„EIN JEGLICHES HAT SEINE ZEIT“
Der junge Marineinfanterist in Paradeuniform starrte angespannt durch die langgezogene Fensterreihe ins Weiße Haus hinein. Hinter ihm, auf der grünen Rasenfläche, harrten erwartungsvoll unter einem blauen und wolkenlosen Septemberhimmel dreitausend internationale Würdenträger. Drinnen, verdeckt von den glitzernden Fensterscheiben, wartete Bill Clinton, zwei Männer standen neben ihm.
Es war der 13. September 1993. Die drei Männer traten an dem grüßenden Marineinfanteristen vorbei ins gleißende Licht der Scheinwerfer. Die Stimme des Zeremonienmeisters ertönte:
"Meine Damen und Herren, Herr Arafat, Vorsitzender des Exekutivkomitees _(y 1994, Droemersche Verlagsanstalt, ) _(München. ) der Palästinensischen Befreiungsorganisation; seine Exzellenz, Jizchak Rabin, Ministerpräsident Israels; der Präsident der Vereinigten Staaten."
Vor Hunderten von Kameras begann sich eines der wichtigsten Dramen der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu enthüllen. Jizchak Rabin, der Führer Israels und prominentester Kriegsveteran seines Landes, trat in steifer Haltung vor.
Nur wenige Meter entfernt lächelte zuversichtlich Jassir Arafat, Führer der PLO und populärer Veteran im Kampf seines Volkes für die Selbstbestimmung, als er neben dem Präsidenten der Vereinigten Staaten über den Rasen schritt.
Das Friedensversprechen, zu dessen Unterzeichnung die beiden Männer hierher nach Washington gekommen waren, war noch zerbrechlich. Doch mit ihrem "Frieden der Mutigen" (Clinton) markierten die beiden Männer einen historischen Augenblick: eine Übereinkunft zwischen zwei Völkern, deren Todfeindschaft ein halbes Jahrhundert lang zu Blutvergießen, Gewalt, Schrecken und Elend im Nahen Osten geführt hatte.
Unter den Tausenden auf dem Rasen des Weißen Hauses befand sich eine kleine Gruppe von Leuten, die besser als alle anderen hier wußten, wieviel Mut und Entschlossenheit notwendig gewesen waren, den Weg zum Frieden zu gehen. Sie, die israelischen und die palästinensischen Verhandlungsführer, hatten sich in den vorangegangenen Monaten in streng geheimen Verhandlungen in Norwegen miteinander gemessen, hatten einander gehaßt und geliebt, zusammen gelacht und geweint.
Von ihnen saß jetzt keiner in den vorderen Rängen. Auch die drei Norweger Jan Egeland, Mona Juul und Terje Röed Larsen nicht, die, wie die Eingeweihten wußten, die treibende Kraft hinter der Hilfeleistung ihres Landes für das Abkommen waren. Sie saßen, ohne groß Beachtung zu finden, am äußersten Ende des diplomatischen Corps, hinter dem Botschafter von Trinidad und Tobago. Dabei waren es ihr Engagement und ihre Überzeugung, die den "Oslo-Channel" zustande gebracht hatten, jenen der Öffentlichkeit verborgen gebliebenen Gesprächskanal, der zum Erfolg führte.
Jetzt, an diesem Morgen auf dem Rasen des Weißen Hauses, hörte Röed Larsen, wie Rabin den Prediger Salomo zitierte:
"Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: Geborenwerden hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit; Weinen hat seine Zeit, Lachen hat seine Zeit; Lieben hat seine Zeit, Hassen hat seine Zeit; Krieg hat seine Zeit, Frieden hat seine Zeit - und nun ist die Zeit des Friedens gekommen."
Israelis und Palästinenser hatten dies seit langem gewußt, waren aber nicht in der Lage gewesen, diesen Frieden ohne fremde Hilfe zu erreichen.
