„Wir machen der Partei Druck“
SPIEGEL: Herr Steinkühler, wünschen Sie sich, daß die SPD die nächste Bundestagswahl verliert?
STEINKÜHLER: Natürlich nicht. Ich will, daß die SPD die Wahl gewinnt, und zwar so, daß sie nach Möglichkeit allein regieren kann.
SPIEGEL: Warum torpedieren Sie dann den Versuch der SPD, sich auf dem Parteitag in Münster als regierungsfähig darzustellen? In Interviews haben Sie gesagt, die Sozialdemokraten liefen "kopflos in die Krise", in der SPD würden "unterschiedliche Konzeptionen in unverträgliche Kompromisse gegossen". Mobilisiert das Wähler?
STEINKÜHLER: Meine Kritik bezog sich auf das SPD-Vorstandsmitglied Wolfgang Roth, der gerade aus Schweden zurückkam und meinte, der Leitantrag zur Wirtschaftspolitik sollte weiter zugespitzt werden. Das wollte ich verhindern. Denn mit dem Leitantrag Wirtschaftspolitik in der jetztigen Fassung können wir als Gewerkschafter durchaus leben.
SPIEGEL: Können Sie auch mit dem heimlichen Kanzlerkandidaten der SPD, mit Oskar Lafontaine, leben?
STEINKÜHLER: Sie werden mich nicht dazu verführen, heute bereits über Personen zu urteilen. Der Luftballon, den man zuerst steigen läßt, läuft auch Gefahr, zuerst zu platzen.
SPIEGEL: Sie und Ihre Gewerkschaft waren diejenigen, die in den letzten Monaten am heftigsten über eine Person hergefallen sind, nämlich über Oskar Lafontaine. In der Zeitschrift "Der Gewerkschafter" standen hämische Karikaturen über Oskar, der die alte Dame DGB verläßt und sich einer jungen Sex-Bombe namens FDP an den Hals schmeißt. Dann haben Sie zehn Thesen _(Mit Redakteuren Klaus Wirtgen und Dieter ) _(Kampe in der Frankfurter ) _(IG-Metall-Zentrale. )
verbreitet. Einhelliger Tenor: Die Enkel-SPD ist auf dem Marsch zu Kapitalisten und Konservativen. Wollen Sie verhindern, daß Oskar Lafontaine der erste Mann in der SPD wird?
STEINKÜHLER: Ich hab'' nicht über Lafontaine geredet, sondern ich hab'' viel mit Oskar gestritten, Auge in Auge, miteinander am Rednerpult. Dazu gab es eine ganze Menge Anlaß.
SPIEGEL: Zum Beispiel die Forderung, Arbeitnehmer sollten bei Arbeitszeitverkürzungen auf den Lohnausgleich verzichten.
STEINKÜHLER: Das hat der Oskar, wie wir mittlerweile wissen, so nicht gemeint. Aber das Etikett hängt ihm bis heute an. Bei unseren Funktionären hat das tiefe Verstimmung ausgelöst. Gestritten haben wir aber auch über die Möglichkeiten der Tarifpolitik, die er wohl überschätzt, und über seine neue Definition der Arbeit.
SPIEGEL: Lafontaine will die Arbeiten im Haushalt, in der Altenversorgung, in der Kindererziehung, im ganzen sozialen Bereich aufwerten und langfristig mit der klassischen Erwerbsarbeit gleichstellen. Das geht Ihnen zu weit?
STEINKÜHLER: Im Zentrum unserer Gesellschaft wird auch in Zukunft die Erwerbsarbeit stehen, die wird das Selbstverständnis der Menschen definieren. Wir sagen immer: Wenn wir das Leben der Menschen besser machen wollen, dann müssen wir das Leben der Menschen in der Erwerbsarbeit besser machen. Man kann nicht schlecht arbeiten und gut leben. Das ist ein Widerspruch in sich. Da haben wir unterschiedliche Auffassungen mit der neuen Enkel-Generation.
SPIEGEL: Daß die sozialen Tätigkeiten, die sogenannte Nichterwerbsarbeit, an Bedeutung gewinnen wird, haben Sie früher selbst geschrieben.
