Jugoslawien: „Jeder kämpft gegen jeden“
Erstmals seit dem Sommer wurde der bisher unbehinderte "Marsch der Sajkaca" durch Jugoslawiens Provinzen gestoppt.
Als die Demonstranten - die meisten von ihnen zum Zeichen ihrer nationalserbischen Gesinnung mit der alten serbischen Soldatenmütze, der "Sajkaca" - am vorletzten Samstag im montenegrinischen Titograd das Parlament stürmen wollten, schlug die Polizei zurück. Der Angriff der 30000 wütenden "Sajkaca"-Leute mißlang.
Am Sonntagabend, zur besten Sendezeit, sprach der jugoslawische Staatspräsident, der Bosnier Raif Dizdarevic, 61, über alle Rundfunk- und Fernsehsender des Landes; zum ersten Mal seit dem Tod Titos vor acht Jahren wandte sich ein jugoslawisches Staatsoberhaupt direkt ans Volk.
Mit Leichenbittermiene räumte der Staatschef ein, es gebe genügend Gründe, in Jugoslawien unzufrieden und zornig zu sein: Die Inflation habe die 200-Prozent-Marke überschritten, der Lebensstandard sei auf das Niveau von vor zwölf Jahren abgesunken, es fehle an Arbeitsplätzen, das von der Regierung geplante Sparprogramm zwinge die Bevölkerung zum Protest.
Doch Massendemonstrationen stellten nur das Funktionieren des gesellschaftlichen Systems in Frage - notfalls werde er "außergewöhnliche Maßnahmen" ergreifen, um die Ordnung wiederherzustellen.
Was für Maßnahmen das konkret sind, ließ der alte Bosnier offen. Aber weil der Staatspräsident laut Verfassung auch Oberkommandierender der Streitkräfte ist, dachten die meisten Jugoslawen an einen drohenden Einsatz der Armee.
Tatsächlich wurde für die Streitkräfte die "Alarmstufe eins" ausgerufen und die Mobilmachung von mehr Reservisten verfügt als üblich. Auch wenn das Militär bis Ende voriger Woche in den Kasernen blieb - die größte Krise in der Nachkriegsgeschichte des Vielvölkerstaats
Jugoslawien mit seiner hochkomplizierten föderativen Verfassung schien erst noch bevorzustehen.
Ängstlich starrten Jugoslawen aller sechs Republiken und der zwei autonomen Provinzen auf den Montag dieser Woche, an dem das Plenum des Zentralkomitees der Gesamtstaatspartei in Belgrad zusammentrifft - zu dem fast aussichtslosen Versuch, die Selbstzerstörung Jugoslawiens durch die aufgebrochenen nationalen Rivalitäten in letzter Minute noch zu verhindern.
Aus dem lange schwelenden Streit um eine längst fällige Verfassungsänderung und ein praktikables Wirtschaftsprogramm sei "ein Kampf jeder gegen jeden, dazu noch nahezu jeder mit einem anderen Motiv" geworden, klagte der slowenische Parteichef Milan Kucan.
Ein uralter Nationalitätenkonflikt an der Schwelle des Jahres 2000: Bei der aktuellen Auseinandersetzung wirken Emotionen, Verdächtigungen und Falschmeldungen stärker als jedes vernünftige Argument.
Der Anlaß sind militante Massendemonstrationen des größten Volkes der Föderation, der Serben, die den beiden Provinzen Kosovo und Vojvodina ihre bisherige begrenzte Autonomie nehmen und sie der Polizeigewalt Serbiens unterstellen wollen - im Prinzip seit Ende September eine beschlossene Sache.
Sowohl die Bundesregierung wie auch das Parteipräsidium des "Bundes der Kommunisten Jugoslawiens" haben der serbischen Forderung bereits nachgegeben und wollen schon am Mittwoch für den Anschluß der Gebiete an Serbien stimmen. Wahrscheinlich bekommt der großserbische Volkseille, mobilisiert und hochgeputscht von dem serbischen Parteichef Slobodan Milosevic, 47, im Präsidium der Partei sogar die glatte Mehrheit.
Die KP-Führung der Vojvodina trat unter massivem serbischen Druck schon zurück, die des Kosovo sträubte sich noch. Stipe Suvar, ein konservativer Kroate und turnusgemäß zur Zeit Vorsitzender der 23 Spitzengenossen, hat inzwischen über das Fernsehen gedroht, wer eine andere Meinung vertrete, müsse als "Saboteur der Einheit" gelten.
