manuela, seien "direkt auf die Klasse losgefahren", sie selbst habe "zur Seite springen" müssen, um "nicht überrollt" zu werden. Soldaten, die aus der Luke guckten, hätten dazu "ganz blöd gelacht".
Die unheimliche Begegnung hatte tatsächlich stattgefunden. Über 40 Schülerinnen und Schüler der Hauptschule Kusel (Rheinland-Pfalz) waren bei ihrem Wandertag im Westpfälzer Hügelland zwei amerikanischen Schützenpanzern vom Typ M 113 ins Visier geraten - elf Tonnen schweren Kettenfahrzeugen eines in Mannheim stationierten Panzerspähzugs des 5. US-Bataillons im Frühjahrsmanöver "Cardinal Point".
Die Panzerbesatzungen bezogen die auf einem Feldweg wandernden Kinder und zwei Lehrer regelrecht in das Manöver ein. Nach Darstellung der Lehrer preschten die Panzer über Wiesen und eingesäte Felder auf die Elf- bis Zwölfjährigen zu, feuerten Übungsgranaten ab und lenkten ihre Kampfwagen, wie Schülerin Judith Schäfer schildert, "mitten zwischen unserer Gruppe durch", laut offizieller US-Darstellung "im Abstand von drei bis fünf Metern".
Aus den fahrenden Panzern wurden Rauchbomben geschleudert, die krachend am Boden explodierten. Die Kunstnebelschwaden führten nur deshalb nicht zu Verletzungen, weil, so die deutsche Polizei, "der Wind die Rauchgaswolke von den Kindern forttrieb".
Der Zwischenfall löste bei Eltern, Lehrern und Schülern "höchste Erregung" (Rektor Kurt Drumm) aus. Gegen die US-Soldaten wurde Strafanzeige wegen Bedrohung erstattet. Der Mainzer Innenminister Kurt Böckmann (CDU) forderte "restlose Aufklärung".
Dabei wird es wohl sein Bewenden haben. In der Bundesrepublik, wo täglich Panzereinheiten von sieben Nato-Armeen proben und mehr Kriegsspiele auf engstem Raum inszeniert werden als sonstwo auf der Welt, gehören Manöverzwischenfälle zum Alltag.
Da verschmutzen Nato-Panzer gesperrte Wasserschutzgebiete mit Öl, wie kürzlich im Gärtringer Tal bei Böblingen, oder sie bleiben bei Irrfahrten durch enge Wohnstraßen gleich rudelweise zwischen Kinderspielplätzen und Fahrradwegen stecken, wie Mitte März in Berlin-Lichterfelde. Kaputtgefahrene Straßen und plattgewalzte Autos gehören noch zu den harmlosen Schäden.
Für sogenannte Übungsschäden, verursacht durch "schweres Gerät", mußte allein die Bundeswehr 1983 über 37 Millionen Mark Schadenersatz an Bürger und Kommunen zahlen, die US-Streitkräfte, deren Manöveraktivitäten besonders berüchtigt sind, hatten für den gleichen Zeitraum sogar über 109 Millionen lockerzumachen.
Oft ist Fahrlässigkeit ausschlaggebend. Durch Panzer verursachte Verkehrsunfälle mit Toten und Schwerverletzten waren häufig auf Übermüdung der Fahrer zurückzuführen, auch mangelhafte Beleuchtung oder fahrerisches Unvermögen spielten eine Rolle.
Eine vorsätzliche Attacke beklagte hingegen der rheinland-pfälzische Landtagsabgeordnete Detlef Bojak. Als sich Bojak zur Manöverzeit zwecks Rettung einer neuausgebauten Ortsstraße vor einen US-Panzer stellte, um mit dem Kommandanten zu verhandeln, geriet er, wie er sagt, "in Lebensgefahr". Bojak: "Der Fahrer gab Vollgas, ich konnte mich nur durch einen Sprung zur Seite retten."