STEINKÜHLER: Auch wir glauben, daß der Zeitanteil der Nichterwerbsarbeit zunimmt, daß ihre Bedeutung für die Menschen zunimmt. Aber Erwerbsarbeit muß im Zentrum politischen Handelns stehen. Nichterwerbsarbeit ist eigentlich eine Resultante der Erwerbsarbeit, eine abhängige Variable. In der SPD wird das teilweise anders diskutiert. Wir warnen ganz nachdrücklich davor, Erwerbsarbeit im Stellenwert zu mindern, weil dann der Kampf um Vollbeschäftigung sein Ziel verliert.
SPIEGEL: Sie halten ziemlich viel für falsch, was die sogenannten Enkel der SPD wollen. Entsteht da eine SPD, mit der die Gewerkschaften nicht mehr Schulter an Schulter marschieren können?
STEINKÜHLER: Das Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften ist in den letzten Jahren sicher nicht einfacher geworden. Aber wir hatten immer, über hundert Jahre lang, einen spannungsgeladenen Konsens. Jetzt knirscht es eben ein wenig mehr. Das liegt daran, daß beide Organisationen im Umbruch sind, sie suchen neue Mitglieder und neue Wählerstrukturen. Und in beiden sind bestimmte Personengruppen unterrepräsentiert: Das Funktionärskorps der Partei ist heute produktionsferner. Seit 1945 gab es keinen amtierenden Betriebsratsvorsitzenden mehr im Parteivorstand der SPD.
SPIEGEL: Trennen sich die Wege von Sozialdemokraten und Gewerkschaften?
STEINKÜHLER: Nein, beide Organisationen brauchen einander. Die SPD ist nach wie vor die einzige Partei, die, falls sie an die Regierung kommt, den Streikparagraphen 116 beseitigen will. Die SPD ist auch die einzige Partei, die mit uns gemeinsam die Aussperrung abschaffen will. Die SPD hat uns im Kampf um die 35-Stunden-Woche unterstützt. Sie vertritt unsere Position in der Frage des Betriebsverfassungsgesetzes, wo die Gewerkschaften weiter geschwächt werden sollen.
Das zeigt, daß die SPD den gewerkschaftlichen Forderungen sehr nahe steht. In der Wirtschaftspolitik fordern wir vielleicht mehr, als die Partei derzeit leisten kann.
SPIEGEL: Wer mutet wem zuviel zu? Prescht nicht die SPD, indem sie sich zum bürgerlichen Lager hin öffnet, schneller voran, als es die Gewerkschaft ihrem traditionellen Arbeiterstamm zumuten kann?
STEINKÜHLER: Die IG Metall wurde von der SPD mit Sicherheit nicht überholt. Was wir auf unseren Zukunftskongressen an neuer Programmatik entwickelt haben, was sich in den letzten drei Jahren innerhalb der IG Metall bereits verändert hat, ist - teilweise - der SPD weit voraus.
SPIEGEL: Ist es ein Fortschritt, sich an aktuellen politischen Kontroversen allein als Interessenvertreter des harten Kerns der Arbeiterschaft zu beteiligen? Die von Ihnen geschmähte Enkel-SPD hat mit neuen Ideen Respekt und Anerkennung bei bürgerlichen Wählern geerntet, ohne die es keinen Wahlsieg geben wird.
STEINKÜHLER: Die SPD dankt Lafontaine dafür, daß er die Diskussion angefangen hat, weil er damit Arbeitslosigkeit wieder in das Zentrum der Diskussion gebracht hat. Wenn wir als Gewerkschafter jedoch die Diskussion analysieren, haben wir den Eindruck, daß er die Schuldfrage für die Arbeitslosigkeit ins Zentrum gebracht hat. Er hat den Eindruck erweckt, daß die Gewerkschaften nicht genügend Arbeitszeitverkürzung durchgesetzt hätten, daß sie vor allem eine egoistische Tarifpolitik betrieben hätten, weil sie nicht bereit waren, auf Lohn zu verzichten.
Wir glauben, daß die Diskussion über die Lafontaine-Thesen keine positiven Aspekte zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gebracht hat. Sie hat im Gegenteil diejenigen, die die Arbeitslosigkeit bekämpfen, auch noch öffentlich an den Pranger gestellt. Das ist die unterschiedliche Einschätzung.
SPIEGEL: Lafontaines Strategie paßt Ihnen nicht. Aber der von Ihnen seit vielen Jahren propagierte Weg zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, nämlich öffentliche Ausgabenprogramme, etwa
das 50-Milliarden-Programm Arbeit und Umwelt, lockt ja auch keine neuen Wähler an - und sogar Sozialdemokraten bezweifeln, ob solche Programme überhaupt noch etwas taugen.