Brennende Reifen, verrostete Autos und Felsblöcke versperrten die verwahrlosten Straßen im Gazastreifen. Auf den Wänden verliefen blutrot Graffiti, die Israel den Tod verhießen. Im Juni 1990, als die Bilder des Schreckens in aller Welt über die TV-Schirme flimmerten, war der norwegische Sozialwissenschaftler Terje Röed Larsen auf den Straßen der palästinensischen Flüchtlingslager unterwegs. Bei ihm war seine Frau, Mona Juul, damals 32 Jahre alt, Assistentin des norwegischen Außenministers und Spezialistin für Nahost-Angelegenheiten.
Röed Larsen, Leiter des Instituts für angewandte Sozialforschung (Fafo) in Oslo, bereitete eine ausgedehnte Sozialstudie über die Lebensbedingungen im Gazastreifen vor - eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt, in der fast eine Million Menschen zusammengepfercht auf einer Länge von gut 40 und einer Breite bis zu 12 Kilometern leben.
Der Gazastreifen war zu einem Synonym für Verwahrlosung und Gewalt geworden. Die extreme Übervölkerung hatte dem Kanalisierungssystem den Garaus gemacht, Müllberge säumen die Straßen, Abwässer fließen die Gassen entlang, in denen Scharen von Kindern spielen. Hier hat die militante islamische Bewegung Hamas ihren Ursprung, und im Dezember 1987 begann hier die Intifada - der Palästinenser-Aufstand gegen die israelischen Besetzer.
An einem Sommermorgen 1990 wurden Röed Larsen, Mona Juul und ihre Begleiter Zeugen eines Zwischenfalls. Eine Patrouille aus jungen israelischen Soldaten und eine Schar palästinensischer Jugendlicher standen einander gegenüber. Die Israelis trugen Maschinenpistolen, die Palästinenser waren mit Steinen bewaffnet. Röed Larsen und seiner Frau blieb nicht die Zeit, wegzulaufen. Was Röed Larsen sah, sollte ihn noch monatelang verfolgen - und inspirierte ihn dazu, eine scheinbar unmögliche Aufgabe in Angriff zu nehmen.
In den Gesichtern der israelischen Teenager, die gegen ihren Willen in eine Besatzungsarmee einberufen worden waren, erkannte er Furcht und Sehnsucht - die Sehnsucht, irgendwo anders zu sein, ganz gleich wo, nur nicht in Gaza. Und bei den palästinensischen Jugendlichen, die in ihrer äußeren Erscheinung von ihrem Feind kaum zu unterscheiden waren, erblickte er Trotz und Verzweiflung - und in ihren Augen dieselbe Angst.
Dies bestärkte Röed Larsen in seinem Vorhaben, Gleichgesinnte beider Seiten zusammenzubringen und so auf eine gemeinsame Zukunft hinzuarbeiten. Und er war wie seine Frau Mona Juul leidenschaftlich davon überzeugt, daß die norwegische Regierung dabei helfen könnte und geradezu verpflichtet sei, alles menschenmögliche zu unternehmen, um bessere Beziehungen zwischen Israel und den Palästinensern herzustellen.
Norwegen konnte auf eine einmalige Position zwischen den gegnerischen Seiten verweisen: Es war unparteiisch und genoß das Vertrauen beider Lager. Unter der Nazi-Besatzung war die kleine jüdische Gemeinde Norwegens fast ausgelöscht worden. Der Schrecken und die Schuldgefühle der Norweger spielten eine erhebliche Rolle bei der Entscheidung dieses Landes, die Gründung des Staates Israel nach dem Zweiten Weltkrieg zu unterstützen.
Die verschiedenen sozialdemokratischen Regierungen in Norwegen schmiedeten eine feste Verbindung mit der israelischen Arbeitspartei. Die mächtigen Gewerkschaftsorganisationen beider Länder standen einander nahe, und zwei Drittel der norwegischen Parlamentsabgeordneten gehörten der einflußreichen Lobby "Israel für den Frieden" an.
Andererseits unterhielt Norwegen auch ausgezeichnete Beziehungen zu den Palästinensern. Das war nicht zuletzt das Verdienst von Thorvald Stoltenberg, Norwegens erfahrenem Außenminister. Er und sein Stellvertreter Jan Egeland sorgten dafür, daß Norwegen medizinischen und humanitären Projekten der Palästinenser in den besetzten Gebieten großzügige Hilfe gewährte. Das Außenministerium unterstützte finanziell Röed Larsens Sozialstudie in den palästinensischen Gebieten. Egeland war ein Kommilitone von Mona Juul an der Universität gewesen, er und Röed Larsen waren enge Freunde geworden.