Anderer Meinung sind vor allem die Slowenen, ferner die Kroaten und Bosnier, die den glatten Durchmarsch des Groß-Serben Milosevic aus Furcht vor serbischer Hegemonie noch stoppen wollen: Er brachte das vom Staatsgründer Josip Broz Tito nach dem Zweiten Weltkrieg kunstvoll geschaffene Gleichgewicht im Vielvölkerstaat durcheinander.
Besorgt meldeten sich vorige Woche auch die Nachbarstaaten Albanien und Ungarn, denen die Einvernahme der albanischen Bevölkerungsmehrheit im Kosovo und der ungarischen Minderheit in der Vojvodina durch Serbien nicht gleichgültig ist.
Trotz aller innen- und außenpolitischen Proteste schien den Spitzengenossen aus dem Staats- und Parteipräsidium, aus Regierung und der Skupstina, dem jugoslawischen Parlament - im Volk die "hundert goldenen Bonzen" genannt -, kaum ein anderer Weg zu bleiben: Entweder sie erfüllen die Forderungen von Milosevic, oder der läßt seinen großserbischen Mob gegen sie marschieren. Gerüchte über einen drohenden Militärputsch heizten das Klima auf.
Jahrelang hatten die Politiker den Konflikt zwischen Serben und Albanern im Kosovo mißachtet, die Wirtschaft mit immer neuen unrealistischen Programmen heruntergebracht, nicht funktionierende Fabriken gebaut und Steuergelder verschleudert; hatten durch Millionen-Skandale und Korruptions-Affären von sich reden gemacht.
Damit soll es nun vorbei sein. Präsident Suvar hat bereits angekündigt, er werde auf der Montagssitzung in Belgrad die persönliche Verantwortung aller 165 ZK-Mitglieder zur Debatte stellen. Mindestens 30 Prozent von ihnen, so seine Schätzung, dürften die Inquisition nicht überstehen.
Der einzige, der die Kritik der Massen, korrupt und unfähig zu sein, nicht zu scheuen braucht, ist Milosevic. Seine Kollegen im Präsidium fürchten ihn zwar mehr, als daß sie ihn lieben, doch über ihn gibt es keine Affären-Dossiers, nicht mal Gerüchte.
Und der populistische Groß-Serbe, ehemals Chefideologe an der Belgrader Universität, dann Staatsbankier, will nach den ersten Erfolgen mehr. Nachdem seinem aufgeputschten Anhang schon vorgewiesen werden kann, wie schnell sich die Macht der Serben erweitern läßt, möchte er als "neuer Tito" auch den übrigen Republiken den serbischen Weg zur jugoslawischen Einheit diktieren.
Dazu hat Milosevic eine Namensliste aller Politiker aufgestellt, die sich den serbischen Ambitionen bisher widersetzt hätten und deshalb gefeuert werden müßten. Im Kosovo sind es drei Spitzenpolitiker, darunter auch der Serbe Svetislav Dolasevic, der für Ausschreitungen der Albaner gegenüber der serbischen Minderheit in dieser Provinz mitverantwortlich sein soll.
In Slowenien, dem einzigen noch ernst zu nehmenden Gegner der Serben im Vielvölkerstaat, zielt Milosevic auf zwei Spitzenfunktionäre, dabei auch Stane Dolanc, Titos einstiger Kronprinz, inzwischen Vizechef im Belgrader Staatspräsidium. In Kroatien stört den Serben der ehemalige Außenminister Josip Vrhovec, weil der in aller Öffentlichkeit Milosevics Methoden mit denen der Faschisten verglich.
Ausgerechnet in der vorigen Woche wurde im Belgrader Parlament ein neuer Finanzskandal enthüllt, wonach das Organisationskomitee für das Studentensportfest im kroatischen Zagreb Gelder in Höhe von mindestens fünf Millionen Dollar unterschlagen haben soll. Chef des Komitees: Josip Vrhovec.
Die Republik Bosnien-Herzegowina zog sich den Zorn des groß-Serben zu, weil sie serbische Protestmärsche auf ihrem Gebiet nicht gestattet hatte. Zudem kommt Jugoslawien-Premier Branko Mikulic aus Bosnien: Auf ihm lastet die Verantwortung für die richtungslose Wirtschaftspolitik.
