AfD Ich. Ich. Ich!
Ein paarmal hat Martin Renner noch von seinem Zusammenstoß mit Frauke Petry geträumt. Dann kommt er wieder aus der Herrentoilette in der Stadthalle von Schmallenberg im Sauerland. Und da steht Petry, im dunklen Hosenanzug, der Blick wild entschlossen. Sie ist Renner in den Keller gefolgt, hat vor der Klotür auf ihn gewartet.
Es ist Mai 2013, oben in der Stadthalle tagt der neue Landesverband NRW der Alternative für Deutschland. Unten im Keller, so erzählt Renner, stürzt sich die zierliche Petry auf den viel größeren Parteifreund. Sie drängt ihn in eine Ecke zwischen Heizkörper und Notausgang und drückt ihm ein Blatt Papier in die Hand. "Sie unterschreiben jetzt, sofort!"
Renner soll seine Rechte am AfD-Logo abtreten. Der rote Pfeil vor cyanblauem Hintergrund, das war seine Idee. Seit Wochen fordert Bundessprecherin Petry ihn auf, der Partei das Logo zu schenken. Der Pfeil gehöre allen. Renner hat sich stets geweigert. Jetzt ist Petrys Geduld am Ende.
"Wie eine Hornisse" habe sie ihn bedrängt, erinnert sich Renner, "sehr unangenehm" sei die Szene gewesen, die mehrere Parteifreunde beobachteten. Er hätte handgreiflich werden müssen, um die Frau abzuschütteln. Lieber unterschrieb er.
Martin Renner hat eine Frauke Petry erlebt, wie sie wenige AfD-Mitglieder kennen: verbissen, hart, aggressiv. Ganz anders als die offizielle Frauke Petry, die an diesem Wochenende auf dem Parteitag in Essen zentrale Führungsfigur der AfD werden will. Im Kosmos der Eurogegner, in dem alle ständig lästern, streiten, intrigieren, gilt die 40-Jährige aus Sachsen als die Versöhnliche, die mit ihrer herzlichen, zupackenden Art Menschen überzeugen und Gräben überbrücken kann. "Gemeinsam statt einsam", heißt ihr Slogan.
Welche Petry ist die echte?
Die offizielle Petry will das Gegenmodell sein zu Bernd Lucke, dem technokratischen, gefühlsarmen VWL-Professor, der in der Gründungsphase der AfD die Identifikationsfigur der Eurogegner war. Lucke wurde damals bewundert, gar verehrt, doch in letzter Zeit hat ihn sein autokratischer Führungsstil viel Sympathie gekostet. Seit Lucke den Verein "Weckruf 2015" ins Leben gerufen hat, der bürgerliche Kräfte in der AfD bündeln und den Rechtsruck der Partei bremsen soll, gilt er vielen als Spalter.
Lucke kennt beide Petrys, mit keiner will er im Vorstand sitzen. "Ich kann ihr nur noch schwer vertrauen." Mehrere Fälle fallen ihm ein, in denen er sich verraten fühlte. Petry würde "lügen, ohne rot zu werden", klagte er jüngst in einer Mail an Vertraute.
Petry sagt, solche haltlosen Vorwürfe lasse sie "an sich abprallen". Auch die Szene mit Renner sei heillos übertrieben. Man habe bloß diskutiert. In einer Demokratie müssten alle miteinander arbeiten können, predigt Petry ihren Anhängern, die AfD lebe von der Vielfalt. Lucke tue ihr irgendwie leid: "Ich kann ihn noch umarmen."
Sie hat Chancen, die Kampfabstimmung der 4000 Mitglieder am Wochenende in der Grugahalle zu gewinnen. Aber siegen kann sie nur als Frauke, die Gute. Will sie Lucke entthronen, darf die verbissene Petry nicht in Erscheinung treten.
Aber manchmal blitzt sie doch durch. Etwa in dem Anti-Lucke-Video, das Petrys Anhänger vor Kurzem über Facebook und YouTube verbreiteten. Es beginnt mit einer Collage aus Lucke-Satzfetzen: "Ich", sagt er immer wieder. "Ich! Ich. Ich. Ich!" Der Egomane Lucke wird dann abgelöst von Bildern einfacher AfD-Mitglieder, die sich umarmen, Hunde streicheln, mit Kindern im Sandkasten spielen. "Wir!", rufen sie in die Kamera, unterlegt von rockigen Gitarrenklängen. "Wir. Wir. Wir!"