Norwegen, ein kleines Land mit gerade mal knapp über vier Millionen Einwohnern, ist geradezu einmalig, was die engen persönlichen Beziehungen in seinen politischen und akademischen Kreisen betrifft. Dieses dichte Beziehungsgeflecht von Politikern und Wissenschaftlern - unter Einschluß ihrer Ehefrauen - trug wesentlich dazu bei, die kriegführenden Parteien zusammenzubringen.
Stoltenberg hatte die vielversprechende junge Diplomatin Mona Juul als seine Assistentin ausgewählt. Sie war mit Egeland befreundet und mit Röed Larsen verheiratet. Auch dieser besaß viele wichtige Kontakte zur Arbeiterpartei und zu den Gewerkschaften. Eine seiner Feldforscherinnen bei der Gaza-Studie war Camilla Stoltenberg, die Tochter des Außenministers. Koautorin von Röed Larsens Untersuchung war Marianne Heiberg, Soziologin und Ehefrau von Johan Jörgen Holst, dem kürzlich verstorbenen Außenminister. Holst, damals Verteidigungsminister, war wiederum verschwägert mit Thorvald Stoltenberg, seinem Vorgänger im Außenministerium.
Diese enge, informelle Verbundenheit der Eliten in Norwegen stand in direktem Kontrast zu der weitläufigen, hierarchisch gegliederten und unpersönlichen Struktur der US-Regierung, die bemüht war, eine Vermittlerrolle zwischen Israel und seinen Gegnern zu spielen. Aber die multilateralen, nach dem Golfkrieg eingefädelten offiziellen Gespräche in Madrid und später in Washington kamen nicht recht voran.
Im Frühjahr 1992 war Israel vom Wahlfieber ergriffen. Jizchak Schamirs regierender Likud-Block war unter Beschuß durch die Arbeitspartei geraten, deren Führer Jizchak Rabin eine schnelle Lösung der ins Stocken geratenen offiziellen Friedensgespräche in Aussicht gestellt hatte. Bei seinen Wahlauftritten erklärte Rabin in aller Öffentlichkeit, daß seine Partei ein besonders heißes Eisen anpacken werde: die Ausbreitung der jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten. Die Amerikaner hatten wegen der Siedlungspolitik Kreditgarantien blockiert, was Israels Wirtschaft nicht bekam.
Der Fall der Berliner Mauer und der Niedergang der Sowjetunion sowie der Golfkrieg hatten die ganze Region erschüttert. Die traditionelle Nähe der PLO zum kommunistischen Lager ließ ihren Chef Jassir Arafat jetzt etwas alt aussehen. Das Frustrierende dabei war jedoch, daß es nicht gelang, die Chancen, die eine veränderte Weltlage bot, für die Verhandlungen in Madrid und Washington zu nutzen.
Arafats unkluge Entscheidung, im Golfkrieg Saddam Hussein zu unterstützen, hatte für sein Volk verheerende Folgen. Erzürnte arabische Führer in der Golfregion kürzten ihre großzügige finanzielle Unterstützung und begannen, palästinensische Arbeiter auszuweisen.
Die Schwäche der PLO am Ende des Golfkriegs ermöglichte es den Amerikanern, Druck auszuüben und auf Verhandlungen zur Lösung des Nahostkonflikts zu drängen. In der palästinensischen Enklave in Tunis beobachteten die Mitglieder der PLO-Führung genau das sich ändernde Klima in Israel und in der ganzen Welt. Die Signale, die davon ausgingen, überzeugten 1992 einen der führenden gemäßigten PLO-Funktionäre, daß sich hier eine Gelegenheit bot, die man zu ergreifen hatte - Mahmud Abbas, den dritten Mann in der PLO-Hierarchie, genannt Abu Masin.
