SCHACH Wer liegt, der siegt
Der englische Schachprofi Anthony Miles, 30, meldete sich nach der fünften von 14 Runden eines Turniers im holländischen Tilburg krank und legte sich nieder. Er tat dies allerdings nicht in einem Hotel oder Krankenhaus, sondern im Spielsaal des Turniers.
Dem Briten, der in Köln wohnt und die Bundesliga-Mannschaft der dortigen Schachgemeinschaft Porz anführt, hatten drei Ärzte attestiert, er könne wegen starker Rücken- und Hüftbeschwerden nicht mehr sitzend, sondern nur noch liegend weiterspielen.
Miles ließ sich eine Massagebank - eine Art Brett - herbeischaffen und zu jeder Partie an den Tisch stellen.
Mal legte er sich auf den Bauch, mal auf den Rücken. Die Gegner des brettlägerigen Miles wurden durch "ein völlig neues Blickfeld" irritiert - so der Deutsche Robert Hübner.
Insbesondere die Rückenlage des Engländers störte die anderen Spieler. Miles kehrte ihnen dann seinen Hinterkopf zu, und die meiste Zeit sahen sie von ihrem Gegner sonst nur noch die Spitzen seiner Nase und seiner Schuhe.
Jeder Zug war überdies mit Bewegung und Geräusch verbunden. Wenn Miles auf dem Rücken lag, mußte er den
Körper sogar halb um die kranke Achse drehen, um die Hand ausstrecken und eine Figur greifen zu können. Das ging oft nicht ohne Stöhnen ab.
Hübner über seine Eindrücke: "Der Spieler wälzt sich vor deinen Augen." Und: "Du denkst, du spielst gegen einen Invaliden."
Noch nie stand Miles in seinen bislang elf Profijahren so im Mittelpunkt wie in seinen Tilburger Tagen, seit er dort sein Gewerbe horizontal ausübte. Nur als Außenseiter hatte er im vorigen Jahr das traditionsreiche Turnier in Tilburg gewonnen, das Schachspielern etwa soviel bedeutet wie Wimbledon den Tennisspielern. Der Versicherungskonzern Interpolis veranstaltet es alljährlich und läßt es sich derzeit eine halbe Million Mark kosten.
Daß sich Miles in Tilburg jeweils zum Spielbeginn niederlegte, nahmen die sieben anderen Teilnehmer (jeder spielte gegen jeden zwei Partien) vier Runden lang hin. Dann organisierte der aus der Sowjet-Union in die Schweiz emigrierte langjährige Vizeweltmeister Wiktor Kortschnoi den Widerstand.
Nicht alle unterschrieben eine von Kortschnoi entworfene Protestresolution, aber alle waren sich einig, insbesondere auch die beiden Exil- und die beiden Sowjet-Russen.
Daß es erst relativ spät zu einem Aufstand der Spieler kam, erklärt Kortschnoi anders als Miles.
Der Exilrusse nennt als Grund ein Ereignis im Restaurant des Spieler-Hotels. Dort war Miles am Vortag beobachtet worden, als er ausgiebig speiste - "völlig normal sitzend" (Kortschnoi).
Ob er sich wirklich sechs Gänge auftischen ließ, wie die Gefährtin eines Großmeisters mitzählte, ist nicht ganz sicher. Und weil Schachspieler in der Analyse stärker sind als in der Recherche, bleibt auch ein Rest von Zweifel, ob Miles geschlagene drei Stunden lang tafelte.
Der Engländer verteidigt seinen Lokalbesuch mit dem Argument, er brauche beim Essen längst nicht so scharf zu denken wie beim Schachspielen und könne Beschwerden deshalb eher ertragen.
Den wahren Grund für die Intervention seiner Berufskollegen sieht er im Turnierverlauf. Sitzend hatte er nur eine von fünf Partien gewonnen, liegend hatte er vier Partien gespielt und seine Gegner allesamt besiegt.
Seine Vermutung: Hätte er sich nach dem Stellungswechsel nicht von Sieg zu Sieg gelegt, so hätten ihn die anderen ruhen lassen. Nun aber wollten sie ihn zum Sitzen und zum Verlieren zwingen.
