„Das knickt den Kopf weg“
Nervös rutscht Maria Dietze*, 31, auf der Stuhlkante hin und her, eine schmächtige Frau mit glatten braunen Haaren, die zum Pferdeschwanz gebunden sind. Wie eine übergroße, wärmende Schutzhülle trägt sie einen rosa-grauen Norwegerpulli. Unablässig nesteln ihre Finger an einer Packung Tabak, ohne jedoch eine Zigarette zu drehen. _(* Name von der Redaktion geändert. )
Sie spricht stockend, ihre Stimme bebt. Sie werde "von der Gesellschaft nicht getragen", klagt sie leise. Wenn sie ihre Tochter in den Kindergarten bringe, behandelten die anderen Mütter die Fixerin Dietze "wie eine Aussätzige". In letzter Zeit sei sie allerdings immer "so breit" gewesen, daß sie dort "lang auf die Treppe schlug".
Nun ist die ehemalige Krankenschwester, nach zwölfjähriger Drogenkarriere, wieder einmal clean. In der Entzugs- und Rehaklinik im holsteinischen Agethorst bewohnt sie ein mit Kiefernholz möbliertes Doppelzimmer, an dessen Wänden Fotos von Männermodels mit markanten Kinnladen und ein buntes Südsee-Poster kleben. Ihr dritter Entzug war ein mehrwöchiges Martyrium - "die reine Hölle".
Denn diesmal wurde sie unablässig von Krämpfen geschüttelt, diesmal rückten Wände auf sie zu, löste Licht stechenden Schmerz aus, Musik empfand sie als peinigenden Gestank. Denn zuletzt nahm sie, zusätzlich zum Heroin, bis zu 15 Rohypnol-Tabletten täglich, die neue Modedroge der Junkies. Deren Entzug ist auf eigene Faust fast unmöglich: "Der Rohypnol-Affe ist knallhart", sagt Dietze, "den kann man nicht kalt auf ''ner Zelle schieben."
Vor allem bereits Süchtige reagieren auf das hochpotente Beruhigungsmittel mit schneller Abhängigkeit. Rohypnol (Wirkstoff: Flunitrazepam) ist eines der am häufigsten verschriebenen Psychopharmaka Deutschlands (Jahresumsatz 1991: 39,3 Millionen Mark) - zehnmal stärker als der Schlaffmacher Valium, doppelt so wirksam wie der Barschel-Tranquilizer Tavor. Gemeinsam mit 27 ähnlichen Präparaten gehört es zur Wirkstoffgruppe der Benzodiazepine (Fachjargon: "Benzos").
Nun schlagen Drogenmediziner Alarm. Denn die Benzos sind gefährliche Psycho-Bomben: Sie machen aus Junkies stolpernde, stammelnde Wracks und sind nach Meinung von Experten mitverantwortlich für den plötzlichen Tod vieler Fixer. "Rohypnol ist eine Waffe, die man gegen sich selbst richtet", sagt Wolfgang Weidig von der Klinik in Agethorst.
Durch die Fußgängerzonen deutscher Großstädte wankt eine neue Generation verwirrter, kaum ansprechbarer Drogensüchtiger: Tabletten-Zombies ("Rohys"), deren Hosen naß sind vom Urin und deren Hemden mit Erbrochenem beschmiert sind. Am "tapsigen Gang" erkennt auch der Stuttgarter Allgemeinmediziner Albrecht Ulmer seine Pappenheimer: "Die reden in der Sprechstunde, ohne aufzuhören, nur Gelaber ohne Inhalt."
Rohypnol (Junkie-Jargon: "Rosch") ist eines der erfolgreichsten Produkte der Grenzacher Pharma-Firma Hoffmann-La Roche. Es imitiert nicht nur die beruhigende Wirkung von Heroin, es kann auch paradoxerweise oft zu unkontrollierter Gewalttätigkeit führen, zu völligem Gedächtnisausfall - und zum Ruin der Persönlichkeit.