Auch Frauke Petry taucht in der Collage auf, sie steht in einem sonnigen Garten. Mit kühlem Blick und schmalen Lippen schaut Petry in die Kamera. "Wir!", sagt sie energisch. Es klingt wie ein Befehl. Ihr Gesicht hat den Ausdruck, den wohl auch Martin Renner im Keller sah.
In Petrys Leben war nie viel Raum für ein Wir. In ihr arbeitet ein starkes, hochintelligentes Ich.
"Eine Traumschülerin war Frauke, die Beste in einem sehr guten Kurs", erinnert sich Harald Sparringa, ihr Lehrer im Chemie-Leistungskurs am Gymnasium Bergkamen, als sie nach der Wende in den Westen kam und noch Marquardt hieß. "Ich konnte mich stets auf sie verlassen." Gerade bei schwierigen Fragen musste Sparringa nicht aufschauen von seiner Versuchsanordnung, um zu wissen: dieses eifrige Fingerschnipsen, das ist Frauke.
Für Lehrer ist Ehrgeiz keine negative Eigenschaft. Bei Frauke Marquardt brannte die Flamme aber so lichterloh, dass manche Mitschüler klagten, sie bekämen kein Bein auf den Boden. Umgekehrt gab es Tränen, wenn Frauke mal nicht die Bestnote schaffte. "Eine Zwei war eine Niederlage. Und mit Niederlagen konnte sie nie gut umgehen", sagt Sparringa. Woher der Ehrgeiz kam, begriff er beim Elternsprechtag. Mutter Renate Marquardt, auch Chemikerin, kam mit ein paar Ideen, wie man den Unterricht optimieren könnte.
Die Freude an Chemie verband Lehrer und Schülerin über das Abitur hinaus. Sie schrieben einander noch, als Frauke im englischen Reading Chemie studierte. Die Studienortwahl war logisch: In Englisch hatte Frauke im Abi keine Eins. Der Kontakt überdauerte auch die Promotion in Göttingen, wo Petrys erstes Kind zur Welt kam. Sie hatte stets geplant, früher Mutter zu werden als ihre eigene Mutter damals.
Als Petry Jahre später mit vier Kindern in Sachsen lebt, sieht Sparringa seine Schülerin im Fernsehen. Jetzt richtet sich Fraukes Ehrgeiz gegen den Euro und die "Altparteien" und später auch gegen innerparteiliche Gegner. Das letzte Mal schreibt Sparringa ihr Anfang Juni, zu Fraukes 40. Geburtstag. "Ich mache mir Sorgen um Dich." Dieses Mal kommt keine Antwort.
Es war Renate Marquardt, die ihre Tochter zur AfD brachte. Im Internet stieß sie auf die "Wahlalternative 2013", den Vorläufer der AfD, und schickte der Tochter den Link: "Ist das was für Dich? Du schimpfst doch so über den Euro."
Petry ist elektrisiert. Sie schickt den Organisatoren ihren Lebenslauf mit der Eliteförderung durch die Studienstiftung des deutschen Volkes, dem Doktortitel und natürlich der Verdienstmedaille, die ihr Bundespräsident Gauck 2012 für"besondere Courage und Tatkraft im Bereich Forschung und Entwicklung" verliehen hatte. Petry klickte bei allen Fragen der Organisatoren stets "Ja" an: Könnten Sie Treffen der örtlichen Wahlalternative organisieren? Würden Sie Plakate kleben? Könnten Sie sich vorstellen, für ein politisches Amt zu kandidieren? Ja! Ja! Ja! Bald wird sie die Landesbeauftragte der Wahlalternative für Sachsen.
Dabei hat sie alle Hände voll zu tun mit Purinvent. Petrys Firma schwächelt schon seit Ende 2012, obwohl sie als einzige auf dem Weltmarkt einen umweltfreundlichen Füllstoff anbietet, der die Reifen schwerer Baumaschinen nahezu unzerstörbar macht.
