„Wir kämen endlich von der Bettelei weg“
Willy Brandt gibt sich einstweilen noch hoffnungsfroh. "Alles, was in unserem Bericht steht", versichert der Vorsitzende der "Unabhängigen Kommission für Internationale Entwicklungsfragen" (ICIDI), "wird wieder aus der Schublade herauskommen, in die man es zunächst einmal legen wird -- vorausgesetzt, daß wir um den ganz großen Kladderadatsch herumkommen."
Wenn der deutsche Ex-Kanzler am Dienstag dieser Woche ein druckfrisches Exemplar seines 360-Seiten-Reports
( Der Bericht erscheint im März unter dem ) ( Titel "Die Zukunft sichern" im Verlag ) ( Kiepenheuer & Witsch, Köln. )
an Uno-Generalsekretär Kurt Waldheim in New York übergibt, wird niemand an der Dringlichkeit seiner Appelle zweifeln wollen. Doch Zukunftsentwürfe für weltweite Solidarität, Klagen über Hunger und Massensterben in den Armutsregionen Asiens und Afrikas, Warnungen vor einem neuen Wettrüsten -- dafür herrscht zu Beginn der achtziger Jahre nicht die rechte Konjunktur.
Die Ost-West-Krise nach dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan überlagert, wieder einmal, den fälligen Interessenausgleich zwischen Nord und Süd. "Die Entwicklungsländer", sorgt sich Brandts Bonner Genosse Uwe Holtz, "werden zu Bauern auf dem Ost-West-Schachbrett degradiert."
Unter solch widrigen Umständen hätte es für den SPD-Chef und seine Nord-Süd-Kommission kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt geben können, um sein Plädoyer für die "gemeinsamen Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer" vorzulegen.
Zu den wichtigsten Forderungen der Brandt-Kommission gehören:
* eine massive Erhöhung der Entwicklungshilfe bis zu einem Prozent des Bruttosozialprodukts der Industrieländer;
* ein internationales Abkommen zur Sicherung der Energieversorgung;
* ein Nahrungsmittelprogramm für die von Hungersnöten bedrohten ärmsten Länder;
* Reformen im Weltwährungssystem und eine Liberalisierung des internationalen Handels;
* eine internationale Steuer zugunsten der Dritten Welt.
Solche Forderungen lassen sich wohl kaum durchsetzen, wenn allenthalben mehr Geld für Rüstung und Verteidigung gebraucht wird. Die Militärausgaben nur eines halben Tages, rechnet der Kommissionsvorsitzende im Vorwort nach, reichten aus, um die gesamte Malaria-Bekämpfung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu finanzieren. Schon vor Afghanistan waren die Rüstungsausgaben weltweit auf jährlich 450 Milliarden Dollar geklettert -der Obolus für Entwicklungshilfe macht noch nicht fünf Prozent dieser Summe aus. Und nach Afghanistan?
Schuld daran sind nicht nur die Industrieländer. Auch etliche Staaten der Dritten Welt, belegt der Report, vergeuden über 20 Prozent ihres Jahresbudgets für Waffenkäufe. Es sei schon eine "schreckliche Ironie", schreibt Willy Brandt resignierend, "daß der dynamischste und schnellste Transfer hochentwickelter Technologie von den reichen in die armen Länder in der Maschinerie des Todes besteht".
Vorsorglich hatte Brandt zu Beginn der Arbeit, im Dezember 1977, vor allzu hohen Erwartungen an sein Nord-Süd-Gremium gewarnt: "Wir können nicht den Stein der Weisen erfinden."
Der Auftrag von Weltbankpräsident Robert McNamara an Brandt und 17 weitere prominente Politiker und Experten aus vier Kontinenten war ehrgeizig genug: Sie sollten den in endlosen Konferenzen festgefahrenen Nord-Süd-Dialog durch ihre Bestandsaufnahme wieder flottmachen.
Sieben Mitarbeiter holte Brandt sich aus dem Norden, darunter Englands konservativen Ex-Premier Edward Heath, Schwedens früheren sozialdemokratischen Regierungschef Olof Palme, S.94 die ehemaligen Minister Peter G. Peterson (USA) und Edgard Pisani (Frankreich) sowie, als einzige Frau, Katharine Graham, Herausgeberin der "Washington Post".
