„Antisemitismus ist salonfähig“
SPIEGEL: Herr Bubis, haben Sie heute antisemitische Briefe in Ihrer Post gefunden?
BUBIS: Ja, auch. Dazu gehören Drohungen und blödsinnige Pamphlete, die Juden würden sich überall einmischen, bis hin zu Beschimpfungen. Neulich schrieb mir ein Mann, daß er mich im ZDF gesehen habe und daß er allergrößte Hochachtung empfinde - bis ihm eingefallen sei, daß ich andersrassig sei und deshalb alles, was ich sage, ganz schlimm sei.
SPIEGEL: Was ist neu an diesem Antisemitismus?
BUBIS: Neu ist nur, daß die Briefe jetzt mit Absender geschrieben werden. Antisemitismus ist wieder salonfähig. Man darf es wieder.
SPIEGEL: Fühlen Sie sich bedroht, schützen Sie sich mit Leibwächtern?
BUBIS: Seitdem ich Vorsitzender des Zentralrats bin, muß ich damit leben. Ich habe keine verlangt, sie sind mir vom Staat gestellt worden. Wenn mir vorher etwas passiert wäre, wäre ich einer unter vielen gewesen. Wenn heute ein Attentat passiert, handelt es sich um den Vorsitzenden des Zentralrats. Davor hat der Staat Angst.
SPIEGEL: Seit Rostock, Sachsenhausen und Mölln herrscht in den Jüdischen _(* Mit Redakteuren Karen Andresen und ) _(Gerhard Spörl in seinem Frankfurter ) _(Büro. ) Gemeinden Angst vor den neuen Rechten. In etlichen Familien finden Gespräche statt, ob es an der Zeit sei, auszuwandern. Rechnen Sie damit, daß viele ihre Koffer packen?
BUBIS: Nein. Allerdings ist eine Diskussion in Gang gesetzt worden. Die Jewish Agency hat mich angegriffen, ob ich denn nicht verstünde, was los sei in Deutschland, warum ich die Juden nicht zur Auswanderung nach Israel auffordere. Da wird auch behauptet, eine Auswanderungswelle habe eingesetzt. Aber das stimmt nicht. Soviel ich weiß, sind im vergangenen Jahr 110 und in diesem Jahr 146 Juden aus Deutschland ausgewandert, darunter Israelis, die hier Deutsche geheiratet hatten.
SPIEGEL: Wenn jemand aus Ihrer Gemeinde Sie um Rat fragt, ob er auswandern soll, was raten Sie ihm?
BUBIS: Ich sehe in den jetzigen Ereignissen keine Veranlassung, auszuwandern. Wir haben weder 1932 und schon gar nicht 1938. Zur Weimarer Zeit haben sich die politischen Parteien untereinander bis aufs Blut bekämpft, es gab Bürgerkrieg zwischen Kommunisten und Nazis. Das war eine andere Stimmung, eine andere Zeit. Wir haben eine demokratische Regierung, eine demokratische Verfassung. Wenn zwischen 80 Millionen Menschen auch ein paar Millionen Antisemiten leben, dann ist das für mich immer noch - leider - eine Normalität.
SPIEGEL: Die neuen Antisemiten stören Sie nicht sonderlich, weil es Antisemitismus immer gegeben hat und immer geben wird?
BUBIS: Antisemitismus hat es seit 2000 Jahren immer und überall in unterschiedlicher Brutalität gegeben. Wenn wir überall, wo sich Antisemitismus rührt, auswandern wollten, müßten wir ganz Europa verlassen und Amerika gleich mit.
SPIEGEL: Ihr Relativismus überrascht. Es ist doch ein Unterschied, wo der Antisemitismus wieder auftaucht - in Amerika, in England oder eben im wiedervereinten Deutschland.