Petrys Mutter hat die Rezeptur im Labor ausgetüftelt, und der Vater, ein Ingenieur, entwickelte vor seinem frühen Tod die Produktionsanlage. Petry ist fürs Geschäft zuständig. Die Reifenbranche ist brutal, mindestens so hart wie die Politik, und die junge Unternehmerin ist zwar ehrgeizig, aber unerfahren. Petrys Konkurrenz lästert, wo es geht, über Purinvent. Als dann noch Reklamationen kommen, geht es bergab.
"Man hätte wohl geduldiger sein müssen beim Markteintritt, nicht gleich losstürzen, sondern das Produkt in Ruhe testen sollen." Das sagt Marcus Hoppert, Petrys Exvertriebsleiter. Im Frühjahr 2013 findet er das Büro der Chefin oft leer vor, sie ist bei der Partei. Hoppert hat mit Politik nichts am Hut, aber er schätzt Petry und glaubt an Purinvent. Eine Weile macht er weiter, reist bis nach Dänemark, um wichtige Kunden zu besänftigen. Aber die Dänen sind genervt, sie wollen die Chefin sehen.
Petry sucht verzweifelt Investoren, tingelt mit dem AfD-Geschäftsführer durch die Banken. Aber es ist zu spät. Nach Abitur, Studium, Promotion und Kindern ist Purinvent das erste Projekt, das Petry nicht erfolgreich abschließt. Die Niederlage ist unendlich größer als eine Zwei in der Klausur. Sogar eine Privatinsolvenz muss Petry verdauen, zeitweise ermitteln Staatsanwälte wegen Verschleppung, ergebnislos.
Dafür muss wenigstens die Politik klappen. Verbissen stürzt sich Petry in den Sachsenwahlkampf. Sie schafft im August 2014 ein Traumergebnis: 9,7 Prozent. Lucke, damals klare Nummer eins der AfD, freut sich. So halb. Er merkt, dass Petry aktiver wird, sich vernetzt, im Bund mehr Präsenz will – und gegen ihn arbeitet.
In dieser Zeit wird die Saat der Zwietracht in der AfD gesät. "Sicher habe ich auch viele Fehler gemacht", sagt Lucke. Aber er habe stets sauber gespielt, geradeheraus. Petry dagegen habe ihn ständig getäuscht und aufs Kreuz gelegt. Lucke spricht neuerdings sehr offen. Es hilft nichts, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Es könnten Luckes letzte Tage in der AfD sein. Wenn Petry siegt, will er aus dem Vorstand gehen. Wenn Lucke siegt, will Petry trotzdem bleiben. Dann ginge der Kampf weiter.
Lucke zählt ihre Vertrauensbrüche auf. Da war der Abend, an dem sie zwei Stunden telefonierten, ohne dass Petry ihm beichtete, dass am folgenden Morgen ihr Gang zum Insolvenzgericht anstand. Der AfD-Vorstand habe von der Pleite aus einer Pressemitteilung erfahren.
Dann war da der Streit mit den Rechten der Partei, in dem Petry nie Position bezogen habe. Man könne nicht zugleich scharfmachen und versöhnen, klagt Lucke.
Und dann war da die Debatte über die Frage, wie viele Chefs die AfD führen sollten. Einer? Zwei? Drei? Anfangs habe Petry klar für Luckes Einerspitze plädiert, berichten AfDler übereinstimmend. So mache man es auch in der Wirtschaft, habe sie doziert. Dann dämmerte ihr wohl, dass sie künftig Nummer zwei wäre. Nun forderte sie Pluralität, machte Stimmung gegen Luckes "Autokratie". Der Ton wurde immer schärfer, mühsam fand die Parteispitze einen Kompromiss. Bald darauf hörte Lucke, dass Petry den Deal hinter den Kulissen heimlich torpediert habe.
"Frauke hätte doch alles werden können in der AfD", sagt Lucke, so jung wie sie sei. Konnte sie nicht zwei Jahre warten? Er hätte Fraktionschef im Bundestag werden und sie die Partei steuern können. Aber warten kann Petry nicht.
Eine Woche vor dem Showdown auf dem Parteitag reist sie nach Athen. Die Eurokrise könne man nicht vom Schreibtisch aus lösen, sagt sie vor der Abreise. Wieder ein Nadelstich gegen Bücherwurm Lucke, der sich um Rechenformeln schert, nicht um die Sorgen "normaler Griechen".