STEINKÜHLER: Wir nehmen für uns nicht in Anspruch, den Stein der Weisen zu besitzen und das alleinige Heilmittel und Rezept zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu haben.
SPIEGEL: Warum dann die rigorose Ablehnung eines neuen Konzeptes, das Lafontaine vorschlägt? Zumal es doch politisch bereits erfolgreich gewirkt hat.
STEINKÜHLER: Ich glaube nicht, daß die neuen Vorschläge zur Arbeitszeitverkürzung ausreichen, um Wahlen zu gewinnen. Ich weiß auch nicht, ob man da nur kurzfristig Beifall kassiert oder wirklich neue Wählerschichten findet. Ich weiß aber sicher, daß alte Wählerschichten dadurch vergrätzt worden sind. Diese Verzichtsmentalität, die bei der Diskussion der Lafontaine-Thesen mitschwang, die kam bei einigen gut an. Bei denen aber, die mit Vollarbeitszeit kaum mehr verdienen als den Fürsorgesatz, da kam das nicht an.
SPIEGEL: Dann würden Sie auch nicht den SPD-Vorschlag unterstützen, eine Energiesteuer einzuführen, um durch sinkenden Energieverbrauch die Umwelt zu entlasten?
STEINKÜHLER: So etwas führt zu einer enormen Steigerung der Lebenshaltungskosten. Da muß ich mich fragen: Wie sehen das meine Mitglieder? Viele Arbeitnehmer und Rentner gehen schon jetzt sehr sparsam mit Energie um - einfach weil sie rechnen müssen. Die können den Preisanstieg nicht durch Sparsamkeit auffangen, die müssen das dann voll tragen. Das Ziel, Umweltsicherung, ist auch unser Ziel. Aber der Weg dahin, fürchte ich, wird keine Begeisterung auslösen.
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor zur Rettung der Natur?
STEINKÜHLER: Der Hausbrand ist doch gar nicht die Hauptursache der Luftverschmutzung. Die Großabnehmer müßten sorgsamer mit Energie umgehen und durch entsprechende Tarife auch dazu gezwungen werden. Die gegenwärtigen Tarife laden doch zu Verschwendung und Umweltzerstörung ein.
SPIEGEL: Die sozialen Härten, die Sie befürchten, ließen sich vermeiden, da gibt es viele sozialpolitische Möglichkeiten. Aber ausgerechnet jetzt, da die SPD etwas in die Praxis umsetzen will, was die IG Metall programmatisch auch schon gefordert hat, da zucken Sie zurück und sagen: Wir ziehen nicht mit, unsere Klientel wird zu stark belastet.
STEINKÜHLER: Ich bin dafür, daß der Energieverbrauch massiv gedrosselt wird, weil sonst die Welt kaputtgeht.
SPIEGEL: Das kriegen Sie doch nur über Verteuerung hin. Wie wollen Sie es denn sonst machen?
STEINKÜHLER: Ich bin nicht sicher, ob die Arbeitnehmerhaushalte zusätzlich belastet werden können.
SPIEGEL: Wollen Sie Öl zuteilen? Wie wollen Sie den Energieverbrauch drosseln, wenn nicht über den Preis?
STEINKÜHLER: Es gibt viele Möglichkeiten neben dem Instrument Preis, gegen das ich mich ja gar nicht ausspreche. Ich spreche mich nur gegen Preisbelastungen in Arbeitnehmerhaushalten aus. Denn viele dieser Haushalte sind bereits an der Grenze der Sparmöglichkeiten angelangt. Vielleicht muß man es so regeln, daß die Preiserhöhungen nur den oberen Einkommensgruppen zugemutet werden. Das wird man alles noch diskutieren müssen. Aber die Klientel, die ich vertrete, die Mitgliedschaft der IG Metall, die hat ein Familien-Nettoeinkommen von unter 3000 Mark im Monat. Und da wird es mir sehr schwerfallen, diesen Leuten zuzumuten, enorme Preissteigerungen hinzunehmen. Ich weiß nicht, wie die noch sparen sollen.
SPIEGEL: Die SPD versucht, ein Programm zur wirtschaftlichen Weiterentwicklung dieses Landes vorzustellen. Ihre Begeisterung dafür hält sich deutlich in Grenzen, Sie warnen und kritisieren. Hat die IG Metall ein Programm, das besser ist, das überzeugt und mitreißt?