BUBIS: Natürlich denken wir beim neuen deutschen Antisemitismus an die Jahre 1933 bis 1945. Aber ich halte mich an den Antisemitismus in seiner heutigen Ausprägung. Natürlich gibt es auch Antisemiten oder Neonazis, die so denken wie die Hitler-Nazis. Nur ist deren Zahl sehr gering, und nicht jeder Wähler der Rechtsradikalen ist gleichzeitig ein Neonazi. Allerdings sollten die Bürger daran denken, wohin Rechtsradikalismus uns schon einmal geführt hat, nämlich in den Abgrund.
SPIEGEL: Sie sehen Ihre Aufgabe darin, zu beruhigen und zu beschwichtigen?
BUBIS: Ich sehe die Gefahr, die in Ausländerhaß, Antisemitismus und Rechtsradikalismus liegt. Ich sehe sie seit 1945. Es war nie anders. Heute kommt die Gewalt hinzu, die wir erleben. Wenn der Staat die Gewalt in den Griff bekommt - er kann sie sehr leicht in den Griff bekommen -, dann sind wir wieder beim üblichen Stand der Dinge. Es ist für mich heute nicht schlimmer, als es früher war - bis auf die Gewalt.
SPIEGEL: Andere sehen tödliche Gefahren im Rechtsextremismus. Ralph Giordano etwa meint, die Juden müßten sich selber schützen, bis hin zur Bewaffnung. Spricht er aus, was viele denken?
BUBIS: Das glaube ich nicht. Es ist doch so, daß der Staat uns nicht weniger schützt als andere Bürger. Mehr verlange ich nicht. Und was folgt denn daraus, wenn sich die Minderheiten bewaffnen? Morgen werden es die Türken sein, und übermorgen werden es die Kurden sein, die ja Angst vor den Türken haben. Dann werden es die Kroaten sein, die Angst vor den Serben haben, dann werden es die Serben sein. Wo kommen wir da hin? Es bleibt aber eine Tatsache, daß Rechtsextremismus gefährlich ist, und insoweit verstehe ich die Ängste von Herrn Giordano und anderen.
SPIEGEL: Wenn schon Ihre Sorgen nicht gewachsen sind, ist dann wenigstens Ihr Zorn gewachsen, etwa wegen des Rostocker Bürgerschaftsabgeordneten Karlheinz Schmidt, der Ihnen bedeutete, daß Sie eigentlich nach Israel gehören?
BUBIS: Wissen Sie, solche Bemerkungen, gedankenlos geäußert, höre ich selbst von guten Freunden. Einer, den ich seit 20 Jahren und noch länger kenne, ein Parteifreund, mit dem ich dem hessischen Landesvorstand der FDP angehörte und mit dem ich zusammen gekungelt habe, sagte, als die Polizei irgendwo nicht gleich eingriff, daß so etwas in meiner Heimat nicht passiere. Darauf habe ich ihm gesagt: "Du wirst es nicht glauben, aber in Frankfurt passiert das täglich."
SPIEGEL: In der Jüdischen Gemeinde gibt es allerdings auch Kritik an Ihrer sehr gelassenen Haltung.
BUBIS: Ich habe Verständnis für die Ängste. Wir hatten schon öfter politische Ausbrüche von Antisemitismus, etwa Mitte der sechziger Jahre, als die NPD aufkam. Da kamen manche Leute auf die Idee, innerhalb unserer Jugendgruppen könne man Leute ausbilden und sie bewaffnen, also Selbstschutz organisieren. Darauf habe ich gesagt: "Nicht mit mir. Ich verhelfe nicht dazu, junge Leute zu bewaffnen, weil ich nicht weiß, was daraus wird." Ich war erbost über die Äußerung von Ralph Giordano, weil das den einen oder anderen jungen Mann dazu verleiten könnte, sich eine Waffe zuzulegen. Das hielte ich für ganz schlimm.
SPIEGEL: Werfen Sie Giordano vor, daß er zu Hysterisierung beiträgt?
