„Kokolores aus der Mainzer Uni“
Elisabeth Noelle-Neumann, Deutschlands bekannteste Demoskopin, hat wieder einmal Partei ergriffen. Der Winterwahlkampf zur Jahreswende 1986/87 biete der "Regierung keine erfreuliche Aussicht", sorgte sich die Chefin des Allensbacher Instituts und emeritierte Mainzer Publizistik-Professorin, denn er werde vornehmlich über die Medien geführt - und die seien bekanntlich überwiegend links orientiert.
"Es gibt eine ganze Reihe von Symptomen dafür", orakelte die Meinungsforscherin, "daß die Regierung Helmut Schmidt der Mehrzahl der Journalisten besser gefiel als die Regierung Kohl."
Seit Jahren verficht die "Pythia vom Bodensee" ("Frankfurter Allgemeine Zeitung"), die der CDU als politische Beraterin dient, in immer neuen Varianten die These, Funk und Fernsehen schadeten mit ihrer Linksorientierung den Unionsparteien.
Ihr gelehrigster Schüler und zeitweiliger Universitätsassistent Hans Mathias Kepplinger, 42, seit zwei Jahren ebenfalls Publizistik-Professor in Mainz, kommt der Demoskopin zu Hilfe. Beide produzieren eine Untersuchung nach der anderen über die angebliche Einseitigkeit der öffentlich-rechtlichen Programme.
Daß das Fernsehen die Wahlen entscheiden könne, als "einziger kausaler Faktor" unter den Medien - diese Noelle-Neumann-Behauptung haben die Unionspolitiker früher schon begierig aufgegriffen. Dankbar nutzten sie das wissenschaftliche Schlagwerkzeug aus Mainz, um Redakteure mit Vorwürfen und Intendanten mit Forderungen zu traktieren. Für CDU-Generalsekretär Heiner Geißler heißt die Devise bis heute, "die Wahlen im Fernsehen zu gewinnen".
Das Fernsehen ist durch die fortwährenden Unionsangriffe längst in die Defensive getrieben worden - und mit ihm das ganze Metier. "Irgendwie haben es die Politiker vermocht", staunte die "Süddeutsche Zeitung", "den schlechten Ruf, den sie selbst verdienen, den Journalisten anzuhängen."
Das begann schon mit der ersten Noelle-Neumann-Studie zur Einseitigkeit des Fernsehens, die drei Tage vor der Bundestagswahl 1976 in der "Welt" veröffentlicht wurde. Die Verfasserin hat diese Untersuchung später nicht wiederholt und daher weder beim Strauß-Debakel 1980 noch beim Kohl-Sieg drei Jahre später überprüfen lassen. Alle Gegenbelege wischte sie vom Tisch, in der CDU/ CSU ist ihre These unvermindert aktuell - mit unvermindert gravierenden Folgen für das Fernsehen auch im kommenden Bundestagswahlkampf.
Der Kernpunkt ihrer Studie war allerdings auch brisant genug: Politische Fernsehsendungen, behauptete Frau Noelle-Neumann, gestützt auf eine damalige Allensbach-Untersuchung, hätten potentielle Unionswähler in großer Zahl zur SPD/FDP-Koalition hinübergezogen. Wären nur 350000 unter den 38 Millionen Wählern, statt die Wahlchancen "mit den Augen des Fernsehens" zu sehen, unbeeinflußt geblieben, so rechnete sie nach der Wahl vor, "hätte die CDU/CSU gesiegt".
Das Aufsehen und die Auswirkungen dieser Behauptung waren ungeheuer. Die Union wurde davon geradezu elektrisiert und verstärkte ihre Offensive gegen "Rotfunk" und mißliebige TV-Journalisten.
Kritische Fernsehbeiträge, etwa in den TV-Magazinen "Panorama" und "Report" (aus Baden-Baden), wurden unter dem Druck konservativer Gremienmehrheiten in den TV-Anstalten mißbilligt. Andere, etwa ein Startbahn-West-Dokumentarfilm beim Hessischen Rundfunk, wurden geschnitten oder, wie der "Scheibenwischer", im Vorfeld von Wahlen aus dem Programm bugsiert. Zeitweise blieb kaum eine unbequeme TV-Sendung ungerügt, so als sei das Fernsehen ein staatliches Grundwerteorgan (SPIEGEL 7/1984). Die Unionschristen starrten, solange sie nicht selbst in Bonn regierten, auf jede "Tagesschau"
wie in den Spiegel ihrer eigenen Benachteiligung.