STEINKÜHLER: Aber ja. Und vieles davon findet sich im Münsteraner Parteitagsantrag zur Sozialpolitik: gerechtere Verteilung des Arbeitsvolumens, individuelle Gestaltungsmöglichkeiten in der Erwerbsarbeit, mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz, gleiche Verteilung der Haus- und Erziehungsarbeit auf Männer und Frauen. Ferner 35-Stunden-Woche bei Sieben-Stunden-Tag. Das ist unsere Programmatik, die wir auf unseren Zukunftskongressen diskutieren. Das ist unser Kompaß für das Jahr 2000.
SPIEGEL: Welche Personen stehen in der SPD hinter diesen Forderungen?
STEINKÜHLER: Dieser Antrag ist im Parteivorstand - soviel ich weiß - einstimmig verabschiedet worden.
SPIEGEL: Wo ist die wirtschaftspolitische Persönlichkeit, mit der die SPD die nächste Wahl gewinnen kann?
STEINKÜHLER: Die kenne ich nicht.
SPIEGEL: Die SPD hat aber doch nur dann eine Chance, wieder an die Regierung zu kommen, wenn sie - wie Ende der sechziger Jahre - wirtschaftspolitische Sachkompetenz beweisen und auch personell vorstellen kann. Damals ging das mit Karl Schiller und dem Programm der Globalsteuerung. Wo ist ein solches Angebot der SPD heute?
STEINKÜHLER: Wo ist in der Regierungspartei CDU ein Mann, den wirtschaftspolitisch jemand ernst nimmt? Trotzdem regiert sie. Wo ist in der Regierungspartei FDP ein Mann, den wirtschaftspolitisch jemand ernst nimmt? Fehlanzeige. Trotzdem regiert sie. Leute von dem Kaliber eines Bangemann oder Stoltenberg hat die SPD allemal. Ob das ausreicht, die Wahl zu gewinnen, das weiß ich allerdings auch nicht.
SPIEGEL: Könnten Sie sich vorstellen, daß Sie selbst ins Kabinett gehen? Es gab 1966 mit Georg Leber schon einmal einen bekannten Gewerkschaftsführer, der Minister wurde.
STEINKÜHLER: Natürlich kann ich mir das vorstellen - allerdings erst nach meinem Ausscheiden mit 64 oder 65 Jahren bei der IG Metall. Vorher nicht. Ich bin in erster Linie IG-Metall-Vorsitzender. Ich hoffe, auch wiedergewählt zu werden bis zu meiner Pensionsgrenze.
SPIEGEL: Die Gewerkschaft zählt mehr?
STEINKÜHLER: Für mich ja. Die IG Metall zu führen mit mehr als 2,5 Millionen Mitgliedern, das ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Das ist etwas absolut Gleichwertiges wie Kabinettsmitglied zu sein.
SPIEGEL: Geht es überhaupt noch um Macht und Einfluß der Gewerkschaften? Einer der Lafontaine nahestehenden sozialdemokratischen Vordenker, Fritz Scharpf, behauptet, angesichts eines verschärften globalen Wettbewerbs und eines unkontrollierbaren, weltweiten Kapitalmarkts könnten die Gewerkschaften die Unternehmer gar nicht mehr unter Druck setzen.
STEINKÜHLER: Das ist eine sehr resignative These.
SPIEGEL: Aber vielleicht eine realistische Erkenntnis. Sinkt die Rendite einer Firma unter den Zinssatz des internationalen Kapitalmarktes, dann legen die Unternehmer ihr Geld lieber auf die Bank, statt in Arbeitsplätze zu investieren.
STEINKÜHLER: Die Dinge sind im Augenblick so, weil die Kräfteverhältnisse so sind. Aber wenn man das als unvermeidlich akzeptieren würde, dann würde das bedeuten, daß die Partei kapituliert. Das würde bedeuten, daß die Gewerkschaften kapitulieren, daß sie anfangen, sich im Kapitalismus mit den durch das Kapital vorgegebenen Grenzen einzurichten. Dann können die Gewerkschaften gleich zumachen, dann werden sie degradiert zum ADAC für Arbeitnehmer.
SPIEGEL: Sie halten an den alten Zielen und Visionen fest?
STEINKÜHLER: Weder eine Partei noch eine Gewerkschaft darf auf Visionen verzichten. Gerade die SPD täte gut daran, ihren Fixstern, der ihr Orientierung gibt, ein bißchen sichtbarer zu machen. Die Menschen brauchen einen solchen Fixstern, damit sie sich in den täglichen Auseinandersetzungen daran orientieren können.