Der silberhaarige Intellektuelle von Ende Fünfzig, ein Kettenraucher, der stilvoll eine Zigarettenspitze aus Gold und Ebenholz benutzt, genoß den Ruf, ein Mann von Vernunft zu sein, energisch und offenherzig. Er sollte fortan eine Schlüsselrolle bei der riskanten Annäherung der Todfeinde im geheimen "Oslo-Kanal" spielen. Abu Masin, seit 1977 der offizielle Israel-Beobachter der PLO, bemerkte mit großem Interesse die Zeichen einer neuen Bereitschaft, über die Autonomie der Palästinenser zu verhandeln.
Das gleiche Gespür für die sich andeutende Wende in der israelischen Haltung hatte Ahmed Kurajji alias Abu Ala. Er war das Finanzgehirn der PLO, der Direktor von Samed, dem Finanz- und Industrie-Konglomerat, das die PLO bei Kasse hielt.
Mit seinen Erfahrungen im internationalen Finanzgeschäft und seiner Praxis bei der Leitung großer Fabrikanlagen stellte Abu Ala eine seltene Mischung dar: Bankier und Industrieller und geschulter Vermittler. Er war gebildet, ein warmherziger und charmanter Gesellschafter, der aber auch hart und rücksichtslos sein konnte.
Schon Ende Februar 1992 war Abu Ala einmal in Oslo zu Besuch gewesen. Dort wollte er Jan Egeland weitere Finanzmittel für die PLO entlocken. Egeland wie auch seine Mitarbeiterin Mona Juul waren von Abu Ala beeindruckt.
Mona Juul rief damals gleich ihren Mann im Fafo-Institut an:
"Terje, du mußt einfach diesen Mann kennenlernen. Ich weiß genau, daß ihr eine Menge Gemeinsamkeiten habt." Mona Juul sollte recht behalten. Als ihr Mann sich mit Abu Ala traf, klickte es sofort zwischen den beiden.
Als im Mai 1992 die Feldarbeit der norwegischen Studie im Gazastreifen begann, reiste Röed Larsen zunächst einmal nach Jerusalem.
Ein Bekannter riet ihm, er müsse unbedingt einen verwandten Geist kennenlernen: Jossi Beilin, einen umstrittenen jungen Parlamentsabgeordneten und aufsteigenden Stern in den Reihen der Arbeitspartei.
Röed Larsen nahm in Jerusalem ein Taxi nach Tel Aviv. Dort sollte er im Restaurant Tandoori am Dizengoff-Platz Beilin treffen. Beilin, der mit der Wahlkampagne beschäftigt war, hätte das Essen beinahe abgesagt, entschloß sich aber in letzter Minute doch noch zu kommen.
Der norwegische Sozialwissenschaftler fand zu dem Israeli sofort einen direkten Draht. Beide waren der Meinung, daß das historische Pendel im Nahen Osten in Richtung Frieden ausschlug.
"Aber wir brauchen ein zweigleisiges System", sagte Röed Larsen. "Washington und das zweite Gleis - Geheimverhandlungen."
Beilin stimmte ihm zu und ging noch einen Schritt weiter. Er sprach von der Unvermeidbarkeit einer Zwei-Staaten-Lösung oder einer Art lockerer Konföderation zwischen Israel, Jordanien und den Palästinensern. Jossi Beilin hatte sogar eine Vorlage im Parlament initiiert, das Gesetz, welches Kontakte zwischen seinen Landsleuten und der PLO verbot, aufzuheben.
Beilin ist wie Röed Larsen Wissenschaftler. Wie der Norweger hatte auch er eine Forschungsgruppe gegründet, eine eigene kleine Denkfabrik, die Wege finden wollte, die Friedensbemühungen durch direkte Beziehungen zu den Palästinensern voranzutreiben.
Beilins Economic Cooperation Foundation bestand, von ihm abgesehen, zu dieser Zeit praktisch nur noch aus zwei Männern: Jair Hirschfeld und Ron Pundak, linken Intellektuellen, die die Überzeugungen ihres Mentors teilten.