Erst heute, im Abstand einiger Jahre, mit nachgetragenen Einzelheiten und Korrekturen, läßt sich das ganze Ausmaß der wissenschaftlichen Taschenspielertricks erkennen, mit denen Frau Noelle und ihr junger Mann Kepplinger das Unheil über dem Fernsehen heraufbeschworen. Die vom Überschwang ihrer Parteilichkeit davongetragene Demoskopin hat aus ihren Zahlen geradezu abenteuerliche Schlüsse gezogen.
Beispiel eins: die Gegenprobe. Die Behauptung, daß es gerade das Fernsehen und nicht etwa eine durchgängige Wählerstimmung gewesen sei, die den Sozialliberalen seinerzeit die besseren Wahlchancen verschaffte, stützte Allensbach durch die Befragung einer nichtfernsehenden Kontrollgruppe.
Einerseits ergab sich in einer Erstbefragung im März und in einem Wiederholungstest im Juli 1976 bei den TV-Zuschauern tatsächlich eine "dramatische Verschlechterung" der Wahlprognosen für die Union. Andererseits, so die Gegenprobe, nahm der Glaube an einen CDU/CSU-Wahlsieg bei jenen Befragten dramatisch zu, "die selten oder nie politische Fernsehsendungen" sahen, dabei aber nach eigenem Bekunden "politisch interessiert" waren. Statt zunächst nur 26 Prozent im März tippten vier Monate später 44 Prozent dieser Fernsehmuffel auf einen Unionserfolg.
Die absoluten Zahlen, aus denen sich diese eindrucksvolle Prozentrechnung ergab, enthielt Frau Noelle ihren Lesern zunächst vor. Weil sie damit erstmals ein Jahr später ohne Aufhebens, in einer Fachzeitschrift, herausrückte, haben sich die Ziffern bis heute selbst in Expertenkreisen, geschweige denn bei Parteien und Fernsehen, kaum herumgesprochen: Es waren nicht einmal ein Dutzend Befragte.
Ganze sechs von insgesamt 23 waren es, die in der ersten Umfrage ihren Tip für die CDU/CSU abgegeben hatten, und schließlich gerade zehn, die bei der Wiederholungsfrage nach vier Monaten, anders als das Gros der TV-Zuschauer, die Unionschancen höher eingeschätzt hatten. Auf diese lächerlich kleinen Zahlen, wissenschaftlich unhaltbar, stützte Frau Noelle ihre These vom übermächtigen Fernseheinfluß.
Eigentlich hätte sie merken müssen, daß bei einer anderen, mehr als viermal so großen Gruppe von Befragten mit wenig oder keinem Fernsehkonsum, die von Allensbach als "politisch uninteressiert" eingestuft wurden, die Unionskurve ebenfalls leicht gefallen und die der Regierungskoalition gestiegen war. Nur hätte das ihre schöne These ruiniert. Sie ignorierte diese - vom Fernsehen ebenfalls nicht beeinflußte - Gruppe und hielt sich lieber an den extrem unzuverlässigen, statistischen Zufällen und Schwankungen unterworfenen Miniaturbefund, aus dem sie ihre Selbstbestätigung "wie aus einem Schulbuch" (Noelle-Neumann) herauslas.
"Wären die Fallzahlen gleich mitpubliziert worden", sagt Publizistik-Professor Klaus Merten in Münster heute, hätte "niemand dieser Aussage irgendeine Relevanz zubilligen können". Ein weniger bekannter Autor als Frau Noelle-Neumann wäre als "sozialwissenschaftlicher Stümper" (Merten) abgetan worden.
Beispiel zwei: die Schuldzuweisung. Es war ja richtig, unter den Fernsehzuschauern hatte sich binnen vier Monaten eine "dramatische Verschlechterung" bei der Einschätzung der CDU/CSU-Wahlchancen ergeben: von 47 auf 34 Prozent. Und in diesem Fall war die Zahl der Befragten, im ganzen 175, nach den Maßstäben der Demoskopie auch ausreichend. Wie aber kam Frau Noelle-Neumann darauf, daß bei diesem Umschwung das Fernsehen den Ausschlag gegeben habe?
