„Viel Lärm - viel Zweifel“
Die "historische Sensation" sollte Deutschland und der Welt eigentlich erst am kommenden Donnerstag aufgetischt werden: die Titelstory im "Stern" über die "intimsten Aufzeichnungen" des deutschen Diktators. Schlagzeile: "Hitlers Tagebücher entdeckt."
Doch dann mußte alles Hals über Kopf gehen. Die "Stern"-Geschichte wurde um eine Woche, der Heftverkauf sogar noch einmal um drei Tage, auf Montag letzter Woche, vorverlegt. Als am selben Tag im "Stern"-Verlagshaus der "größte Zeitungs-Coup der Nachkriegsgeschichte" vor rund hundert Journalisten präsentiert wurde, geriet holterdiepolter die ganze Hitler-Show ins Schleudern.
Die Story war noch nicht einmal auf dem Markt, da kamen Zweifel an der Echtheit der 60 Bände auf. Dem britischen Historiker David Irving, den Axel Springers "Bild" eigens aus England eingeflogen hatte, wurde mitten in seinen kritischen Ausführungen das Mikrophon abgeschaltet. Und selbst der englische Historiker Hugh Trevor-Roper, der im Dokumentationsfilm der "stern tv" für den Fund noch gutgesagt hatte ("keine Fälschung"), relativierte sein Zeugnis nun zur "provisorischen Annahme".
Vorgeprescht war der "Stern" mit seinem Hitler-Material, so Chefredakteur Felix Schmidt, "weil''s nicht mehr unter der Decke zu halten war". In der Schlußphase der Auswertung und der Verhandlungen mit ausländischen Verlagen sei es durch zu viele Hände gegangen.
So hatte das US-Nachrichtenmagazin "Newsweek" Einblick in Kopien bekommen, war vor dem Ankauf aber abgesprungen - weil, sagt "Stern"-Herausgeber Henri Nannen, sich seine Redaktion mit der gewünschten Zusammenfassung verstreuter Textstellen zu Hitlers Judenpolitik nicht einverstanden erklärte. Dennoch setzte "Newsweek" am Montag letzter Woche, zeitgleich mit dem "Stern", einen "Special Report" auf die Titelseite: "Hitlers geheime Tagebücher", Unterzeile: "Sind sie echt?"
Anders als die Amerikaner, die sich vor allem für den Holocaust interessierten, wollte die Londoner "Sunday Times"-Redaktion vorrangig Hitler-Aufzeichnungen aus einem Extra-Band über den Englandflug seines Stellvertreters Rudolf Heß drucken. Diesen Teil gab der "Stern" dann auch als ersten frei, die "Sunday Times" stimmte ihre Leser vorletzten Sonntag schon mal mit einem lebensgroßen Hitlerporträt und einigen kurzen Tagebuchtexten ein.
Auch Franzosen und Italienern wurde Führerlektüre verhießen. "Paris Match" kündigte den Abdruck an, immer "parallel zum ''Stern''", so Generaldirektor Roger Therond, und "Panorama" in Mailand sicherte sich vier Folgen samt einer Option auf den Rest.
Während Therond bisher kein sonderlicher Argwohn gegen die Echtheit der Tagebücher plagt, äußerte "Panorama"-Chefredakteur Carlo Rognone offene "Zweifel an der Authentizität". Drucken will er dennoch, weil "wir nicht aus dem Fenster zusehen können, bis das Pro und Kontra um die Authentizität entschieden ist" (Rognone).
Der "Stern" selbst druckte rund 400 000 Exemplare mehr als sonst, 2,2 Millionen, und fand dafür nach der Pressekonferenz und einer 140-Minuten-Sendung im ZDF, mit dem "stern-tv"-Film ("Der Fund") und einer Historiker-Diskussion ("Gefälscht oder echt?"), rege Nachfrage am Kiosk.
Für Klaus-Dieter Zeisberg von "stern tv" kamen die Vorführtermine so überraschend, daß die Endfertigung mit der "heißen Nadel", in zusätzlichen Tag- und Nachtschichten, erledigt werden mußte. Das ZDF erhielt den Streifen (Kaufpreis 175 000 Mark) vom Studio Hamburg aus direkt in die Sendung überspielt.
