DDR Nur Schnee
Bisher war der Bezirk Dresden noch ein Stück DDR pur. Im fernöstlichen Teil der Deutschen Demokratischen Republik konnte das West-Fernsehen, mangels Reichweite, seinen verderblichen Einfluß nicht entfalten.
Jahrelang galt den SED-Ideologen diese Region mit einigen angrenzenden Gebieten als Oase des hausgemachten Sozialismus. Dort blieb das Volk, wie auch im nordöstlichen Mecklenburg (siehe Graphik Seite 99), verschont von Rudi Carrell und Jacobs Krönung, von Traumschiff und schlechten Nachrichten aus dem Reich der SED.
Das soll jetzt anders werden: Ausgerechnet die Genossen von der Staatspartei machen neuerdings Reklame für den Klassenfeind aus der Flimmerkiste.
Seit Monaten ziehen Werber, oft Mitglieder der örtlichen SED, durch die Dörfer und Kleinstädte von Freiberg bis Görlitz: Sie offerieren den Anschluß ans West-Programm, für eine Gebühr zwischen 600 und 1500 Ost-Mark - je nachdem, wieviel die Kommune zuschießt - können die Bürger Mitglied in "Interessengemeinschaften" werden. Diese Gruppen wollen das ostdeutsche TV-Notstandsgebiet mit Hilfe von Superantennen und Kabel für ARD und ZDF erschließen. Mitmachen darf jeder, ob Funktionär oder Rentner, ob Bürgermeister, Lehrer oder Dissident.
Damit die Partei das Gesicht wahren kann, gibt sie die Interessengemeinschaften als private Bürgerinitiativen aus. Aber die Behörden sind angewiesen, das Unternehmen tatkräftig zu befördern: Die notwendige Technik liefert der volkseigene Fachhandel, das erforderliche Gelände die Gemeinde.
Um das West-Fernsehen ins Dresdner Land zu holen, brauchen die ostdeutschen Techniker zweierlei: eine besonders leistungsfähige Antenne irgendwo auf einem ortsnahen Hügel, die mit Hilfe eines Verstärkers das schwache Empfangssignal aus dem Westen hochpuscht; und ein Kabelnetz, über das die Programme in die angeschlossenen Fernseher eingespeist werden.
Die Verkabelung ist schon weit gediehen: In zahlreichen Dörfern ziehen sich Leitungen an Holz- oder Eisenmasten durch ganze Straßenzüge und Eigenheim-Viertel. Manche Kommunen verlegen die Strippen sogar unter die Erde.
Dennoch klappt es nicht überall mit dem West-TV. Vielerorts taugen die Hügel nicht als Antennenstandorte: Sie sind zu niedrig, so daß nicht einmal ein passabler Empfang wenigstens des Ersten Programms garantiert ist.
Deshalb zögern viele TV-Fans, für die Mitgliedschaft im Ortsverein der West-Seher einige Hunderter oder sogar einen Tausender zu opfern. Versuche einzelner DDR-Bürger, mit Hilfe aufwendiger und komplizierter Privat-Antennen den eigenen Fernseh-Horizont auszudehnen, hat es im Dresdner Beritt immer wieder gegeben. Doch häufig langt es nur zu Schnee auf dem Bildschirm.
Der Empfang westdeutscher Programme, zu den Hochzeiten des Kalten Krieges strikt verboten und bis heute in manchen parteifrommen Kreisen verpönt, ist spätestens seit 1973 erlaubt. Damals konnten die DDR-Bürger im SED-Zentralorgan "Neues Deutschland" eine überraschende Mitteilung Erich Honeckers lesen: Vor dem Zentralkomitee hatte der SED-Chef en passant angemerkt, daß "bei uns jeder nach Belieben" Rundfunk und Fernsehen der Bundesrepublik "ein- oder ausschalten kann".
Über die Fernsehgewohnheiten im Land weiß die SED-Führung bestens Bescheid. Sie läßt immer wieder in vertraulichen Meinungsumfragen erforschen, wie die DDR-Bürger ihren Fernsehabend verbringen. 85 Prozent, so die jüngsten Zahlen, sehen regelmäßig die Nachrichtensendung "heute" im ZDF und/oder die "Tagesschau" der ARD.
Daß nun auch Dresdens Umland mit Meldungen aus dem kapitalistischen Westen versorgt werden soll, liege, so sagen SED-Leute, ganz im Interesse der Partei. Das Defizit an West-Informationen in diesem Bezirk (DDR-Spott: "Tal der Ahnungslosen") habe seit Jahren die Unzufriedenheit über Gebühr anschwellen lassen. Die Zahl der Ausreiseanträge
liege dort höher als in allen übrigen Bereichen der DDR.
Dem wolle die Partei mit ihrer Werbekampagne fürs West-Fernsehen entgegenwirken. Authentische TV-Information über Massenarbeitslosigkeit, Abbau der Sozialleistungen und neue Armut in der Bundesrepublik werde, so die Einheitssozialisten, manchen Ausreisewilligen abschrecken.
Die Hoffnung könnte trügen. Die Erfahrung zeigt, daß Republikmüdigkeit die DDR-Bevölkerung in Wellen überkommt. Nach einem Antragsschub in den Jahren 1975/76 ging die Zahl der Ausreisewilligen stark zurück; sie stieg erst wieder 1982/83 - trotz wachsender Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik.
Außerdem bleibt der erwartete Effekt des West-Fernsehens vorerst begrenzt: Dresden mit seinen 522 000 Einwohnern bleibt außen vor. Die Verkabelung einer Stadt dieser Größenordnung übersteigt derzeit noch die Möglichkeiten der DDR.
Das TV-Geschenk an die Dresdner Landbevölkerung könnte daher einen ganz simplen Hintergrund haben: Auch im Sozialismus braucht das Volk ein paar private Träume. Die DDR-Bürger bei der "Schwarzwaldklinik" den Alltag vergessen zu lassen ist allemal preiswerter, als wenn die ostdeutschen Fernsehmacher ihre Rührserien selber produzieren müßten.
Ganz abgesehen davon, daß ihnen zu solchem Kitsch das nötige ideologische Know-how fehlt.
[Grafiktext]
Kilometer BUNDES-REPUBLIK Kiel Hamburg Hannover Braunschweig Göttingen Kassel DDR Schwerin Berlin Potsdam Magdeburg Halle Naumburg a. S. Erfurt Gera Karl-Marx-Stadt Stralsund Rostock Greifswald Güstrow Neubrandenburg Cottbus Leipzig Dresden Reichweite der westdeutschen Fernsehsender im Gebiet der DDR (mit abfallender Empfangsqualität)
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