Wie der Vater
Nach der zehnten Runde im Boxring von Manila setzte sich Herausforderer Joe Frazier zufrieden auf seinen Hocker. Dann blickte er rückwärts durch die Seile hinunter, wo sein Sohn Marvis stand, und rief: "Na, wie gefällt es dir?"
Marvis Frazier jubelte: "Du hast ihn, Papa, noch ein paar Aufwärtshaken, und das Großmaul fällt noch einmal um." Doch Titelverteidiger Muhammad Ali schlug zurück. Nach der elften Runde schwollen Fraziers Augenbrauen. Nach der zwölften Runde spuckte er einen Zahn aus. Nach der 13. Runde war die Haut über beiden Backenknochen aufgeplatzt. Nach der 14. Runde kam Joe Frazier ins Krankenhaus. Frazier junior saß heulend auf dem Gang.
In dieser Nacht von Manila des Jahres 1975, so berichtet die allzeit aus Brutalität und Sentiment gemischte US-Boxer-Legende, begann der Aufstieg eines neuen Weltstars, Marvis Frazier, in der Faustkämpfer-Gilde. Zwar kann er Vaters Peiniger Muhammad Ali nicht mehr vertrimmen, weil der längst aufgehört hat, in den Ring zu steigen, er hat aber große Chancen, die durch Muhammad Alis Rücktritt entstandene Marktlücke zu füllen.
Im Schwergewicht besitzen die Amerikaner keinen Boxer mehr, der wie Muhammad Ali in der Lage wäre, weltweit die Boxfans mitten in der Nacht aus dem Schlaf zu scheuchen, um den Fernseher einzuschalten. Eingedenk des zahnlosen Leon Spinks, des tapsigen Larry Holmes oder gar des hüftsteifen John Tate beklagte der frühere Muhammad-Ali-Betreuer Angelo Dundee: "Es gibt keinen Boxer mehr, der etwas in den Fäusten oder im Maul oder auf der Bank hat."
Marvis Frazier, 19, verlor bisher keinen seiner 42 Boxkämpfe. Vor Wochen gewann er in Yokohama die Junioren-Weltmeisterschaft. Im Finale gegen den Österreicher Olaf Mayer brach der Ringrichter in der 2. Runde den Kampf zugunsten Fraziers ab. Marvis Frazier will 1980 das erreichen, was 1964 schon seinem Vater gelungen ist: den Olympiasieg im Schwergewicht.
"Marvis ist besser als ich zu meiner Amateurzeit", behauptet der Vater. Daddy Joe maß nur 1,81 Meter und wog 188 Pfund, der Sohn Marvis ist fünf Zentimeter größer und wiegt sechs Pfund mehr. Anders als der Vater, der wegen seiner für Schwergewichtler zu kurzen Arme immer den Nahkampf suchen mußte und dabei von langarmigen Boxern wie Muhammad Ali mehrmals getroffen wurde, bevor er selber einen Schlag anbringen konnte, besitzt Frazier junior genügend Reichweite und boxt eher wie Muhammad Ali als wie der Vater. S.127
Noch nie vermochte der Sohn eines Box-Olympiasiegers selber Olympiasieger zu werden. Auch Weltmeistertitel wurden noch nie von Abkömmlingen früherer Weltmeister gewonnen, selten wagten Boxer-Söhne überhaupt den Faustkampf.
Inzwischen will nicht nur Marvis Frazier die Faustregel durchbrechen, sondern auch in Ost-Berlin übt der Sohn eines Box-Olympiasiegers für die Olympischen Spiele 1980: Mario Behrendt, 19. Sein Vater, Wolfgang Behrendt, hatte 1956 in Melbourne die Goldmedaille im Bantamgewicht, wo rund 40 Kilo leichtere Kämpfer als im Schwergewicht antreten, gewonnen.
Zuletzt siegte Mario Behrendt im Finale eines internationalen Boxturniers in Ost-Berlin. Doch anders als Frazier junior verlor er in mehr als 60 Kämpfen bereits zwölfmal, allerdings nie durch K.o. Doch die Amateurboxer im Ostblock treffen wie Behrendt im eigenen Land, aber auch gegen Sowjets, Polen, Rumänen und Jugoslawen, meist auf weitaus stärkere Rivalen als die Amateurboxer in West-Europa oder in den USA.
Die Abstinenz der Söhne vom rauhen Sport des Vaters erklärt der Sportmediziner Professor Dr. Hans Grebe, Mitglied der Europäischen Box-Union, "mit der leidvollen Erfahrung von Gefährlichkeit und Entsagung beim Boxen".
So hatte auch Florence Frazier ihrem Sohn lieber Ringen und Baseball angeraten und Boxen verboten, denn "die grauenhaften Erlebnisse wie mit meinem Mann Joe möchte ich nicht noch einmal durchmachen". Seit 1945 starben mehr als 300 Boxer an Kampffolgen.
Auch Joe Frazier in Philadelphia und Wolfgang Behrendt in Ost-Berlin rieten ihren Söhnen wie bislang fast alle Boxmeister ab, Medaillen und Moneten im Faustkampf zu verdienen. Vorsichtig bezeichnet Mario Behrendt den Einfluß seines Vaters auf seine Boxerkarriere mit "nicht mehr als zehn Prozent". Ganz anders steht es um Frazier junior.
Denn die zehn Millionen Dollar, die Joe Frazier im Boxring verdient und in Geschäften gut angelegt hat, lockten den Sohn. So plant Marvis Frazier, nach dem Gewinn der Goldmedaille in Moskau sofort Berufsboxer zu werden.
Die Nominierung für die US-Olympia-Mannschaft scheint der Sohn sicherer zu schaffen als einst der Vater. Joe Frazier hatte 1964 einen Qualifikationskampf gegen den Drei-Zentner-Mann Buster Mathis klar verloren. Doch dann brach sich Mathis im Training einen Daumen, Frazier reiste für ihn nach Tokio und wurde Olympiasieger.