In der Forderung, den glücklosen Mikulic zu stürzen, ziehen sogar Serben,
Slowenen und Kroaten trotz aller sonstigen Gegensätze an einem Strang. Die Führung von Montenegro, die ohnehin schon laut überlegt, ob es beim niedrigen Lebensstandard des Bundeslandes nicht günstiger wäre, zum reicheren Serbien zu gehören, wird, wie das noch ärmere Mazedonien, kein Veto einlegen.
Milosevic hat für die Wirtschaft bereits in Konkurrenz zur Regierung eine eigene Kommission gegründet, deren Pläne in den wichtigsten Punkten sogar mit den slowenischen identisch sind: Mehr wirtschaftliche Selbständigkeit für die teilrepubliken, weniger Bürokratie, harte Einsparungen in den öffentlichen Haushalten, Zulassung auch größerer privater Betriebe und ausländischer Beteiligungen.
Die Slowenen wollen noch viel weitergehen, etwa gegen ein einheitliches Steuersystem; sie verlangen Mitsprache bei der Landesverteidigung. Um diesen Widerstand niederzuwalzen, scheute Milosevic auch politische Hetze nicht. Man höre, so der Serbe vor seinem ZK, aus Slowenien die Meinung, die Republik solle sich der EG anschließen und die südlichen Teile Jugoslawiens "Asien" überlassen - ein absurdes, in Serbien aber gern geglaubtes Polit-Märchen.
Der slowenische Schriftsteller Cyril Zlobec hingegen fürchtet, daß Belgrad kein sicherer Ort mehr sei, wo man über Verfassungsänderungen noch diskutieren könne: "Als Andersdenkender ist man in Belgrads Straßen nicht mehr sicher." Worauf ihm die Belgrader Zeitung "Politika" wütend antwortete, das einzige, wovor sich der Slowene fürchten müsse, sei "sein eigener Schatten".
Bei so viel Mißtrauen und Haß besteht wenig Aussicht auf pragmatische Lösungen für den Bestand des Vielvölkerstaates, dessen Teile sich vor allem durch das kraß unterschiedliche Wirtschaftsniveau auseinandergelebt haben.
Der Lebensstandard im florierenden Slowenien ist ein Resultat nicht nur von mehr Fleiß und besserem technischen Know-how, sondern auch von einem Vorsprung an Mitbestimmung, Medienfreiheit und Demokratie, von größerer politischer Reife also. Das von seinen Serben umjubelte autoritäre System des Slobodan Milosevic andererseits findet Nährboden in einer politisch unterentwickelten Gesellschaft, die sich von einem starken Mann die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Misere verspricht.
Ein Eingreifen der Militärs, denen ohnehin das Kommando-System des Serben viel näher steht als das komplizierte demokratische Kräftespiel der Slowenen, wäre das Ende von Titos Traum eines sozialistischen Vielvölkerstaats, es wäre der Beginn einer blutigen Diktatur.
Bislang glaubt man in Belgrad, an einer solchen Katastrophe vorbeizukommen. Die meisten rechnen damit, daß es, auch mit verändertem Personal, wie bisher weiter geht - bis zur nächsten, noch schärferen Krise.
[Grafiktext]
JUGOSLAWIEN KROATIEN Zagreb Serben 11,6 Übrige 13,3 Moslems 39,5 Übrige 28,5 Ungarn 18,9 Novi Sad VOJVODINA Serben 66,4 Belgrad SERBIEN Albaner 14,0 Albaner 87,4 Übrige 19,6 Serben 10,0 Montenegriner 1,4 Pristina Übrige 1,2 KOSOVO Skopje Albaner 19,7 Serben 2,3 Mazedonier 67,0 Übrige 11,0 MAZEDONIEN Serben 32,0 Sarajevo BOSNIEN-HERZEGOWINA Montenegriner 76,3 Serben 3,6 Albaner 7,3 Übrige 12,8 MONTE NEGRO Titograd ITALIEN SLOWENIEN Ljubljana Übrige 7,2 Serben 2,3 Slowenen 90,5 UNGARN Kroaten 75,1 Serben 54,0 RUMÄNIEN Übrige 27,1 BULGARIEN GRIECHENLAND ALBANIEN ADRIATISCHES MEER Lebensstandard 1987 im Vergleich zu 1970: Durchschnitt aller Republiken und Provinzen 1970 = 100 (gestrichelte Linie) Volkszugehörigkeit in Prozent der Einwohner 150 Kilometer
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