SPIEGEL-Gespräch „Putin schwebt auf Wolke sieben“
Seipel, 65, traf Wladimir Putin erstmals im Januar 2010. Es folgten zwei Dutzend ausführliche Interviews, Putin nahm den Dokumentarfilmer mit auf Reisen zum Papst, nach China, Südafrika und in die russische Provinz. Seipels Buch "Putin – Innenansichten der Macht" erscheint im Oktober(*).
SPIEGEL: Herr Seipel, Wladimir Putin hat auf der Vollversammlung der Uno den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad als tapferen Antiterrorkämpfer gerühmt. Was verbindet ihn eigentlich mit Assad?
Seipel: Das ist kein Liebesverhältnis. Der syrische Präsident ist für Putin eine wichtige und nützliche Figur. Russland wird ihn stützen, bis eine Lösung gefunden worden ist. Schon im November 2012 hat Putin mir gegenüber den klaren Satz gesagt: "An Assad persönlich hänge ich nicht."
SPIEGEL: Das überrascht angesichts der Militärhilfe Russlands für den syrischen Diktator. Was will Putin erreichen?
Seipel: Für Putin sind Assad und dessen Armee ein stabilisierender Faktor in einem zerfallenden Land. Assad hält noch immer bevölkerungsreiche Städte im Westen und an der Küste. Der russische Militärstützpunkt in Tartus ist dabei nicht unwichtig, Moskau unterhält seit Jahrzehnten enge Beziehungen zum Assad-Regime, aber Putin hat kein persönliches Interesse an Assad. Entscheidend für ihn ist, dass sich Irak und Libyen nicht wiederholen dürfen, die inzwischen vollkommen instabil sind.
SPIEGEL: Wie kann er da auf Assad setzen, der eine ganz wesentliche Verantwortung für den Bürgerkrieg trägt?
Seipel: Ich bin nicht Putins Pressesprecher. Aber Putin hat schon 2012 vorgeschlagen, eine Übergangsregierung zu bilden, aus Opposition und der Regierung Assads. Assad sollte dann nach einer bestimmten Zeit ausscheiden. Die USA und Saudi-Arabien bestanden damals aber auf dem sofortigen Abtritt des Diktators. Heute haben wir 200 000 Tote mehr, Millionen Syrer sind auf der Flucht, Zehntausende in Deutschland. Und nun gibt es wieder ähnliche Verhandlungen. Putin ist ein Stabilitätsfan, das ist ein Schlüssel zum Verständnis seiner Person. Wenn Sie auf seinen Lebensweg zurückschauen, werden Sie feststellen, dass er nichts mehr hasst als Chaos.
SPIEGEL: Geht es Putin nicht eher darum, den Syrienkrieg zu nutzen, um nach dem Zerwürfnis mit dem Westen über die Ukraine wieder mit Amerikanern und Europäern ins Gespräch zu kommen?
Seipel: Putin ist ein Machtpolitiker, so wie Barack Obama ein Machtpolitiker ist oder François Hollande gelegentlich versucht, einer zu sein.
SPIEGEL: Und Putins Strategie geht auf?
Seipel: Ja, Russland hat mit seiner Warnung vor einem westlichen Eingreifen im Nahen Osten recht behalten. Putin hat noch dazu die Krim zurückgeholt, der russische Wirtschaftseinbruch ist trotz Sanktionen und niedrigem Ölpreis nicht ganz so schlimm wie befürchtet. Beim Nuklearabkommen mit Iran war Russlands Rolle entscheidend. Und auch in Syrien wird es keine Lösung ohne Russland geben. Gewollt oder ungewollt wird er zum Partner für den Westen. Ich würde mal sagen, im Moment schwebt Putin auf Wolke sieben.
SPIEGEL: Sie haben ihn über Monate begleitet, auf Reisen, in Moskau, Sie waren bei ihm im Kreml. Finden Sie ihn eigentlich sympathisch?
Seipel: Putin wird dämonisiert: kalt, zynisch, ein schlimmer Finger, einmal KGB, immer KGB – all das hatte ich auch gehört. Im Gespräch ist er aber direkt, entwickelt durchaus Charme und argumentiert differenziert. Er war sensibel, manchmal spöttisch. Putin hat eine große Bandbreite zur Verfügung, die er einsetzt, um Menschen zu überzeugen. Dass er eine Affinität zu Deutschland hat, Deutsch spricht und wir oft ohne Übersetzer auskamen, war entscheidend für unser Verhältnis.
SPIEGEL: Wie kam es dazu, dass er Ihnen diesen Zugang gewährte?
Seipel: Ich hatte ihn für einen Film interviewt und danach um ein weiteres Treffen gebeten. Vorher hatte ich mir auf einen Zettel vier Punkte notiert für das Buch, das ich über ihn schreiben wollte. Erstens: Ich brauchte mehrere Interviews mit ihm. Zweitens: Ich wollte ihn bei Reisen und Auftritten begleiten. Drittens: Er durfte Gesagtes nicht zurücknehmen. Viertens: Er sieht das Buch vor Erscheinen nicht. Putin lachte, dann sagte er, er habe auch eine Bitte: keine Familiengeschichten, nichts über seine Frau, die Töchter, eine mögliche Geliebte.