In der klinischen Medizin findet Rohypnol, das in Deutschland mittlerweile zu den 20 meistverkauften Medikamenten gehört, vor allem Verwendung bei schweren Schlafstörungen, Angstzuständen und zur Vorbereitung von Narkosen. Heroinsüchtige entdeckten jedoch bald, daß in stoffarmen Zeiten auch Rohypnol einen Kick beschert, vor allem wenn man es, wie neuerdings in Mode, verflüssigt und in die Venen spritzt.
Noch vor zehn Jahren nahm nur jeder hundertste Drogenabhängige zusätzlich Rohypnol. Inzwischen sind es, hochgerechnet, zwei Drittel aller 150 000 Fixer in Deutschland. "Rohypnol ist billig, was Reines, einfach zu beschaffen und macht keine Probleme mit den Bullen", sagt eine blondmähnige Schwabingerin.
72 Prozent aller Drogenpatienten, die dieses Jahr in der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf aufgenommen wurden, gaben regelmäßigen Rohypnol-Konsum an. Im Berliner Krankenhaus Am Urban waren es 66 Prozent.
Und es wird immer mehr geschluckt: In Hamburg stieg der Anteil der Konsumenten, die mehr als zehn Tabletten täglich einwerfen, in vier Jahren von 7,5 auf 25 Prozent. Die für Kranke empfohlene Tagesdosis beträgt maximal eine Tablette.
"Die Rauschgift-Szene ist pharmakologisch unheimlich gebildet", sagt der Hamburger Suchtmediziner Hans-Günter Meyer-Thompson. Er plädiert, wie viele seiner Kollegen, für ein Verbot, zumindest aber eine Unterstellung von Rohypnol unter das Betäubungsmittelgesetz. Bislang gibt es die rotbraunen Schachteln überall auf Rezept - wie Rheumasalbe oder Augentropfen.
Bei Nachschubproblemen fragen die Junkies einfach ihren Arzt und gehen dann zum Apotheker. Etwa ein Drittel des Bedarfs wird allerdings über den Schwarzmarkt gedeckt: Im Englischen Garten in München führt die einschlägig bekannte "Saftstraße" zur "Dealerwiese". Dort kostet eine Pille derzeit 2,50 bis 5 Mark. _(* Im Krankenhaus Hamburg-Ochsenzoll. )
Was Rohypnol bei Fixern so begehrt macht, ist die rasche Anflutung des Gehirns, die wie ein Heroin-Flash empfunden wird. Rohys kennen auch das euphorische Glücksgefühl des sorglosen Geborgenseins, das aus Probierern Abhängige macht. Doch der Effekt nutzt sich ab, die Dosen werden erhöht - was bleibt, ist die Sucht.
"Rohypnol, das knickt den Kopf weg", sagt Klaus Behrendt, Leiter der Entzugsstation im Krankenhaus Hamburg-Ochsenzoll. Es versetzt schlagartig in einen Tiefschlaf, jenes "Rosch-Abnicken", mit dem es Süchtige selbst im Winter auf kalten Parkbänken auszuhalten scheinen. Sein chemischer Wirkstoff Flunitrazepam kann allerdings auch zu "Unsinnshandlungen" führen, mit denen sich Behrendt in seinem Nebenjob als Gerichtsgutachter immer häufiger befassen muß.
In der Hamburger S-Bahn bedrohte ein Rohy mit einem abgebrochenen Küchenmesser eine ältere Frau und verlangte "zehn Mark". Auf ihren 20-Mark-Schein gab der Bedröhnte artig Wechselgeld heraus. Dann ließ er sich widerstandslos von beherzten Mitfahrern zur Polizei abführen. An seine Tat konnte er sich nicht erinnern, sein Gehirn war wie eine Tafel, die ein Schwamm leergewischt hat.
Albrecht Ulmer, der zugleich Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Drogen- und Suchtmedizin ist, fürchtet außer solchen bizarren Effekten der gefährlichen Pille auch in steigendem Maße tödliche Konsequenzen: "Der Anteil der Drogenopfer, an deren Tod Rohypnol beteiligt ist, liegt sehr hoch." Aktuelle Obduktionsergebnisse erhärten seinen Verdacht.