BUBIS: Ja, das werfe ich ihm vor, obwohl ich ihn verstehen kann. Ich meine, daß ich mit meiner Art mehr erreiche als mit Schreien und mit Bitternis über 1000 oder 5000 Gewalttäter.
SPIEGEL: Es hat gedauert, bis die Regierung auf die Gewalt reagiert hat - warum?
BUBIS: Die Gewalt ist verharmlost worden. Ich behaupte aber immer noch, daß diese Gruppe, der es um alles Fremde geht, relativ klein ist. Die Frage ist nur, was daraus wird. Denn wir haben uns an die Gewalt gewöhnt. Wir schauen heute schon mit weniger Entsetzen auf die Bilder im Fernsehen, der Gewöhnungseffekt ist enorm. Wenn der Staat nicht bald sein Gewaltmonopol einsetzt, kann es zu schlimmen Folgen auf Dauer führen.
SPIEGEL: Die Ausschreitungen in Deutschland fallen in eine Zeit, in der Krieg und Bürgerkrieg in Europa als Mittel der Politik gelten. Wirkt sich das auf das Klima aus?
BUBIS: Gut möglich, daß sich die rechten Terroristen hierzulande von den Ereignissen anderswo ermutigt fühlen. Sie sehen, daß die Serben nicht mit den Kroaten und auch nicht mit den Slowenen leben können. Die Ukrainer bekriegen die Russen, die Armenier die Aserbaidschaner. Wieso soll man dann in Deutschland lieb Kind sein mit Vietnamesen, Afghanen, mit den Juden? Wir leben ja in einer Zeit - das war schon immer so -, in der sich sehr leicht mit dem Finger auf andere zeigen läßt.
Was Sachsenhausen und Ravensbrück anbelangt, hat allerdings der Historikerstreit eine böse Rolle gespielt. Das war der Beginn der Relativierung der Vergangenheit. Das gehört zum Klima, in dem die Gewalttäter losschlagen.
SPIEGEL: Im Ausland, zumal in Israel, werden die Deutschen derzeit schief angesehen. Trägt das schlechte Echo entscheidend zur Besinnung von Staat und Regierung bei?
BUBIS: Das Bild vom bösen Deutschen sorgt für Besinnung. Wir wollen in der Welt eine Rolle spielen, sind ja auch wer, wir sind wirtschaftlich stark, wir sind politisch stark. Wir wollen in den Sicherheitsrat der Uno, auch wenn die Bundesregierung das nicht offen zugibt. Da ist es schädlich, wenn das Ausland Grund zur Besorgnis hat.
SPIEGEL: Die Zusammensetzung der Jüdischen Gemeinden verändert sich durch die Zuwanderung aus Osteuropa. Haben Sie die Sorge, daß sich der Antisemitismus in diesen neuen Juden in Deutschland ein Objekt sucht?
BUBIS: Nein. Für den Antisemiten bin ich genauso der Fremde wie der, der aus Rußland kommt. Da machen sie keinen Unterschied.
SPIEGEL: In Israel wird heftige Kritik geübt, daß die osteuropäischen Juden sich in Deutschland ansiedeln, anstatt nach Israel auszuwandern.
BUBIS: Die Israelis möchten, daß alle Juden in Israel leben. Das ist nicht mein Standpunkt, das ist auch nicht der Standpunkt der vielen Millionen anderer Juden, die nicht in Israel leben. Selbst die Israelis haben ihre Haltung ein bißchen geändert. Früher haben sie gesagt, es könne sich niemand als Zionist bezeichnen, der nicht in Israel lebt. Inzwischen sagen sie, man kann auch dem Zionismus anderswo anhängen. Zionismus ist der Wunsch nach einem eigenen jüdischen Staat. Dem fühle ich mich auch verbunden. Dort lebt ein Großteil des jüdischen Volkes. Aber Israel ist nicht meine Heimat. Ich hoffe, daß ich nicht einmal dorthin flüchten muß.