SPIEGEL: Zu viel Nähe kann für Journalisten gefährlich werden. Ihr Buch geht oft sehr freundlich mit Putin um. Haben Sie sich von ihm vereinnahmen lassen?
Seipel: Meinungsstark und aus großer Distanz Putin zu predigen, wo es langgeht, wie es deutsche Leitmedien tun, ist auch kein Rezept. Nur wenn genügend Nähe da ist, lassen sich die üblichen Inszenierungen reduzieren. Auch der SPIEGEL ist nah dran an Politikern in Berlin. Aber Sie haben recht, zu viel Nähe verbrennt.
SPIEGEL: Ist Putin im privaten Umgang so kalt, wie er bei Auftritten wirkt?
Seipel: Nein, kalt finde ich ihn überhaupt nicht. Ich habe ihn in unterschiedlichen Situationen erlebt: Bei Gesprächen über Syrien und den Nahen Osten war er ruhig und analysierend, nicht sehr emotional. Das ist beim Thema Ukraine ganz anders oder beim Abschuss von MH17 mit 298 Toten über der Ostukraine. Da war er richtig angefasst und betroffen.
SPIEGEL: Weil er Mitleid mit den Toten hatte oder die Konsequenzen fürchtete?
Seipel: Beides. Auf der politischen Ebene war es natürlich so, dass die Lage in der Ukraine dadurch eskalierte. Und die massiven Vorwürfe, die dann gegen ihn aufkamen, die Situation, auf einmal als Massenmörder dazustehen, das hat Putin nicht kaltgelassen. Auch wenn er sonst gut mit seinem Image als böser Bube leben kann.
SPIEGEL: Woraus schließen Sie das?
Seipel: Als ich ihn ziemlich zu Beginn fragte, warum Russland nicht die Werte des Westens übernehme, antwortete er: "Ich muss so sein, wie es mein Volk von mir erwartet. Ich bewerbe mich ja nicht um den Job des deutschen Bundeskanzlers."
SPIEGEL: Sie schreiben, dass für Putin der Westen in der Auseinandersetzung um die Ukraine eine "rote Linie" überschritten habe. Wieso?
Seipel: Was als Kreuzzug des Westens im Namen von mehr Demokratie verkündet wurde, sieht Putin als Versuch, den Einfluss Russlands zu kappen und stattdessen die EU und die Nato auf die Ukraine auszuweiten. Putin hat auch gelesen, dass der US-Stratege Zbigniew Brzezinski schon 1997 diese Osterweiterung konzipierte. Ohne die Ukraine ist Russland kein Imperium mehr. Das will und kann Putin nicht zulassen. Deshalb hält er es auch für eine Doppelmoral, wenn ihm vorgehalten wird, er wolle die alte Sowjetunion wiederherstellen.
SPIEGEL: Er selbst hat doch in seiner Rede zur Lage der Nation schon im Jahr 2005 den "Zerfall der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet.
Seipel: Er meinte damit, dass sich mit dem Zerfall der Sowjetunion von einem auf den anderen Tag 25 Millionen Russen in anderen Staaten wiederfanden. Ich jedenfalls konnte keinerlei Anzeichen für Revanchismus bei Putin ausmachen. Er ist viel zu sehr Realpolitiker, um zum Beispiel über einen Angriff auf die baltischen Staaten nachzudenken. Er weiß, das würde den dritten Weltkrieg bedeuten.
SPIEGEL: Bei der Krimbesetzung hat er tagelang die Präsenz russischer Eliteeinheiten geleugnet – das trägt nicht gerade zur Beruhigung der Balten und Polen bei.
Seipel: Was hätte er denn sonst tun sollen? Auf der Krim verteidigte er die Interessen, die er zu haben meint. Er reagierte auf den Expansionsdrang des Westens und die Entwicklung in der Ukraine. Erst hatten doch die drei Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens im Februar 2014 mit Präsident Wiktor Janukowytsch und der Opposition einen Kompromiss ausgehandelt, der den Abzug der Demonstranten vom Maidan und Neuwahlen vorsah. Innerhalb von Stunden galt das dann alles nicht mehr. Putin fühlte sich deshalb vom Westen betrogen.
SPIEGEL: Was hat er Ihnen dazu erzählt?
Seipel: Er hat mir von einem nächtlichen Telefonat mit Obama berichtet, in dem der amerikanische Präsident ihm Unterstützung für den Kompromiss zugesagt habe. Geschehen ist dann das Gegenteil.
SPIEGEL: Der Verlauf von Revolutionen lässt sich in der Regel nicht voraussagen.
Seipel: Putin findet, dass die westlichen Diplomaten in Kiew ohne große Schwierigkeiten Oppositionsführer wie Vitali Klitschko und Arseni Jazenjuk hätten zusammenholen und dazu zwingen können, die vereinbarte Abmachung einzuhalten.