Sie wußte, daß Fernsehjournalisten schon früher mit Mehrheit auf einen Sieg der Sozialliberalen getippt hatten. Ihr fiel dazu nichts weiter ein, als daß diese Mehrheit, bewußt oder unbewußt, das TV-Publikum mitgezogen haben müsse - obwohl auch Unionsmitglieder unter den TV-Leuten einräumten, ihrer eigenen Partei auf Befragen die schlechteren Chancen gegeben zu haben.
Das Bonner Infas-Institut fand später einen ganz anderen Grund für den Meinungswandel
in der Bevölkerung heraus. Demnach war das für die CDU/CSU so günstige Meinungsklima im März 1976 die unmittelbare Folge der überraschenden Wahl von CDU-Ministerpräsident Ernst Albrecht im traditionell SPD-regierten Niedersachsen gewesen. Nachdem sich die allgemeine Aufregung über den Coup gelegt hatte, pendelte die Wählererwartung wieder zur Mitte zurück, wo sie nach Infas-Umfragen schon vorher gelegen hatte.
Bei den Wählern war also nicht, wie Frau Noelle annahm, "die Stimmung umgeschlagen", sondern der vorausgegangene Stimmungsumschlag baute sich wieder ab, nachdem Allensbach - wie sie blumig erzählte - im Frühjahr 1976 "zum erstenmal das volle demoskopische Beobachtungsinstrumentarium aufgerichtet" hatte. "Dem Fernsehen", so Infas aufgrund der längerfristigen Beobachtung, könne eine "Leitfunktion für das Wahlerwartungsklima ... nicht zugeschrieben werden".
Beispiel drei: der Schuldbeweis. Das bis dahin offene "Rätsel", wie der damalige Meinungsumschwung vom Fernsehen denn nun eigentlich "bewirkt wurde", löste Frau Noelle-Neumann mit einer Untersuchung von Kepplinger über die politische TV-Berichterstattung. Sachlich gab es an den TV-Berichten nichts auszusetzen, Inhaltsanalysen ergaben deren strikte Ausgewogenheit. So mußte Kepplinger die Tendenzen wohl oder übel in die Sendungen hineingeheimnissen und nach heimlichen Bildschirmeinflüssen fahnden. An Phantasie fehlte es ihm nicht.
Kepplinger fand, der damalige Oppositionskandidat Kohl sei gegenüber dem damaligen Koalitionschef Schmidt vom Fernsehen optisch benachteiligt worden. 55mal habe ihn die TV-Kamera aus ungünstigem Blickwinkel aufgenommen, aus der Frosch- oder Vogelperspektive, Schmidt dagegen nur 31mal - ein Negativ-Saldo von 24 Kameraeinstellungen gegen Kohl. Auch seien Politiker der Opposition häufiger als Redner der Koalition extrem benachteiligt worden, indem ihr Gesicht durch Mikrophone verdeckt gezeigt wurde.
Grundlage von Kepplingers Wertungen waren die Aussagen von Kameraleuten, die es grundsätzlich für möglich hielten, die Personenwirkung durch die Wahl der Kameraperspektive zu beeinflussen - eine Binsenwahrheit. Die TV-Aufnahmen des Jahres 1976 von Kohl und Schmidt aber wurden den Kameraleuten nicht zur Beurteilung vorgespielt, sie kannten sie gar nicht.
Kepplinger, sagt der Urheber der Untersuchung, Willy Loderhose, der die Kameraleute für seine Examensarbeit in Mainz befragte, habe die Ergebnisse der Befragung pauschal auf die 76er Fernsehaufnahmen angewandt. Loderhose: "Ich würde sie nicht darauf anwenden."
Auch eine Vorführung dieser Szenen mit einer Überprüfung der Reaktionen bei TV-Zuschauern fand nicht statt.