Röed Larsen schlug Beilin vor, daß Norwegen einen Geheimkontakt zu den Palästinensern vermitteln könnte. Er plädierte für "ein zweites Standbein", wie er es nannte, ein nützliches Pendant zu den Gesprächen in Washington.
Beilin reagierte enthusiastisch. Er sah sofort die Chance eines solchen Angebots von einem Wissenschaftler, der so enge Beziehungen zum norwegischen Außenministerium pflegte.
Röed Larsen wollte sogleich Brücken zu der örtlichen palästinensischen Prominenz in den besetzten Gebieten schlagen - zu führenden Köpfen wie Feisal el-Husseini und Hanan Aschrawi. Direkte Kontakte mit der PLO in Tunis zu knüpfen schien ihm verfrüht. Unmittelbar nach dem Essen mit Beilin arrangierte Röed Larsen ein Treffen in seinem Hotel, dem American Colony, einer schönen, ruhigen Villa in Ost-Jerusalem, die ehemals Wohnsitz der Familie Husseini gewesen war.
Diese Oase mit blauen und türkisen Kacheln und plätschernden Springbrunnen, bekannt für ihr diskretes und gastfreundliches Personal, ist der Lieblingstreffpunkt der Journalisten in der Stadt. Röed Larsen war zwar noch ein Neuling im Spiel der Geheimtreffs, aber schon raffiniert genug, die Ankunftszeiten der überaus prominenten Figuren Beilin und Feisal el-Husseini um eine halbe Stunde zu staffeln. Niemand sollte mitbekommen, daß die beiden dasselbe Zimmer mit der Nummer 16 ansteuerten.
Dort besprachen die drei Männer zwei Punkte: die Möglichkeit, ein "zweites Gleis" einzurichten, und die Art und Weise, wie die Palästinenser der Arbeitspartei dabei behilflich sein könnten, an die Macht zu gelangen; sie sollten deren Kandidaten bei den bevorstehenden Wahlen unterstützen.
Wenig später, am 23. Juni 1992, konnte die Arbeitspartei einen knappen, aber bedeutenden Sieg bei den Wahlen in Israel verzeichnen. Jizchak Rabin, der neue Ministerpräsident, ernannte seinen alten Rivalen Schimon Peres zum Außenminister, und Peres ernannte Jossi Beilin zu seinem Stellvertreter.
Im September, als die neue israelische Regierung fest im Sattel saß, stattete Norwegens stellvertretender Außenminister Jan Egeland dem Land einen offiziellen Besuch ab. Er wurde von Mona Juul begleitet, der Nahostexpertin des Außenministeriums. Röed Larsen, der den Kontakt zu Jossi Beilin geknüpft hatte, befand sich ebenfalls in Israel. Sie alle hatten Anweisung von Außenminister Thorvald Stoltenberg, herauszufinden, ob Norwegen hinter den Kulissen eine Vermittlerrolle spielen könnte.
Am 12. September gab Jossi Beilin in einem Tel Aviver Hotel ein offizielles Essen für Egeland, Mona Juul und die anderen Norweger aus der Botschaft. Während des Essens wurde das Palästina-Problem kaum erwähnt. Die meisten Anwesenden am Tisch wußten allerdings nicht, daß zu dieser Frage schon ein Geheimtreffen, die erste Zusammenkunft dieser Art auf offizieller Ebene, für einen späteren Zeitpunkt an diesem Abend geplant war.
Nach dem Essen entboten die Gäste allesamt ihre herzlichen Abschiedsgrüße. Beilin stieg in sein Auto, fuhr ein paarmal um den Block, betrat wieder das Gebäude und eilte in einen Aufzug, um ein Zusammentreffen mit dem norwegischen Botschafter zu vermeiden, der noch immer in der Hotelhalle stand. Er gelangte in Egelands Zimmer, wo auch Röed Larsen und Mona Juul schon warteten.
Der stellvertretende Außenminister des kleinen Norwegen war etwas peinlich berührt. Seine Junior Suite, die einzige, die noch frei gewesen war, war weder groß noch luxuriös ausgestattet. Nun befürchtete er, daß die Israelis denken könnten, Norwegen sei ein doch zu unbedeutender diplomatischer Akteur. Röed Larsen versuchte sofort, die Situation zu entspannen, indem er beflissen Drinks anbot und mit Jossi Beilin scherzte.