So endete mit "viel Lärm - viel Zweifel" (so Hitler-Biograph Joachim Fest in der "FAZ") ein von langer Hand vorbereitetes Verkaufsmanöver mit dem "wirtschaftlichen Ziel einer Auflagensteigerung", wie Nannen unumwunden zugibt. Daß es "durch die Veröffentlichung von möglicherweise gefälschten Dokumenten" erreicht werden sollte, weist der Herausgeber weit von sich: Er habe an der Echtheit der Dokumente "nicht den geringsten Zweifel".
Doch wann, wo und bei wem die 60 Bände aufgetrieben worden sind, darüber schweigen die Beteiligten: "Diese Kenntnis", sagt ein Redaktionssprecher, "hat nur ein Mann" - der "Stern"-Reporter Gerd Heidemann.
Der aber sagte auch dann noch nichts, als ihn Professor Trevor-Roper, bis dahin Kronzeuge des "Stern" für die Echtheit der Papiere, kurz vor der Pressekonferenz in ein regelrechtes Verhör nach den Quellen nahm.
Der Brite, der in einem Zürcher Banckeller drei Stunden in den Tagebüchern geblättert hatte, hatte "die Unterlagen als authentisch" klassifiziert. "Sunday Times"-Verleger Rupert Murdoch, der ihn mit der Prüfung beauftragt hatte, entschloß sich nach einem Preispoker mit "Stern"-Chefredakteur Peter Koch und Vorstandschef Gerd Schulte-Hillen vom Verlag Gruner + Jahr, dem der "Stern" gehört, zum Ankauf für 400 000 Dollar.
In seinem Hamburger Hotelzimmer ging Historiker Trevor-Roper, in Gegenwart des Journalisten Antony Terry, den "Stern"-Mann Heidemann nun massiv an, er solle ihm seine Quelle nennen. Dann werde er, Trevor-Roper, sich vorbehaltlos hinter die Tagebücher stellen. Als der Reporter unzugänglich blieb, rückte der Historiker öffentlich ab: Die S.29 Beweiskette für den Fund sei "nicht ganz lückenlos".
Noch drastischer hatte sich Trevor-Roper, Autor des Buches "Die letzten Tage im Führerbunker", intern bei der "Sunday Times" in London von seiner anfänglichen Überzeugung distanziert. Dort hatte ein Redakteur, unter Hinweis auf den früheren Abdruck angeblicher Mussolini-Memoiren, die sich später als gefälscht erwiesen, seinen Chefredakteur zunächst schriftlich vor den Hitler-Tagebüchern gewarnt: "Wir sollten uns nicht auf die Experten verlassen."
Die Chefredaktion beauftragte daraufhin ihren Mitarbeiter Phillip Knightley, Trevor-Roper noch einmal eindringlich zu befragen, was dann am Freitagnachmittag vorletzter Woche geschah. In einem dreißigminütigen Telephonat war der Historiker da noch ganz sicher: "Ich war beeindruckt von der schieren Menge des Materials." Vorletzten Sonnabend erschien in der "Times" denn auch ein ganzseitiger Trevor-Roper-Artikel mit der Echtheits-These - Überschrift: "Geheimnisse, die den Bunker überlebten."
Um die einsetzende Kritik abzufangen, gab es mittags bei der "Sunday Times" eine Sonderkonferenz. Chefredakteur Frank Giles telephonierte abermals mit Trevor-Roper - und nun war der plötzlich ganz anderer Meinung.
"Haben Sie Zweifel an der Sache, zehn oder zwanzig Prozent?" fragte Giles. Trevor-Roper bestätigte. Giles: "Sie machen also eine Kehrtwendung um 180 Grad?" Der weitere Gesprächsverlauf verstärkte den Eindruck.
Die Lücke, die der Historiker nun in der Beweiskette entdeckt hatte, ergibt sich aus dem Umstand, daß Heidemann zwar den Absturzort eines 1945 weitgehend ausgebrannten Flugzeugs mit angeblichen Hitler-Papieren fand, die Tagebücher dann aber ganz woanders auftrieb. Ob eines mit dem anderen zu tun habe, darum geht der Streit zwischen dem "Stern" und seinen Kritikern.
Die Illustrierte über die Suche: "Monatelang recherchiert Heidemann in der Bundesrepublik, in der DDR, in Österreich, in der Schweiz, in Spanien, in Südamerika, häufig bei ehemaligen Nazis wie dem früheren Hauptsturmführer Klaus Altmann alias Barbie." Ergebnis, laut Nannen: "Die Tagebücher lagen nicht an einem Ort, wohl sehr bald nach dem Absturz nicht mehr."