Kortschnoi und die anderen Gegenspieler erklären ihre Niederlagen andersrum: Nicht Miles habe besser, sondern sie hätten schlechter gespielt als vorher. Der Engländer stehe ja in der Weltrangliste hinter ihnen allen, und ohne den Trick mit der Liege hätte er bestimmt nicht so oft gewinnen können.
Unsportlich fanden sie alle das Verhalten des Engländers - ganz gleich, ob sie ihm seine Schmerzen ziemlich glaubten wie Hübner oder ob sie ihn für einen Simulanten hielten wie der frühere sowjetische und heutige US-amerikanische Star Roman Dzindzichashvili.
Hübner, oft selbst von physischen und psychischen Problemen geplagt, hat "stets selbst den Nachteil in Kauf genommen, krank zu sein, und ihn nicht in einen Nachteil für andere verwandelt".
Das Turnier drohte zu platzen, alle standen gegen den einen. Erst in allerhöchster Not kam dem vierköpfigen Organisationskomitee und den beiden Schiedsrichtern ein rettender Einfall. Mit der Psyche der als Einzelkämpfer tätigen Schachprofis vertraut, forderten sie jeden Spieler auf, individuell zu entscheiden, wie er gegen Miles spielen wolle. Und jeder hatte eine eigene Idee.
Dzindzichashvili beantwortete den Miles-Zug, sich niederzulegen, mit dem Gegen-Zug, die ganze Partie über stehenzubleiben. Seine Begründung erschloß sich nicht allen Mitspielern: Er habe "die Balance wiederhergestellt". Offenbar sind für ihn ein liegender und ein stehender Spieler zwei sitzenden Spielern etwa so gleichwertig wie auf dem Schachbrett ein Läufer einem Springer.
Hübner schlug dem Engländer vor, sich ohne einen einzigen Zug auf Remis zu einigen, doch das mochten die Organisatoren nicht gutheißen. Eine Partie, die gar nicht angefangen werde, könne auch nicht beendet werden.
Der Ausweg: Hübner und Miles machten fünf verrückte Züge _(Miles - Hübner: 1. d2-d4 e7-e5, 2. d4xe5 ) _(Dd8-h4, 3. Sg1-f3 Dh4-a4, 4. Sb1-c3 ) _(Da4-a5, 5. e2-e4 remis. )
und teilten dann den Punkt.
Von dem Einfall, Miles solle sich an einen Tisch legen und sein Gegner sich an einen anderen Tisch setzen, gab es verschiedene Varianten. Die Züge mußten ja irgendwie übermittelt werden, und am Ende, wenn die Zeit knapp wurde, mußte man wohl oder übel an einem Tisch zusammenkommen. Diese Details regelten die Spieler, die sich für diese Lösung entschieden, jeder auf seine Weise.
Das Turnier kam so noch über die 14 Runden, am Dienstag vergangener Woche gab es drei Sieger. Der Horizontalspieler Miles und die beiden Vertikalspieler Hübner und Kortschnoi belegten punktgleich den ersten bis dritten Platz.
Dazu der Jugoslawe Ljubojevic (Platz vier): "Nicht Miles hat das Turnier gewonnen, sondern seine Liege."
Der Tilburger Schiedsrichter Constand Orbaan, der in 60 Turnieren "kein solches Erlebnis hatte wie dieses", hält es für möglich, daß der Weltschachbund den Fall Miles zum Anlaß nimmt, eine Sitzordnung zu erlassen. Bislang ist den Spielern keine einzige Körperhaltung verboten. Bis hin zum Handstand ist alles erlaubt, solange der jeweilige Schiedsrichter nicht einschreitet.
Aber auch wenn die Schachspieler strikt zum Sitzen gezwungen würden, fänden böswillige immer noch Tricks, ihre Gegner zu nerven.
Der amerikanische Buchautor Harold C. Schonberg ("Die Großmeister des Schach") über das Repertoire:
"Sie führen leise Selbstgespräche, schlürfen lautstark ihre Getränke, schmatzen hörbar beim Essen, blasen ihrem Gegenüber Rauch in die Augen, starren ihn unverwandt an, bis er sich unter ihren Blicken windet, rutschen ständig auf ihrem Stuhl hin und her, rülpsen und bohren in der Nase." _(Der sowjetische Großmeister Lew ) _(Polugajewski. )