Japan Revolution von oben
Michio Watanabe, 69, bis vergangenen April als Vizepremier und Außenminister einer der mächtigsten Männer in Tokio, hatte eine furchtbare Vision: Die angeblich unvergleichliche ostasiatische Archipel-Nation könne so werden "wie Italien".
Dann würde "die Regierung ständig wechseln; die Wirtschaft in völliger Unordnung sein, die Zahl der Diebe und Bettler steigen, Überfälle und Vergewaltigungen werden zunehmen".
Um dieses Horrorszenario zu verhindern, so warb der konservative Watanabe um Japans Wähler, müsse wie in den vergangenen 38 Jahren auch künftig die Liberaldemokratische Partei (LDP) an der Regierung für Ruhe, Ordnung und den eigenen Wohlstand sorgen.
Die Wähler aber ließen sich durch rechte Untergangspropheten nicht schrecken. Erstmals seit ihrer Gründung 1955 erlitt die Clique der liberaldemokratischen Dauerherrscher eine solche Abfuhr, daß sie auf Dauer um ihre Pfründe bangen muß.
Am vorigen Donnerstag trat Ministerpräsident Kiichi Miyazawa als LDP-Vorsitzender zurück. Sein Nachfolger wird in geheimer Wahl und nicht hinter verschlossenen Türen bestimmt, so erzwangen es junge LDP-Abgeordnete.
Hat damit endlich der Pluralismus im Land der aufgehenden Sonne triumphiert? Ist das Ende der Demokratie genannten Einparteienherrschaft in Sicht und damit die Auflösung der engen Symbiose von Wirtschaft, Politik und Bürokratie, die den westlichen Konkurrenten USA und Europa so mißfällt?
Zum erstenmal könnte es eine Regierung ohne die LDP geben. Sieger der Unterhauswahl wurden kleine Parteien, unbekannte politische Größen noch, die von der LDP abgesplittert sind. Sie haben nur zwei Gemeinsamkeiten: Sie führen das Etikett "neu" ("shin") im Parteinamen, und sie sind sich einig im Willen, die LDP, der die meisten ihrer Abgeordneten bis vor kurzem selbst noch angehörten, von der Macht auszuschließen.
"Nie zuvor in der japanischen Parlamentsgeschichte seit 1890", meint der Soziologe Hideaki Maeda von der Komazawa-Universität, "hat eine Wahl die Parteienlandschaft so nachhaltig verändert."
Während die LDP die absolute Mehrheit erstmals deutlich verfehlte, eroberten von den jetzt 511 Unterhaussitzen die Newcomer auf Anhieb mehr als ein Fünftel: *___Die "Erneuerungspartei" (Shinseito) gewann 55 Mandate. ____Ihr Vorsitzender, der frühere Finanzminister Tsutomu ____Hata, 57, macht sich Hoffnung, nächsten Monat im ____Parlament zum Chef einer großen ____Anti-LDP-Koalitionsregierung gewählt zu werden. *___Die "Neue Partei Japans" (Nihon Shinto) zieht mit 36 ____Abgeordneten, lauter Neulingen, ins Unterhaus. Ihr ____Gründer und Chef Morihiro Hosokawa, 55, ein Querkopf, ____stammt aus uraltem Samurai-Adel. *___Die "Neue Partei Pionier" (Shinto Sakigake), von zehn ____LDP-Renegaten gegründet, erhielt 13 Sitze. Ihr Boß _(* Mit Kandidatin. ) ist der langjährige Abgeordnete Masayoshi Takemura.
"Wir erleiden die Geburtswehen einer neuen Epoche", kommentierte der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Sadao Yamahana, die Erschütterung, die gerade seiner traditionellen Oppositionspartei die schlimmste Niederlage ihrer Geschichte bescherte: Sie verlor 66 von ursprünglich 136 Mandaten.
Ob allein der Zwang zu einer Koalitionsregierung genügt, um das verkrustete System aufzubrechen, bleibt indes fraglich. "Kurzfristig wird jede neue Regierung instabil sein und die japanische Politik in Aufruhr bleiben", prophezeit Susumu Takahashi vom Japan Research Institute, "aber langfristig werden die nichtkommunistischen Parteien sich zu zwei großen politischen Blöcken zusammenschließen." Dies wäre die Voraussetzung für zukünftige demokratische Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition.
Der Wandel ging nicht so sehr vom Volk als von den traditionellen Führungsschichten selbst aus, es war eine Revolution von oben. Der Wirtschaft, bislang Hauptnutznießer der LDP-Alleinherrschaft, schien der plötzliche Absturz ihrer Führungsmacht nicht ungelegen zu kommen. "Politik ohne Alternative", meint Shoji Shinagawa, Geschäftsführer des Japanischen Arbeitgeberverbandes, "ist das Schlimmste für unser Land. Das haben wir seit 1955 beobachten müssen."
Die Manager hatten offenbar begriffen, daß die unangefochtene Dominanz einer Partei zu immer maßloseren Forderungen der LDP führte - und damit zwangsläufig in eine endlose Kette von Korruption und Skandalen.
Alle großen Wirtschaftsverbände hatten seit Jahrzehnten ausschließlich die LDP mit Finanzmitteln ausgestattet. Keidanren, der Dachverband der Wirtschaftsorganisationen, teilte den einzelnen Branchen Zahlungsquoten zu, sammelte die Spenden ein und gab sie an die Politiker weiter.
Dieser geschlossene Kreislauf ist durchbrochen, nun gibt es zum erstenmal eine konservative Alternative.
"Unter den gegebenen Umständen", sagt Rokuro Ishikawa, Präsident der Industrie- und Handelskammer, "können wir unsere Finanzmittel nicht mehr nur auf die LDP konzentrieren." Y