Was von solch ungefähren Maßstäben zu halten ist, geht aus einem kürzlich verfaßten, bisher nicht veröffentlichten Kepplinger-Skript über die "Wirkung nonverbaler Faktoren" hervor. Bei späteren Wirkungstests von Photos und selbstproduzierten Filmaufnahmen auf tausend Testpersonen kam heraus, daß sich eine negative Personenwirkung durch Mikrophone vor einem Gesicht gar "nicht nachweisen" lasse. Kepplinger
hatte sie zuvor "mit großer Sicherheit" angenommen.
Außerdem, so Kepplingers nachträgliche Differenzierung: "Jede Kameraperspektive akzentuiert sowohl positive als auch negative Persönlichkeitsmerkmale", Frosch- und Vogelperspektive wirkten nur "relativ ungünstig". Eine Einzelbewertung des TV-Materials von 1976 fehlt bis heute.
Wie Frau Noelle-Neumann bei soviel Unsicherheit der Methode die Behauptung rechtfertigen will, eine Differenz von 24 angeblich negativen Kameraeinstellungen, verteilt auf eine Zeitspanne von gut sechs Monaten, habe seinerzeit maßgeblich den Meinungsumschwung gegen die CDU/CSU bewirkt und die Wahl entschieden, bleibt ihr Geheimnis.
Noch dazu trifft der Vorwurf der Benachteiligung von Kohl, worüber bisher niemand redete, gar nicht "das" Fernsehen. Die ARD kam in Kepplingers Bilanz nämlich glänzend weg.
In den untersuchten politischen Sendungen des ersten Programms, von April bis Anfang Oktober 1976, standen zwar 20 angeblich ungünstigen Schmidt-Ansichten ein paar mehr angeblich ungünstige Kohl-Einstellungen gegenüber, nämlich 26. Dafür aber wurde Kohl - nach Kepplingers eigenen Maßstäben - von der ARD 152mal "positiv" gezeigt, Schmidt aber nur 105mal.
Die ARD-Sender, die seither weit mehr Unionsprügel einstecken mußten als das ZDF, konnte Frau Noelle nur deshalb in ihren Schuldvorwurf einbeziehen, weil sie das betreffende Ergebnis mit den ZDF-Zahlen vermengte. Die Mainzer Anstalt hatte Kohl nämlich 29mal, Schmidt aber nur elfmal "negativ" abgebildet.
In ihren Werken, in denen sich Elisabeth Noelle-Neumann auf Kepplingers Studie beruft, zieht sie nur seine "Analyse der Berichte in beiden Fernsehsystemen" heran.
Die feinere, aber reichlich lächerliche Wahrheit hat sie sich stets geschenkt: daß - wenn man schon Kepplingers Lesart folgt - allein das ZDF (damaliger Verwaltungsratsvorsitzender: Helmut Kohl) den 76er Wahlsieg von Helmut Kohl verhindert habe.
Vier Jahre nach ihrem demoskopischen "Schlüsselbefund aus dem Wahljahr 1976" zementierte Frau Noelle-Neumann ihr Theoriegebäude in dem Buch "Die Schweigespirale". Die Grundthese: Im Meinungsklima wage sich hervor, wer die Mehrheit auf seiner Seite wisse. Gruppen mit unpopulären Meinungen reduzierten sich in einem Spiralprozeß "auf einen harten Kern". Wer aber die politische "Klimazone" an der Basis zunächst für sich habe, könne dennoch durch ein gegenläufiges "Medienklima", vor allem im Fernsehen, wieder um seinen Einfluß gebracht werden.
Dieses Modell vom "doppelten Meinungsklima" haben die beiden Mainzer Verbündeten gegen jeden Einwand verteidigt und zugespitzt. Sich selbst schreibt Frau Noelle-Neumann das historische Verdienst einer CDU/CSU-Strategie zu, mit der 1976 ein negatives Basisklima "zum erstenmal in einer modernen Wahlkampagne bewußt bekämpft worden" sei.
Mit der zunehmenden Agitation gegen das angeblich einseitige Medienklima aber wurde der Machtkampf frontal gegen eine unabhängige TV-Berichterstattung gelenkt.
Die Noelle-Erkenntnis "Was nicht berichtet wird, existiert nicht" umschreibt ja keineswegs nur die Sorge der Parteien, daß gute Nachrichten über die eigene Seite nicht durchdringen. Sie läßt ebensogut den Schluß zu, daß ungünstige Fakten, über die nicht berichtet wird, nicht existierten.
