KATASTROPHEN Rache des Häuptlings
Vier Tage vor dem Ereignis hatten Rinderhirten ein Blubbern vernommen, als stiegen Blasen aus der Tiefe des kristallklaren Gewässers. Am Nachmittag des 21. August letzten Jahres standen kleine Wölkchen über dem See. Wenige Stunden später nahm die Katastrophe unaufhaltsam ihren Lauf.
Eine 80 Meter hohe Schaumsäule schoß gegen neun Uhr abends zischend und sprühend aus der Mitte des Nyos-Sees, eines Vulkansees im Nordwesten von Kamerun. Eine gewaltige Welle brandete ans Ufer und riß Büsche und kleine Bäume mit sich. Noch in der Luft trennte sich eine Gaswolke aus der Kaskade und stieg bis auf eine Höhe von 125 Metern. Dann sank das gespenstische Gebilde rasch zu Boden und kroch durch zwei tiefgelegene Flußtäler in nördlicher Richtung davon.
Wo immer die Gaswolke aus dem Kratersee hingelangte, brachte sie Tod und Verderben. Im nahe gelegenen Dorf Nyos überlebten von 1200 Einwohnern nur eine Handvoll. Die Menschen erstickten auf den Straßen und in den Betten. Insgesamt 1746 Tote fanden die erst nach Tagen eintreffenden Rettungstrupps in den umliegenden Dörfern, Tausende von Rindern lagen verendet auf den Weiden.
Wissenschaftler aus mehr als 20 Ländern, darunter der Geophysiker Klaus Tietze von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover, haben sich seither mit den Ursachen der Nyos-Katastrophe beschäftigt. Jetzt glauben sie das Rätsel des explodierten Kratersees endgültig gelüftet zu haben: Ein ständiger Kohlendioxid-Strom mit Spuren anderer Gase aus den Klüften und Schrunden des seit rund 1000 Jahren erkalteten Vulkans hat demnach das Wasser des 208 Meter tiefen Sees in eine tückische Gasfalle verwandelt.
Das magmatische Gas aus dem Erdmantel wurde, wie die Mehrzahl der Wissenschaftler annimmt, unter hohem Druck im Grundwasser gelöst, mit dem es in den See gelangte. Doch anders als in Gewässern gemäßigter Klimazonen, wo durch starke Temperaturschwankungen vertikale Strömungen entstehen und das Wasser kontinuierlich entgast wird, kann das Kohlendioxid in den gleichbleibend temperierten und salzhaltigen tropischen Seen wie in Tortenschichten gefangen werden: Es sammelt sich über viele Jahre hinweg an, bis schon ein geringer Anlaß genügt, um die Zeitbombe zu zünden. Wasserproben, die der in den USA lebende isländische Ozeanograph Haraldur Sigurdsson, Geophysiker Klaus Tietze und japanische Wissenschaftler vom Boden des Nyos-Sees holten, waren auch nach der Explosion noch bis zu 25 Prozent mit Kohlendioxid gesättigt - die Proben moussierten wie Mineralwasser.
Am Abend des Unglückstages aber, so berichtete Sigurdsson jüngst in der Zeitschrift "Natural History", seien große Teile des Sees offenbar zu annähernd 100 Prozent mit dem Gas gesättigt gewesen. Blasenbahnen aus den hochgesättigten Schichten oder auch einige vom Steilufer in den See fallende Steinbrocken genügten dann, um das aufgestaute Gas schlagartig freizusetzen, so als wäre eine Champagnerflasche unvorsichtig geöffnet worden.
Etwa eine Milliarde Kubikmeter Kohlendioxid wurde nach Ansicht des Forschers bei der gewaltigen Eruption in die Höhe geschleudert. Das Gas, etwa eineinhalbmal schwerer als Luft, sank rasch
wieder zu Boden und verdrängte dabei die sauerstoffhaltige Atemluft - Menschen und Tiere erstickten in der Wolke, als wären sie von einer unsichtbaren Flut überspült worden. Rund 15 Meter hoch, vermutet Sigurdsson, türmte sich die Gaswolke dabei über einem 62 Quadratkilometer großen Gebiet. Dem geräuschlosen Tod entkam nur, wer sich zufällig an den höher gelegenen Stellen des Hügellandes aufgehalten hatte.
Zum gleichen Ergebnis wie Sigurdsson war auch BGR-Wissenschaftler Tietze gekommen, doch er hatte bei seiner Forschungsexpedition zum Nyos-See noch eine entscheidende zusätzliche Beobachtung gemacht. Der Forscher entdeckte mit Hilfe über die Seetiefe verteilter exakter Messungen einen speziellen Schichtungseffekt. Nach seiner Ansicht kam es unterhalb von rund zehn Metern Tiefe bereits zu einer Übersättigung des Nyos-Wassers mit Kohlendioxid, ehe sich das Tiefenwasser mit dem Gas vollständig aufsättigen konnte. Dadurch entstand ein labiler Zustand in Oberflächennähe. Die zwischen fünf und zehn Metern Tiefe besonders ausgeprägte Schichtung hatte wie ein Deckel gewirkt und eine Entgasung in die Atmosphäre stark behindert.