Egeland kam geradewegs zur Sache. Die norwegische Regierung könne jegliche Art von Kontakt mit den Palästinensern auf jeder erdenklichen Ebene und unter jeder vorstellbaren Tarnung anbieten. Er bat Beilin, selbst zu einem direkten Treffen mit der anderen Seite nach Norwegen zu kommen.
Auf seine nüchterne, geschäftsmäßige Art machte Beilin klar, daß ein Treffen mit der PLO nach wie vor einen Verstoß gegen das israelische Gesetz darstelle. Auf so etwas könne sich ein Mitglied des neuen Kabinetts unmöglich einlassen. Er sei jedoch bereit, Husseini zu treffen. Egeland sagte zu, es so einzurichten, daß sich Beilin und Husseini zur gleichen Zeit mit unterschiedlichem Auftrag in Oslo aufhalten würden und sich so insgeheim treffen könnten.
In den folgenden Monaten konnte Röed Larsen das Beziehungsgeflecht der Akteure hinter den Kulissen immer enger zurren.
Am 3. und 4. Dezember 1992 fanden in London multilaterale Gespräche statt, die Teil des Madrider Friedensprozesses waren. Es ging um wirtschaftliche Fragen, der Koordinator der palästinensischen Delegation war Abu Ala.
Drei andere Schlüsselfiguren hielten sich ebenfalls in der britischen Hauptstadt auf. Jossi Beilin war zu den multilateralen Gesprächen gekommen und hatte Jair Hirschfeld, den Wissenschaftler aus seinem Tel Aviver Institut, gebeten, auch anwesend zu sein. Er sollte Gelegenheit bekommen, arabische Delegierte bei den Gesprächen zu treffen. Terje Röed Larsen war als Beobachter in London.
Sprecherin der palästinensischen Delegation war Hanan Aschrawi, eine elegante und lebhafte Wissenschaftlerin von der Westbank. Sie versprach sich viel von einem Treffen zwischen Hirschfeld und Abu Ala und rief beide an, um sie davon zu überzeugen.
Hirschfeld widersetzte sich zunächst, es war gegen das israelische Gesetz, und Beilin hatte sich klar zu diesem Thema ausgedrückt. Schließlich stimmte er zu, und Aschrawi informierte Abu Ala, daß der Israeli mit ihm sprechen wolle und daß er sich möglicherweise mit seinen Verbindungen zur Regierung in Jerusalem als wertvoller Kontaktmann erweisen könnte.
Nach einigem Zögern rief Abu Ala noch am gleichen Abend Hirschfeld an. Hirschfeld, der große Zweifel hegte, ob es denn klug wäre, sich mit einem Vertreter der PLO zu treffen, wagte dennoch den Sprung ins kalte Wasser. Er teilte der PLO mit, daß er sich mit einem Vorschlag für einen festen Zeit- und Treffpunkt wieder an sie wenden würde.
Jetzt stand er vor dem Problem, wie er ein geheimes Treffen arrangieren sollte. Selbstverständlich dachte er zuerst an Röed Larsen, den norwegischen Wissenschaftler-Kollegen, der so begierig darauf schien, zu helfen, und den Beilin ihm vorgestellt hatte.
Am nächsten Morgen saß ein höchst aufgeregter und besorgter Jair Hirschfeld, der eine schlaflose Nacht hinter sich hatte, stundenlang mit Röed Larsen in einer Fensternische des Cafes im ersten Stock des Hotels Cavendish nahe des Piccadilly Circus zusammen. Die elegante blaßgrüne Fassade des Fortnum & Mason''s-Kaufhauses spiegelte sich in dem großen Hotelfenster wider.
Röed Larsen schlug vor, daß er selbst bei dem Treffen besser nicht anwesend sein sollte. Bei einem negativen Ausgang könnte Hirschfeld die Kontaktaufnahme leichter abstreiten, wenn es keine Zeugen gab.
Kurz nach zehn Uhr traf Abu Ala ein.