SPIEGEL: Herr Bubis, an Ihrer Argumentation fällt auf, daß Sie eher als Repräsentant der Deutschen und nicht so sehr als Funktionär der Juden in Deutschland auftreten. Wollen Sie sich von Ihrem Vorgänger Heinz Galinski unterscheiden?
BUBIS: Ganz so ist es nicht. Galinski hat die Interessen der hier lebenden Juden, aber auch die Interessen der Deutschen vertreten. Gleiches gilt für mich, auch wenn ich mich manchmal in der Vorgehensweise beziehungsweise in der Artikulierung von Galinski unterscheide.
SPIEGEL: Der Zentralrat der Juden in Deutschland ist nach der Nazizeit gegründet worden. Der Name sollte ausdrücken, daß es für Juden nach Hitler fast unmöglich war, sich mit Deutschland zu identifizieren. Sie tun es. Aber gilt das für die Mehrheit der Juden?
BUBIS: Viele aus meiner Generation haben Schwierigkeiten, sich als Deutsche zu verstehen. Bis 1933 hat es ein deutsches Judentum gegeben. Es ist umgebracht worden. Als ich 1945 nach Deutschland zurückgekommen bin, habe ich mich auch als Jude in Deutschland gefühlt. Das war nicht meine Heimat. Ich bin wieder in meine Geburtsstadt Breslau gegangen. Die Stadt war mir fremd. Ich bin dann nach Deutschland gegangen, aber eigentlich nicht, um zu bleiben, sondern um auszuwandern.
SPIEGEL: Wann fiel die Entscheidung, in Deutschland zu bleiben?
BUBIS: Bei mir hat es drei, vier, fünf Jahre gedauert. Ich kann heute nicht mal sagen, wann wirklich der Entschluß gefallen ist, zu bleiben. Ich habe 1953 geheiratet. Meine Frau lebte in Paris. Ich wohnte damals in Pforzheim. Ich habe immer davon gesprochen, ich müsse noch abwickeln und würde danach mit ihr nach Frankreich gehen. Wahrscheinlich habe ich mir schon damals etwas vorgemacht. Daß ich mich wieder als deutscher Jude oder als deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gefühlt habe, kam peu a peu in den sechziger Jahren. Wie ich denkt eine Minderheit der Holocaust-Generation, mehr nicht.
SPIEGEL: Und die jungen Juden, die in Deutschland geboren sind und hier aufwuchsen: Verstehen sie sich als deutsche Juden?
BUBIS: Sie sind mehrheitlich bereit, sich als deutsche Juden zu betrachten. Sie haben das Gefühl, deutsche Juden zu sein. Aber sie werden von den Nichtjuden, von Leuten wie Karlheinz Schmidt in Rostock, daran erinnert, daß sie es in deren Augen nicht sind. Das Nichtdazugehören wird ihnen, wird uns von außen aufgezwungen.
Diese Zurückweisung ist sehr weit verbreitet. Deshalb ist es mein Anliegen, die nichtjüdische Bevölkerung daran zu erinnern, daß es mal ein deutsches Judentum gab. Wenn die nichtjüdische Bevölkerung nicht umdenkt, wird es auf Dauer keines geben.
SPIEGEL: Aber Sie halten es für möglich, daß sich diese junge Generation als deutsche Juden versteht?
BUBIS: Ja, ganz sicher. Meine Tochter ist 29, sie ist in Frankfurt geboren, hat zwei Jahre in Paris studiert. Dann kam sie nach Frankfurt zurück und hat hier weiterstudiert. Warum sollte sie sich nicht als Deutsche fühlen? Wenn man sie läßt und solange man sie läßt, werden die Jungen den Alptraum ihrer Eltern nicht unbedingt übernehmen. Aber: Man muß sie lassen und darf sie nicht ausgrenzen.
SPIEGEL: Herr Bubis, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.