Noch nach dem Gasausbruch konnte der Wissenschaftler in zehn Metern Tiefe eine doppelt so hohe CO2-Sättigung nachweisen wie im tiefen Wasser. Diese Ergebnisse könnten sich als besonders wichtig erweisen, wenn es gilt, das Gefahrenpotential vergleichbarer Seen zu erkunden und als gefährlich erkannte Seen zu entgasen.
Nach Tietzes Rechnung sind wahrscheinlich "nur" rund 200 Millionen Kubikmeter Kohlendioxid explosionsartig aus dem Vulkansee entwichen, während noch immer etwa 300 Millionen Kubikmeter CO2 im mittlerweile wieder glasklaren Wasser schlummern.
Das für die Anwohner des Nyos-Sees tödliche Kohlendioxid ist unter normalen Bedingungen zu 0,03 Prozent überall in der Erdatmosphäre enthalten. Doch wenn der Anteil des geruchlosen Gases an der Luft auf 10 Prozent steigt, sinken Menschen und Tiere in Minuten ins Koma. Wer das Gas in 40prozentiger Konzentration einatmet, stirbt wie von einer unsichtbaren Faust getroffen.
Die meisten der (wenigen) Überlebenden vom Nyos-See, häufiger Frauen und Kinder als Männer, wachten erst Stunden oder Tage nach der Katastrophe wie aus einer tiefen Ohnmacht auf. Sie waren verwirrt und litten unter Gleichgewichtsstörungen. Die Kohlendioxid-Wolke, so vermuten die Wissenschaftler, hatte über einen Tag lang in den Niederungen und Senken der Flußtäler gelegen, ehe sie durch die Luftströmung auf eine ungefährliche Konzentration verdünnt worden war. Noch Wochen später, so berichtete der amerikanische Gewässerkundler Curt Stager, lag der See "wie ein entzündetes und ärgerliches rotes Auge" in seinem steinernen Bett.
Nur ein einziges Mal vor der Nyos-Katastrophe hatten Wissenschaftler einen vergleichbaren Gasausbruch studieren können: Am 15. August 1984 waren 37 Menschen in der Nähe des Monoun-Sees, eines nur 95 Kilometer südlich von Nyos gelegenen Vulkangewässers, in eine der tödlichen Gaswolken geraten.
Die Mythen und Legenden allerdings, die seit Generationen in den Eingeborenendörfern rund um die etwa 40 Kraterseen im Norden Kameruns die Runden machen (und jetzt von der amerikanischen Anthropologin Eugenia Shanklin gesammelt wurden), deuten darauf hin, daß die Gas-Seen auch früher schon Unheil gebracht haben.
So habe sich einmal, der Legende zufolge, der Leichnam eines Stammeshäuptlings in einen berstenden See verwandelt, der einen Teil des befeindeten Nachbarstammes auslöschte. Andere Berichte wissen von plötzlichem Massensterben der Rinder auf den Weiden oder von Fischen, die vom Himmel regneten. Und auch für die Todeswolke vom August letzten Jahres haben die Einheimischen eine Deutung: Das Unglück sei die Rache eines toten Häuptlings, der vor vier Jahren - auf seinem Totenbett - seiner Familie befohlen hatte, die besten seiner Rinder in den See zu stürzen, als Opfer an "Mami-Wasser", den Geist des Sees. Doch die Familie hatte den letzten Wunsch nicht erfüllt.
Noch immer sind die über 3400 Menschen, die nach der Nyos-Katastrophe evakuiert wurden, nicht in die fruchtbaren Täler rund um den Kratersee zurückgekehrt. Noch ist die Gefahr nicht gebannt, daß der etwa eineinhalb Quadratkilometer große See sich erneut mit dem Vulkangas auflädt und es abermals zu einem Gasausbruch kommt.
Immerhin glauben die Experten mittlerweile Wege gefunden zu haben, um die bösen Geister des Wassers auf Dauer zu besänftigen. Würde etwa ein natürlicher Damm am Nordufer des Nyos-Sees gesprengt, könnte die Wassermenge im See um ein Drittel reduziert werden - der Gasspeicher würde kleiner und wäre weniger gefährlich. Mit Steigrohren vom Seeboden könnten die kohlendioxidhaltigen Schichten jedoch auch ohne Sprengung kontrolliert entgast werden.
Daß bei all solchen Arbeiten am und im "Killersee" ("National Geographic") mit äußerster Vorsicht vorgegangen werden muß, darüber sind sich die Experten einig. Turbulenzen und unkontrollierte Verströmungen des Seewassers, so Geophysiker Tietze, müßten dabei "unter allen Umständen" verhindert werden. Denn bei der künstlichen Entgasung müsse zwar "nichts", aber es könne auch "alles passieren".
[Grafiktext]
KAMERUN Katastrophengebiet Wum Bamenda Nyos-See Monoun-See
[GrafiktextEnde]