Dieser Ansatz zur journalistischen Manipulation wurde der Union von dem Mainzer Duo gleich mitgeliefert - "ein akademisches Bubenstück", wie Kollege Merten das nennt. Kepplinger hatte nämlich in seiner Fernsehforschung festgestellt, daß Helmut Kohl bei den "positiv" bewerteten Kameraeinstellungen, bei ARD und ZDF zusammen, erheblich besser weggekommen war als Helmut Schmidt.
Selbst bei Abzug der "negativen" von den "positiven" Aufnahmen gab es noch einen Gleichstand der beiden Rivalen. Doch Kepplinger wendete den Kohl-Saldo doch noch ins Negative, indem er zu dieser optischen Statistik kurzerhand einen weiteren Bestandteil der TV-Berichterstattung hinzurechnete: positive und negative Publikumsreaktionen in den gezeigten Veranstaltungen mit Kohl und Schmidt.
Nun kam Kohl endlich schlechter weg: Bei ihm gab es öfter Zwischenrufe oder "nonverbale Ablehnung" als bei Schmidt. Doch was konnten die Fernsehleute dafür, fragte sich "Report"-Moderator und CDU-Mitglied Franz Alt, daß "Schmidt tatsächlich mehr Zustimmung bei seinen Wahlversammlungen erhielt als Kohl"? Sie hätten, so die naheliegende Antwort für militant Einseitige, die Realität ausblenden müssen, damit der Kohl-Saldo stimmt.
Auf dieser Linie, mitten hinein in den Kernbereich des Nachrichtenjournalismus, hat Kepplinger neuerdings mit bewährter Phantasie weitergeforscht. Diesmal war, im Auftrag der christdemokratischen Konrad-Adenauer-Stiftung, die
"aktuelle Berichterstattung des Hörfunks" dran. _(Hans Mathias Kepplinger: "Die aktuelle ) _(Berichterstattung des Hörfunks". Verlag ) _(Karl Alber, Freiburg/München; 304 ) _(Seiten; 59 Mark. )
In seiner rund 100000 Mark teuren, von der Adenauer-Stiftung bezahlten "Inhaltsanalyse der Abendnachrichten und politischen Magazine" (Untertitel) des Rundfunks konstatiert Kepplinger eine "einseitige Nachrichtenauswahl vieler Hörfunksender" und eine "insgesamt einseitige Berichterstattung" mit linker Schlagseite, vor allem zu innenpolitischen Themen.
Auch diesmal ist Kepplingers wissenschaftliche Methode erstaunlich. Er vermied es sorgsam, die untersuchten Hörfunkbeiträge, teilweise recht willkürlich ausgewählte Nachrichten- und Zeitfunksendungen aus der Zeit vom Juli bis Oktober 1983, auf ihre eigenen oder die von ihnen transportierten Argumente, also die Tendenzen, hin abzuklopfen und danach zu bewerten. Seine komplizierte Untersuchung spiegelt die Geschichte dieser Vermeidung. Daraus ergibt sich, daß den Hörfunkredaktionen tendenziöse Nachrichten vorgehalten werden, ohne daß die Tendenz dieser Nachrichten direkt registriert und ausgewertet worden wäre.
Es ließe sich einwenden, Tendenzen seien - nach welchen Maßstäben auch immer - schwer zu messen. Kepplinger scheut sich aber keineswegs, diese direkte Methode auf Nachrichten in Zeitungen anzuwenden, und er erlangt dadurch eine Art Tendenzwaage, auf der er vier überregionale Zeitungen skaliert: die "Welt" ausgeprägt rechts und die "Frankfurter Rundschau" ("FR") ausgeprägt links, dazwischen die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ("FAZ") gemäßigt rechts und die "Süddeutsche Zeitung" ("SZ") gemäßigt links.
Diese Skala benutzt er nun als Vergleichsmaßstab für den Hörfunk, aber wiederum nicht so, daß er dessen Tendenzen daran mißt. Vielmehr vergleicht er statt dessen die Themen von Zeitungen und Hörfunk miteinander, und zwar so: Tagesgeschehen, das im Hörfunk gemeldet wurde, aber in der Presse nur von den Linksblättern aufgegriffen wurde, rechnete er dem Hörfunk als Linkstendenz an; gesendete Themen, die nur in den Rechtsblättern wiederkehrten, galten als rechts.