"Es gibt schlicht und einfach keinen Fortschritt, meinen Sie nicht auch? Was können wir machen? Beide Seiten müssen sich etwas einfallen lassen", sagte Hirschfeld. Die beiden Männer waren sich einig, daß die von Washington vermittelten Gespräche aussichtslos erschienen. Hirschfeld fand Abu Ala freimütig, dynamisch und voll persönlichem Charme. Er schien entschlossen zu sein, ein Einverständnis zu erzielen.
"Können wir uns noch einmal zu Gesprächen treffen? Vielleicht in Oslo?" wagte Hirschfeld sich vor.
"Warum in Oslo?" Abu Ala war etwas verblüfft. "Und ich muß Sie auch fragen, wer Sie denn eigentlich sind und in wessen Auftrag Sie sprechen."
"Ich bin nicht offiziell dabei", sagte Hirschfeld mit fester Stimme. "Ich bin von niemandem beauftragt und spreche hier nur inoffiziell mit Ihnen. Es war ganz allein meine Idee."
"Was haben denn weitere Gespräche in Oslo oder sonstwo für einen Zweck, wenn Sie keinen offiziellen Status besitzen?" fragte Abu Ala.
Das Gespräch wandte sich allgemeinen Themen zu, aber Hirschfeld ließ absichtlich einfließen, daß er am nächsten Tag mit Jossi Beilin, dem stellvertretenden Außenminister und Vertrauten von Peres, frühstücken wolle. Das erweckte Abu Alas Interesse. Die beiden Männer kamen überein, sich an diesem Abend noch einmal zu treffen. Hirschfeld suchte Jossi Beilin auf, um das Risiko zu beraten. Dieser stimmte zu, er war zuversichtlich, daß die Gesetzesvorlage, die solche Kontakte legalisierte, innerhalb weniger Wochen vom Parlament in Jerusalem verabschiedet werden würde.
Hirschfeld und Abu Ala trafen sich um acht Uhr abends im Hotel Ritz. Unter der goldenen und rosa Stuckdecke des Palmenhofes war die Cocktailstunde in vollem Gang. Paare bewegten sich auf der Tanzfläche, und Kellner in dunkelgrünen Schwalbenschwänzen nahmen an den vollbesetzten Tischen die Bestellungen entgegen.
Jair Hirschfeld, der sich an diesem prunkvollen Ort ziemlich fehl am Platze fühlte, befürchtete, man könnte zu große Aufmerksamkeit erregen. Er war dafür, daß man ein kleines italienisches Restaurant gleich um die Ecke aufsuchen sollte. Aber Abu Ala, ein kosmopolitischer, weitgereister Mann mit einem Faible für luxuriöse Hotels, fühlte sich ganz zu Hause und bestand darauf, zu bleiben.
Das Gespräch weckte bei Hirschfeld Hoffnungen. Abu Ala, der von der plötzlichen Bitte eines Israelis um ein Treffen in London überrascht worden war, hatte zwar keine Gelegenheit gehabt, aus Tunis Anweisungen einzuholen. Aber er versprach, über einen geheimen Gesprächskanal in Oslo nachzudenken.
Zwei Wochen später reiste Röed Larsen nach Tunis. Dort kam Abu Ala direkt zur Sache. "Es ist doch ganz klar, daß es unbedingt nötig sein wird, falls Kontakte entstehen, diese geheimzuhalten. Kann Ihr Forschungsinstitut Fafo als Fassade dienen?"
Anschließend am Abend fand das erste Treffen zwischen Röed Larsen und dem Vorsitzenden der PLO statt. Es war eine etwas verwirrende Begegnung, denn Arafat hatte zwei Wochen zuvor einen leichten Schlaganfall erlitten und war noch nicht wieder völlig genesen.
Auch Abu Ala befand sich im Raum; er bot Röed Larsen einen der tiefen Lehnsessel in einer Ecke von Arafats geräumigem Büro an. Arafat saß etwas höher als Röed Larsen auf einem Stuhl; er machte einen steifen, zerstreuten Eindruck und starrte ins Leere.