Zur Zeit sind die Visionen der IG Metall klarer als die der SPD. Deshalb machen wir Druck auf die Partei, weil wir nicht wollen, daß sie kapituliert. Wir glauben, daß man sozialer und ökologischer wirtschaften kann als bisher und daß es trotzdem möglich ist, Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern.
SPIEGEL: Ist das nun Vision oder Illusion? In der Stahlindustrie, bei Krupp-Rheinhausen, haben Sie erleben müssen, wie Arbeiter und Gewerkschaften mit dem Rücken an der Wand standen.
STEINKÜHLER: Das Stahlwerk war realistischerweise nicht zu halten, aber wir standen keineswegs mit dem Rücken zur Wand. Wir haben eine ganze Menge bewegt. Zum ersten Mal haben Arbeitgeber ihre Verantwortung für die Schaffung neuer Arbeitsplätze schriftlich zugegeben. Außerdem haben wir vorgeschlagen, anstelle von Bargeldabfindungen Beschäftigungsgesellschaften zu gründen. Da wurde etwas Neues entwickelt - und jetzt steht das im wirtschaftspolitischen Leitantrag der SPD. Es ist also noch immer mehr zu bewegen, als viele glauben.
SPIEGEL: Wird der europäische Binnenmarkt 1992 den Handlungsspielraum der deutschen Gewerkschaften weiter einengen? Können Mitbestimmung, Kündigungsschutz, soziale Sicherung und Arbeitsschutz-Standards, die ja hierzulande sehr weit entwickelt sind, dann überleben?
STEINKÜHLER: Zunächst mal ist die Bundesrepublik keineswegs die soziale Oase der EG. Der Kündigungsschutz ist in anderen Ländern teilweise besser geregelt. Und in Belgien zum Beispiel dürfen Unternehmer aussperren, aber sie müssen die Löhne und Gehälter weiterzahlen.
SPIEGEL: Sie möchten gern die besten Standards zum Maßstab für Europa machen?
STEINKÜHLER: Ja, unbedingt. Allerdings muß klar sein, daß dies nicht ein halbes Jahr nach 1992 durch Gesetz verordnet werden kann. Unsere hohen Sozialleistungen in der Bundesrepublik sind auch Ausdruck unserer hohen Produktivität. Man kann deshalb die hohen Sozialleistungen, die wir haben, auch die hohen Lohnnebenkosten, nicht einfach auf Portugal übertragen. Damit würde man Portugal kaputtmachen. Dieses Land kam in die EG, um sich besser entwickeln zu können. Wenn das geschieht, werden sich auch die sozialen Standards angleichen.
SPIEGEL: Die Unternehmer-Verbände argumentieren, daß die sozialen Standards und die Arbeitnehmer-Rechte demnächst die Standortentscheidungen von Unternehmen beeinflussen werden. Heißt dies, daß dann in der Bundesrepublik, im Wettbewerb um Arbeitsplätze, der Sozialstaat abgebaut wird?
STEINKÜHLER: Die Bundesrepublik darf den Sozialstaat, der sie wohlhabend gemacht hat, der im Grundgesetz verankert ist, nicht ab 1992 zur Disposition der Unternehmer stellen. Ich habe den Eindruck, daß die Bundesregierung, wenn man die Aussagen von Kohl und Bangemann ernst nehmen kann, inzwischen andere Auffassungen als die Arbeitgeber vertritt. Die Regierung akzeptiert, darauf deuten die Aussagen von Kohl wie auch Bangemann hin, daß unsere Standards nicht abgebaut werden dürfen. Das sind Aussagen. Wir werden sie beim Wort nehmen müssen - falls sie 1992 doch noch an der Macht sind.
SPIEGEL: Falls die SPD nicht alle Ihre Visionen teilt, falls den Sozialdemokraten ein stärkeres Entgegenkommen gegenüber dem bürgerlichen Lager und den Unternehmern erforderlich erscheint - wo liegen die Grenzen Ihrer Kompromißfähigkeit?
STEINKÜHLER: Gewerkschafter haben in ihrer Geschichte ganz selten hundertprozentige Erfolge gehabt, und im Krötenschlucken müssen sie Meister sein. Aber eines werden sie nie im voraus sagen: welche Kröte sie noch zu schlucken bereit sind. Weder bei Tarifverhandlungen noch bei der SPD.
SPIEGEL: Herr Steinkühler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.