Das Ergebnis war eine gewaltige Linksverdriftung der - für die Parteien besonders wichtigen - Inlandsthemen im Hörfunk. Die thematische "Affinität" (Kepplinger) innenpolitischer Funkbeiträge zu den Linksblättern betrug 71 Prozent, die zu den Rechtsblättern mithin nur 29 Prozent.
"Massive Parteinahme", rügte Kepplinger im "Rheinischen Merkur". Und der CDU-Mediensprecher Dieter Weirich, der die Kepplinger-Studie in Bonn auf Einladung des Verlags und der Konrad-Adenauer-Stiftung zunächst in einer Kurzfassung, ohne vollständige Methodendarstellung und Tabellen, präsentierte, forderte im Bundestag "ein neues journalistisches Selbstverständnis".
Nur: Ein linkes Selbstverständnis des Hörfunks hat Kepplinger gar nicht zutage gefördert, weil er gar nicht danach gesucht hat. Er tat nur so, vermischte dabei Tendenzen mit Strukturen und konstruierte einen falschen Vergleichsmaßstab.
Kepplinger hatte nämlich für seine Tendenzwaage nicht den gesamten Nachrichtenteil der Zeitungen herangezogen, sondern nur jeweils deren Titelseite. Dort aber veröffentlichen die beiden "linken Qualitätszeitungen", wie Kepplinger selbst ermittelte, "über die Innenpolitik der Bundesrepublik weit
mehr Beiträge als die beiden rechten Qualitätszeitungen". Demnach spricht schon die statistische Wahrscheinlichkeit dafür, daß sich die innenpolitischen Funkthemen mit den zahlreicheren innenpolitischen Themen der Linksblätter öfter decken als mit denen der Rechtsblätter.
Noch dazu ist in der "Frankfurter Rundschau", wie Kepplinger ebenfalls weiß, die "Nachrichtengebung auf der ersten Seite umfangreicher", es gibt dort also überhaupt mehr Meldungen "als in den anderen Qualitätszeitungen". Und schließlich rücken die drei anderen Blätter, was Kepplinger ignoriert, die - oft schon früh am Tag festgelegten - Eigenberichte ihrer Korrespondenten aus Prestigegründen gern auf Seite eins.
Bei der "FR" geschieht das nicht im gleichen Ausmaß; sie bringt auf der Titelseite viel flexibler und aktueller viel mehr Meldungen der Presseagenturen unter als die anderen Blätter, zumal "Welt" und "FAZ". Somit stehen auf Seite eins der "Rundschau" auch viel mehr Nachrichten aus der gleichen Quelle, aus der auch die Rundfunknachrichten überwiegend stammen: eben aus den Agenturen, voran der unabhängigen Deutschen Presse-Agentur.
Das alles sind zwangsläufige, numerische Gründe für größere Übereinstimmungen zwischen Hörfunk und "FR"-Titelseite, die mit der Tendenz gar nichts zu tun haben. Das Ergebnis "Linksverdriftung" war somit statistisch programmiert und konnte nicht anders ausfallen. Nach Kepplinger aber hat beispielsweise eine Hörfunkmeldung als links zu gelten, wenn sie in der "FR" klein auf Seite eins stand, in den anderen Blättern jedoch groß auf Seite zwei oder drei (denn er zog zum Vergleich ja nur die Titelseiten heran).
Eine so plazierte Nato- oder CDU-Mitteilung zum Beispiel - Linksverdriftung. Eine beliebige Abendmeldung im Hörfunk und in der "FR", die die anderen Blätter nicht mehr mitgenommen hatten - Linksverdriftung. Hörfunkmeldungen über Arbeitslosigkeit, Arbeitszeitverkürzung, Lehrstellenmangel, die Stahl- und Werftkrise - Linksverdriftung, weil dies alles, wie Kepplinger sagt, "politisch links angesiedelte Parteien ... als zentrale Themen ansehen" und es demnach links ist, wenn der Hörfunk es meldet und "FR" oder "SZ" es auf Seite eins setzen. Zur Verschönerung von Kepplingers Rechts-links-Saldo für den Rundfunk, so wäre zu folgern, sollten solche Themen also besser weggelassen werden.