Am Freitagabend, wenige Stunden bevor Alexis Tsipras sein Referendum bekannt gibt, sitzt die AfD-Delegation im Büro von Georgios Kyrtsos. Es ist nach 20 Uhr, der EU-Abgeordnete tischt Bier, Fanta und Käsecracker auf. Die Eurogegner machen es sich im Kreis auf plüschigen Sesseln bequem, nun könnte der gemütliche Teil der Tour beginnen. Aber für Frauke Petry ist noch nicht Feierabend. Sie will über den Euro reden und das griechische Sozialsystem. Kyrtsos, der erst seit einem Jahr die hinteren Bänke in Straßburg besetzt, würde lieber über griechische Taxifahrer plaudern, über seine Frau und die schöne Zeit, als er einer der bekanntesten Journalisten Athens war. "Ja, okay. Könnten wir kurz zu den Renten zurückkommen", unterbricht ihn Petry. Sie macht sich Notizen in einem Oktavheft. Einigen Mitreisenden fallen die Augen zu.
Später im Lokal beim Weißwein wird Petry lockerer, reißt einen Witz über ihre Rivalen: "Bernd Lucke, Ulrike Trebesius und Hans-Olaf Henkel sind in der Ostsee auf Segeltour und geraten in Seenot. Das Boot kentert. Wer wird da gerettet?"
Na? Erwartungsvoll blickt Petry in die Runde. "Die AfD!" Sie prustet los, nicht ohne aus dem Augenwinkel zu beobachten, wer mitlacht. Das sei das Schöne an ihrem Parteiflügel, gluckst Petry: "Wir können immer noch lachen." Bei Luckes Leuten gehe es so freudlos zu. "Es erinnert mich ein bisschen an die DDR. Da war das Regime auch furchtbar humorlos und der Widerstand kreativ."
Zwei Tage später, am Sonntag, ist Gottesdienst in der Gemeinde Sankt Mauritius in Frankenhain bei Leipzig. Es ist die Kirche, in der 2009 Petrys Ehemann Sven ordiniert wurde. Man singt Lied Nummer 628 aus der offiziellen Sammlung, ein Lied über Nächstenliebe: "Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen, gib mir den Mut zum ersten Schritt." Sven Petry predigt über den Umgang mit Feinden. Er hat die Bibelstelle ausgewählt, in der David und König Saul, zwei Erzfeinde, sich zufällig in einer Höhle in der Wüste treffen. David könnte den Gegner, den Gott wehrlos in seine Hände gab, jetzt einfach töten. Aber er schneidet nur heimlich einen Zipfel von Sauls Gewand ab und lässt ihn ziehen.
Alle Menschen, sagt Pfarrer Petry, ob Staatsmänner, Nachbarn oder Kollegen, seien irgendwann harten Konflikten ausgesetzt. Aber Frieden sei nicht möglich, warnt er, wenn sich Feinde so ineinander verkeilen, dass sie lieber gemeinsam in den Abgrund fallen, als nachzugeben.
Nach dem Gottesdienst bleibt Sven Petry auf dem kleinen Friedhof vor der Kirche stehen. Wäre es ihm lieber, wenn seine Frau aufhörte mit der Politik? "Nicht jeder Herausforderung kann man sich einfach entziehen. Manche muss man annehmen, zum eigenen Wohl", sagt Petry kryptisch.
Er kennt die AfD kaum, ist kein Mitglied. Wenn Frauke Petry heimkehrt von der Front, aus Herford oder Limbach-Oberfrohna, will daheim wohl keiner genau wissen, wie es denn gelaufen ist, wer auf Facebook gerade Freund oder Feind ist und welcher Kreisvorsitzende loyal oder gefährlich. Ob dann die weiche oder die verbissene Frauke am Abendbrottisch sitzt?
Petry hat ihre Mutter gebeten, zum Parteitag nach Essen zu fahren. "Ich habe ihr gesagt, du musst kommen, ich brauche dich da", sagt sie. Und fügt rasch hinzu: "Also, das heißt, ich brauche ihre Stimme."