Die Medizinerin Claudia Künzel ermittelte, daß seit 1990 der Anteil von Rohypnol-Schluckern unter Frankfurts Drogentoten von 8,9 auf knapp 20 Prozent gestiegen ist. Noch eklatanter sind die Ergebnisse einer jetzt vom Dortmunder Gesundheitsamt veröffentlichten Studie: Im Blut von 73,6 Prozent der toten Fixer des Jahres 1990 wurden Benzo-Spuren nachgewiesen.
Zwei Nebenwirkungen des Medikaments können tödliche Folgen haben: Die Arznei dämpft, ebenso wie Heroin, den Atemantrieb und verdoppelt so das Fixer-Risiko zu ersticken. Zum anderen, mutmaßen Kenner wie Meyer-Thompson, könne der Rohypnol-typische Blackout dazu führen, daß ein Fixer seine kurz zuvor gesetzte Injektion vergißt und ein zweites Mal Heroin drückt - den goldenen Schuß.
"Rohypnol ist hinterlistig und teuflisch", sagt ein ehemaliger Junkie, der innerhalb eines Monats seine Tagesdosis auf 20 bis 40 Tabletten steigerte. "Es macht einen Stück für Stück kaputt." Mit 49 Rohypnol vergiftete sich in der vergangenen Woche ein Mann in Hamburg - der 126. Drogentote der Stadt. Sein Spitzname: "Rosch-Dieter".
In der Kritik von Drogenexperten stehen vor allem jene Ärzte, die aus Mitleid oder wirtschaftlichem Kalkül die Rezepte ausstellen. 49,7 Millionen Rohypnol-Tabletten wurden 1991 bundesweit verkauft.
Zwar gehen wegen der 20 vom Hersteller genannten Risiken und Nebenwirkungen (von Libidostörungen bis zur Muskelschwäche) die Verschreibungen für Nichtsüchtige zurück, die Rauschgiftszene wird indes von "Dealern in weiß" (Ulmer) zuverlässig versorgt. In manchen Szene-Apotheken gibt es die Pharma-Dröhnung auch gegen gefälschte Rezepte vom Farbkopierer.
Angesichts des Gefahrenpotentials von Rohypnol wächst auch beim Hersteller Hoffmann-La Roche die Sorge - um den Umsatz und um das Image. Der Mißbrauch bereite "Kopfweh", sagt Vorstandsmitglied Wolfgang Kapp, "wir sehen uns betroffen und wollen uns nicht aus der Verantwortung stehlen".
Die Produktwerbung ("Ein Unterschied wie Tag und Nacht") behauptet immer noch, das Medikament sei "gut verträglich". Neuerdings wird sie durch Warnschreiben an die Ärzteschaft ergänzt. "Ausdrücklich" weist Hoffmann-La Roche darauf hin, "daß Rohypnol unter keinen Umständen Drogenabhängigen" verschrieben werden darf.
Solche Rundbriefe, tadelt das Berliner Arznei-Telegramm, "dienen lediglich der juristischen Absicherung, nicht aber der Arzneimittelsicherheit", geschweige denn den Ärzten, "die dem Druck der Abhängigen ausgesetzt sind". Herausgeber Ulrich Moebius wirft Kapp sogar vor, mit der Verzögerung von Verkaufseinschränkungen "Körperverletzungen bis hin zur Todesfolge" zu begünstigen.
Auf derlei Kritik will Kapp offensiv reagieren und "nichts vom Tisch wischen". Er setzt auf "schonungsloses Aufzeigen von Problemen" - und auf kleinere Pillen-Päckchen. Hoffmann-La Roche plant, den Packungsinhalt auf maximal zehn Rohypnol zu reduzieren und auch Tabletten mit Kleinstdosen des Wirkstoffs zu produzieren.
Für den Fall, daß ein Junkie in lebensgefährliche Atemnot gerät, weiß Kapp Rat: "Wenn sofort Naloxon gespritzt wird, verlassen die sofort wieder aufrecht den Notarztwagen."