Offenbar, deutete er an, habe Heidemann die Bände nicht aus einer oder zwei Quellen, sondern bei vielen verschiedenen Leuten zusammengeklaubt. Der Reporter, wiederholt er ein andermal, habe das Material "nicht auf einmal bekommen".
Nach Ansicht der "Stern"-Verantwortlichen, bekräftigt Redaktionssprecher Karl-Heinz Blumenberg, sei die von Trevor-Roper bemängelte "Kette geschlossen", es gebe bei Reporter Heidemann "keinen Zweifel an der Zuverlässigkeit seiner Quellen".
"Als die Funde da waren", meint Chefredakteur Koch, habe man sich ihrer Echtheit jedenfalls ausreichend vergewissert - mit Schrift-, Papier- und Historiker-Gutachten. Doch einer der beauftragten Professoren, der Amerikaner Gerhard Weinberg, hielt sich bei der Präsentation vor der Presse merklich zurück. Und Trevor-Ropers "Wackeln" ("Bild") habe "man ja nicht vorhersehen können", so Koch. Daß dann auch noch Irving das Mikrophon abgedreht wurde, beteuert der "Stern"-Chef, sei eine technische Panne beim Hin- und Herschalten gewesen.
Einer hielt sich am Anfang aus allem heraus: Nannen. Dies sei "jetzt mal ein Fall für die neue Chefredaktion", entschied er am Telephon, reiste in die Schweiz zu einer Fernsehsendung und in seine Heimatstadt Emden zum 50jährigen Abiturjubiläum. Nannen habe halt, meint Koch, "nicht wieder alles auf sich ziehen wollen".
Erst ein offener Brief des Historikers Martin Broszat, Direktor des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, mobilisierte ihn für seine Leute. Broszats Forderung nach Einsetzung einer internationalen Expertenkommission konterte er mit dem Hinweis, bei Offenlegung aller Texte sei "die Exklusivität für den ''Stern''" nicht mehr gesichert.
Einen Vorbehalt gegen sein Blatt, ein "Wort der Selbstkritik", schrieb Nannen aber doch in seinen Antwortbrief: Daß "nach Kenntnis dieser Tagebücher ... die Geschichte des Dritten Reiches in wesentlichen Teilen neu geschrieben werden" müsse, wie es im "Stern" hieß, sei denn doch eine "etwas großmäulige Ankündigung". Allenfalls ließen sich "höchst interessante Erkenntnisse" über Motive und Beziehungen damaliger Politiker gewinnen.
Die Urheberschaft für die überschwengliche Bewertung lastete er allerdings Trevor-Roper an, von dem der "Stern" sie übernommen habe.
Der 69jährige Brite, als Lord Dacre of Glanton Direktoriumsmitglied bei der "Times", wurde zum Sündenbock bei "Stern" wie "Sunday Times". Der australische Verleger Murdoch, zu dessen "Times Newspapers Ltd." das Londoner Sonntagsblatt gehört, quittierte in New York den Sinneswandel seines wissenschaftlichen Sendboten mit dem telephonischen Druckbefehl an seine Leute in London. Murdoch laut Ohrenzeugen: "Fuck Dacre - publish."
Dennoch drängt die "Sunday Times" auf schnelle Klärung der Zweifel durch eine schleunigst berufene deutsche Historiker-Kommission, über deren Besetzung der "Stern" nichts verlauten läßt. "Junge Leute" seien es, heißt es in London, die "in Ruhe arbeiten sollen", so Koch.
Weitere Auszüge aus den Tagebüchern will die "Sunday Times" erst drucken, wenn das Expertenteam die Materialien geprüft hat, voraussichtlich Ende Mai. Der stellvertretende Chefredakteur Brian MacArthur beriet die weitere Marschroute letzte Woche mit dem "Stern" in Hamburg.
Erweist sich das "Stern"-Material als Fälschung, entfällt laut Vertrag, wie Hauskenner erzählen, der Honoraranspruch des "Stern".
Beim Hamburger Bilderblatt macht man über einen Flop noch Späße. "Wenn das schiefgeht", meinte Chefredakteur Koch, "chartert die Redaktion Heidemanns Schiff ''Carin II'', fährt damit nach Helgoland und zieht die Ventile."