Wer sich gegen diesen systematischen Unsinn zur Wehr setzt, wie es die Hörfunk-Chefredakteure der Rundfunkanstalten taten ("grotesk", "unseriös und leichtfertig"), bekommt von Kepplinger zu hören, daß eine solche "Mischung aus Ahnungslosigkeit und Arroganz eine Denaturierung des Journalismus dokumentiert". Doch der Vorwurf der Ahnungslosigkeit kehrt sich gegen Urheber Kepplinger. "Solange der Wissenschaftler nicht selbst bewiesen hat, was er behauptet", sagt Kollege Merten, "ist jeder Zweifel angebracht und jede Kritik erlaubt."
Daß Kepplinger die Rempelei gegen die - zu Recht mißtrauischen - Chefredakteure dann auch gleich mit in sein wissenschaftliches Werk aufnahm, illustriert nur seine polemischen Absichten. "Kokolores aus der Mainzer Uni", revanchierte sich die Hauszeitung des Süddeutschen Rundfunks und wies den Auftragsforscher auf zahlreiche Fehler hin, nachdem er seine Methoden schließlich veröffentlicht hatte.
Doch mit den wissenschaftlichen "Artefakten" (Südfunk-Medienforscher Michael Buß) aus Mainz wird es so bald wohl kein Ende nehmen. Der SPIEGEL wurde letztes Jahr beispielsweise von einer Arbeitsgruppe im Mainzer Institut für Publizistik brieflich um Aufklärung über die parteipolitische Orientierung von Nachrichtenredakteuren bei der ARD und beim ZDF gebeten. Die Arbeitsgruppe, so der Brief, war "dem Phänomen von Standbildern von populären Politikern bei ARD und ZDF" auf der Spur, die zu den offenbar "immer ''versteckteren'' Mitteln" gehörten, "Wahlentscheidungen via Bildschirm zu beeinflussen". Wörtlich weiter: _____" Dabei sind wir von der Hypothese ausgegangen, daß die " _____" ARD die Standphotos von SPD-Politikern (Brandt und Vogel) " _____" phototechnisch günstiger auswählt als die Unionspolitiker " _____" Strauß und Kohl. Das Umgekehrte vermuteten wir von der " _____" Bildredaktion des ZDF. Unsere Forschungsergebnisse mit " _____" Mainzer Publizistikstudenten, die per Video mit den " _____" Standphotos konfrontiert wurden, haben tatsächlich " _____" ergeben, daß die vom ZDF ausgewählten Photos die " _____" CDU-Politiker in einem besseren Lichte erscheinen lassen. " _____" Bei der ARD wurden die SPD-Spitzenpolitiker in einem " _____" günstigeren Licht gesehen. Diese Resultate wurden mit der " _____" publizistikwissenschaftlichen Forschungsmethode des " _____" semantischen Differentials erzielt ... Wir werden diese " _____" Resultate noch genauer auswerten und unter Anleitung des " _____" Publizistik-Prof. Dr. Hans Mathias Kepplinger in " _____" Fachzeitschriften veröffentlichen ... Uns würde brennend " _____" interessieren, wie viele CDUnahestehende " _____" Nachrichtenredakteure das ZDF hat und wie hoch die Zahl " _____" der SPDnahestehenden Nachrichtenredakteure der ARD ist? " _____" Diese Zahlen sind für unsere Auswertung sehr wichtig ... "
Bevor Professor Kepplinger auch noch dieses Artefakt in die Welt setzen konnte, wies der SPIEGEL die übereifrigen Forscher darauf hin, daß die Nachrichten-Standbilder beim Fernsehen häufig nicht frei von der Redaktion ausgewählt, sondern von Dienststellen der Politiker zur Verfügung gestellt würden.
Auch mit den als ungünstig empfundenen Kohl- und Strauß-Bildern in der "Tagesschau" verhielt es sich so. Sie stammten damals, wie der SPIEGEL erfuhr, aus den Büros der beiden Unionsherren selbst. "Der von Ihnen dargestellte wissenschaftliche Untersuchungsansatz", antwortete der SPIEGEL nach Mainz, "entbehrt demnach offenbar jeder tatsächlichen Grundlage."