Die spektakulärsten Panzerzwischenfälle der letzten Jahre wurden freilich durch Kurzschlußhandlungen junger Nato-Soldaten ausgelöst, die Kampfmaschinen ihrer Einheiten zu folgenschweren
Privatfahrten mißbrauchten: Zu einem "Kreuzzug gegen den Osten" brach ein 22jähriger US-Unteroffizier mit seinem Panzer in Böblingen auf - er kam fast bis Stuttgart und ließ drei schrottreife Personenwagen und fünf Verletzte am Wegesrand. Weil er Rochus auf die Eltern seiner Freundin hatte, rammte ein 21jähriger holländischer Obergefreiter mit einem Leopard-1-Kampfpanzer das Elternhaus in Seedorf (Kreis Rotenburg/Wümme) - die Hauswand knickte ebenso zusammen wie fünf geparkte Autos, über die der Panzer noch hinwegrollte.
Eine ganze Stadt in Angst versetzte der 20jährige US-Gefreite Charles S. Keefer, der an einem Juli-Samstag 1982 mit einem M-60-Kampfpanzer und 66 Schuß scharfer Munition durch Mannheim brauste, Teile der Innenstadt in eine Knautschzone verwandelte, Schaden in Millionenhöhe anrichtete und außer entwurzelten Bäumen und Trümmern noch vier Verletzte hinterließ.
Verfolgt von schwerbewaffneten Militärpolizisten, rammte Keefer eine vollbesetzte Straßenbahn, zertrümmerte zehn Personenwagen, walzte Dutzende von Verkehrsschildern und Ampelanlagen platt und demolierte die Fassaden von Wohn- und Geschäftshäusern.
Als das Fahrzeug mit 50 Stundenkilometern in die Fußgängerzone eindrang und der Gefreite die Panzerkanone drohend hin- und herschwenkte, brach Panik aus. Entsetzte Passanten flüchteten aus Straßencafes und Restaurants in Toreinfahrten und Passagen. Augenzeugen berichteten hinterher: "Wir rannten um unser Leben, es war wie im Krieg." Der Panzer stürzte schließlich von der Mannheimer Kurpfalzbrücke, Keefer ertrank im Neckar.
Solche Vorfälle zeigen, daß Panzer fahren für junge Soldaten eine gefährliche Versuchung sein kann. Gerade junge Rekruten, die auf Befehl und Gehorsam getrimmt sind, können der Illusion erliegen, sie seien endlich einmal "stark, unangreifbar, siegreich", und sich dann einbilden, "sie wären James Bond" (so der Gießener Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter).
Der Münchner Diplom-Psychologe Paul Klein vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr warnt denn auch davor, Soldaten "unbesehen" als Panzerfahrer auszubilden. Leider werde in westlichen Streitkräften bei der "Auswahl der einzelnen Soldaten für bestimmte Tätigkeiten" zu stark auf "rein fachliche Qualifikation" geachtet und auf Persönlichkeitsmerkmale zuwenig Wert gelegt.
Junge Soldaten, die altersbedingte Unsicherheit gelegentlich durch "übertrieben forsches" und "vermeintlich mannhaftes Verhalten" zu überspielen versuchten, können laut Klein am Gaspedal eines Panzers einem "Machtrausch mit verheerenden Folgen" erliegen. Die US-Panzerfahrer, die deutsche Schulkinder schockten, waren laut Army-Auskunft "zwischen 18 und 20 Jahre alt". US-Dienststellen beeilten sich deshalb, die Attacke als "leichtsinnige, etwas unbedachte Handlung junger Leute" darzustellen.
Vor ein deutsches Gericht kommen die GIs nicht. Die Staatsanwaltschaft Kaiserslautern hat das Verfahren an die Amerikaner abgegeben, weil laut Nato-Truppenstatut "bei Straftaten in Ausübung des Dienstes" die US-Militärgerichtsbarkeit zuständig ist.
Ausnahmen sind nur möglich, wenn "wesentliche Belange der deutschen Rechtspflege die Ausübung der deutschen Gerichtsbarkeit erfordern". Ein "solcher Fall", erklärt der Leitende Oberstaatsanwalt Rupert Wilhelm, "schien uns nicht gegeben". Schließlich sei "kein Schaden eingetreten".