Röed Larsen war bemüht, sich ihm vorzustellen und dabei Arafats in palästinensischen Kreisen bekannteren Namen zu benutzen: "Abu Ammar, ich bin ein enger Freund Ihres Bruders Fathi in Kairo." Der Vorsitzende starrte weiterhin an ihm vorbei. Nach einer Weile Schweigens versuchte er es noch einmal - wieder keine Reaktion. Abu Ala gab ihm ein Zeichen, es weiter zu probieren.
Auch beim drittenmal hatte er kein Glück. Dann aber gab sich der Vorsitzende mit einemmal einen Ruck, drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch, und ein ängstlich wirkender Mann erschien in der Tür, grüßte und schlug die Hacken zusammen. Arafat brüllte ihn auf arabisch an, und der Mann erschrak zusehends. Dann verließ er fast im Laufschritt den Raum. Abu Ala sah diskret zu Boden.
Röed Larsen fand seine Stimme wieder: "Abu Ammar, was hat dieser Mann denn getan, um dermaßen Ihren Zorn zu erregen?"
"Herr Larsen", kam die Antwort, "ich bin Demokrat. Ich lasse immer jeden sprechen, egal, was er sagen will. Aber wenn es um die Durchsetzung gewisser Dinge geht, werde ich zum Diktator. Dieser Mann hat ein großes Unrecht begangen. Er wird bestraft werden."
Für Röed Larsen war dies eine heilsame Lektion über Arafats Regierungsstil, ihm wurde bewußt, mit welcher Vorsicht der PLO-Chef von den Männern seiner nächsten Umgebung behandelt werden mußte.
Danach nahm der Abend einen besseren Verlauf. Arafat erfreute seinen Zuhörer aus Norwegen mit Geschichten aus seiner früheren politischen Laufbahn, mit Lobreden über Tschou-En-lai, den chinesischen Kommunistenführer aus Maos Tagen, und mit seinen Ansichten über Fidel Castros Probleme.
Dann sprach Arafat von seiner Enttäuschung darüber, daß die sozialdemokratische schwedische Regierung, die mit der PLO sympathisierte, unlängst eine Wahlniederlage erlitten hatte. Bedeutungsschwer fügte er hinzu: "Herr Röed Larsen, jetzt muß Norwegen die Rolle Schwedens übernehmen. Ich hoffe, daß Sie Ihrer Regierung diese Botschaft übermitteln werden."
Neben Arafat und Abu Ala befanden sich noch andere PLO-Funktionäre im Raum. Röed Larsen spürte, daß Arafat nicht deutlicher werden wollte, hatte aber das Gefühl, daß ihn der Vorsitzende darum bat, Norwegen zu einer Vermittlerrolle zu bewegen.
Zurück in Norwegen, versuchte Röed Larsen, wie auch Mona Juul und Egeland vom Außenministerium, telefonisch Beilin in Jerusalem dazu zu bewegen, die Idee geheimer Treffen zwischen Israelis und Palästinensern weiterzuverfolgen.
Beilin versicherte Jan Egeland, daß Hirschfeld in seinem Auftrag handelte. Aber Beilin bestand auch darauf, daß er das Recht haben müsse, alles - wie er sagte - "gänzlich abzustreiten". Wenn die Geheimverhandlungen in die Medien durchsickern sollten, müsse er in der Lage sein zu dementieren, irgend etwas davon gewußt zu haben.
Bis die Norweger schließlich Beilin dazu überredet hatten, das erste Treffen in Oslo abzusegnen, war es 1993 geworden.
Die Oslo-Connection hatte erstmals, noch zögernd, grünes Licht erhalten. Jetzt mußte Röed Larsen einen Decknamen finden, die Treffpunkte und die Logistik organisieren - und die Gelder auftreiben, um alles zu finanzieren. *HINWEIS: Im nächsten Heft Das große Verschleierungsspiel - Ein Landhaus bei Oslo dient als Versteck - Viel Whisky lockert die Atmosphäre zwischen den Todfeinden - "Tun Sie doch etwas, schnell"
[Grafiktext]
_111_ Israel u. besetzte Gebiete: Künftige Autonomiegebiete d.
_____ Palästinenser
[GrafiktextEnde]