SPIEGEL: Gehört es nicht einfach zum klassischen Feindbild russischer Propaganda, stets den Westen als treibende Kraft bei revolutionären Bewegungen zu vermuten?
Seipel: Ich halte auch unsere Idee für falsch, Russland und Putin hätten nach unseren Vorstellungen zu funktionieren. Putin ist da sehr eindeutig. Er sagt: Über russische Probleme entscheiden Russen – und nicht Amerikaner oder Deutsche. Russland ist
nicht die Kolonie des Westens. Putin braucht keine ständigen Mahnkataloge aus Washington, Brüssel und Berlin. Das war doch ein einmaliger Vorgang, als der Deutsche Bundestag 2012 in einem Dokument 17 Punkte auflistete, was der Kreml gefälligst zu tun habe. Das macht Deutschland doch auch nicht mit anderen Staaten. Wer das öffentliche Anprangern von Menschenrechtsverletzungen zum Maßstab seiner Außenpolitik macht, erreicht nichts.
SPIEGEL: Jetzt klingen Sie wie ein Putin-Versteher.
Seipel: Ich hoffe es, denn erst wenn ich die Interessen des anderen verstehe, kann ich mich ernsthaft mit ihm auseinandersetzen. Wir haben Schwierigkeiten einzusehen, dass Russland zwar ein autoritäres System mit vielen gesellschaftlichen Konflikten ist, die aber die Russen selbst lösen müssen. Russland ist volljährig.
SPIEGEL: Ist das das große Missverständnis zwischen Russland und dem Westen?
Seipel: Durchaus, unser Missionsdrang ist mit dem der Kirche früher in Afrika zu vergleichen. Im Westen ist in den letzten Jahren eine Atmosphäre geschaffen worden, die zur Folge hat, dass Putin an allem schuld sein soll, selbst wenn am Baikalsee eine Kuh tot umfällt.
SPIEGEL: Haben Sie kein Problem mit so harten Strafen wie der gegen Pussy Riot?
Seipel: Hübsche Unterstellung. Aber als Journalist ist es nicht mein Job, die deutsche Gesellschaftsordnung auf Russland zu übertragen. Wer das will, ist besser bei Amnesty International aufgehoben. Pussy Riots Punkgebet "Scheiße, Scheiße, Gottesscheiße" in der Kirche und die westliche Kritik an der Verurteilung der Frauen waren für Putin eine Steilvorlage im Wahlkampf, um bei seiner Klientel zu punkten.
SPIEGEL: Wie würden Sie das Verhältnis von Putin zu Angela Merkel beschreiben?
Seipel: Putin respektiert sie als Machtpolitikerin, die sich lange im Amt gehalten hat und alle Tricks der Politik kennt. Da sind sich die beiden nicht unähnlich. Ob er Merkel schätzt, weiß ich nicht. Ich bin bei den Gesprächen der beiden ja nicht dabei, und Putin ist ein Profi. Er erzählt mir da nicht alles. Aber als Merkel in diesem Jahr einen Tag nach den Feierlichkeiten zum Sieg über Deutschland die Annexion der Krim verbrecherisch nannte und indirekt mit dem Holocaust verglich, sagte er mir, dass er diese Äußerung als eine Grenzüberschreitung der Kanzlerin verstanden habe.
SPIEGEL: Wie ernst nimmt Putin die Minsk-Verhandlungen, zu denen er sich mit Merkel, Hollande und dem ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko trifft?
Seipel: Die nimmt er sehr ernst. Der Ukrainekonflikt kostet Russland viel Geld. Russland muss die Ostukraine versorgen. Putin möchte eine Lösung, so schwer ein Kompromiss auch sein mag. Im Übrigen hat er Europa im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der Moskauer Machtelite noch nicht abgeschrieben. Er hängt an Europa.
SPIEGEL: Wie lange wird er noch Präsident sein?
Seipel: Das weiß ich nicht. Vielleicht gibt es einen Moment wie vor der letzten Präsidentenwahl, in dem er mit einem Rückzug geliebäugelt hat – vielleicht war es aber auch nur Koketterie. Im Moment sitzt er auf jeden Fall ziemlich fest im Sattel.
SPIEGEL: Ist Putin reich?
Seipel: Er weiß, was gute Klamotten sind und was gutes Essen ist, aber er hat keine vergoldeten Feuerzeuge. Hat er imposante Bankkonten? Keine Ahnung.
SPIEGEL: Und, haben Sie in all der Zeit mal mit ihm zusammen Sport gemacht?
Seipel: Er hat mich gleich bei einem unserer ersten Treffen auf die Judomatte gebeten. Da habe ich freundlich abgelehnt. Das wäre nicht gut ausgegangen für mich.
Sport ist für Putin sehr wichtig, er betreibt ihn mit großem Ernst, auch aus politischen Gründen. Obama macht Familienfotos, Putin Fotos mit nacktem Oberkörper beim Angeln und Jagen. Das funktioniert hervorragend bei seinen Wählern, vor allem bei Frauen zwischen 35 und 55 – und durchaus auch bei russischen Männern.
SPIEGEL: Herr Seipel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.