Zehn Mitstreiter, "frei von Weisungen und Prestigeerwägungen", gewann Brandt aus dem Süden: Chiles christdemokratischen Ex-Präsidenten Eduardo Frei, Indonesiens Vize-Präsidenten Adam Malik und so erprobte Haudegen aus dem Nord-Süd-Gezänk wie den Algerier Yaka Layachi, den Kuweiti Abd el-Latif J. Al Hamad oder den Guayaner und Generalsekretär des Commonwealth Shridath Ramphal.
Die Runde traf sich in der Schweiz und in Mali, sie diskutierte in Malaysia oder China, konsultierte die Mächtigen der Welt von Jimmy Carter bis Leonid Breschnew, die Neureichen in Saudi-Arabien oder Kuweit, aber auch die Habenichtse in Asien und Afrika.
Die Kommissionäre sprachen bei den multinationalen Konzernen ebenso vor wie bei den Uno-Organisationen, suchten den Rat der Weltbank und tadelten ihre restriktiven Praktiken; sie befragten schließlich eine Schar "ausgewählter Persönlichkeiten", darunter Henry Kissinger und den linken Sozialdemokraten Erhard Eppler.
Was am Ende herauskam, faßt der Kommissionsvorsitzende vorsichtig in dämpfende Worte: "Unsere Vorschläge sind nicht revolutionär; einige sind dem gegenwärtigen Denken vielleicht ein bißchen voraus, andere liegen schon seit Jahren auf dem Tisch."
Patentlösungen bietet die Brandt-Kommission nicht feil, eher stellt sie Forderungen, die schon lange in der Diskussion gewesen sind, zuweilen verlangt sie -- aus der Sicht des Nordens -- Unrealistisches.
Vertraut muß den Adressaten in den westlichen Industrieländern die Mahnung klingen, längst vergebene Zusagen einzulösen und die Entwicklungshilfe bis spätestens 1985 auf 0,7 Prozent ihres Bruttosozialproduktes (jetzt: 0,35 Prozent) zu steigern. Bis zur Jahrtausendwende soll die Ein-Prozent-Marke erreicht sein. Dies käme einer Verdoppelung der weltweiten Hilfsleistungen von jetzt 20 auf mindestens 40 Milliarden Dollar ab 1985 gleich.
Seit langem auf dem Tisch sind auch die Wünsche der Kommission, den Entwicklungsländern bessere Chancen auf dem Weltmarkt zu öffnen, den Handelsprotektionismus abzubauen und Privatinvestitionen durch gegenseitige Verpflichtungen abzusichern.
Unrealistisch dürfte das in den Kommissionsbericht aufgenommene Verlangen des Südens nach Schlüsselreformen im internationalen Währungssystem und der Finanzierung der Entwicklungshilfe bleiben. Denn Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF), in denen die Industrieländer den Ton angeben, werden wohl auch weiterhin für die Dritte Welt "Klubs des reichen Westens" bleiben -- auch wenn der Brandt-Report, vorsichtiger als intern diskutiert, eine "breitere Beteiligung" der unterentwickelten Staaten an der Kreditvergabe des IWF wünscht.
Gegen die Sturheit der Besitzenden können die Entwicklungsländer nichts ausrichten: Zwar dominieren sie mit ihren Mehrheiten die Vereinten Nationen und deren Unterorganisationen für Entwicklungsfragen. Doch das Geld kommt von den reichen Ländern.
Brandts südliche Partner in der Kommission stritten deshalb für einen "Weltentwicklungs-Fonds": eine neue Institution, in der die Entwicklungsländer ohne Gängelung der Weltbank und ihrer Finanziers aus dem Norden ihre eigene Konzeption von "Entwicklung" verwirklichen können.
Ein solcher Fonds sollte, nach den Wünschen der Dritten Welt, paritätisch besetzt sein. Dem halten die Industrieländer S.95 entgegen, es gebe wohl kaum etwas Verrückteres, als neben den bestehenden Organisationen eine neue, womöglich noch größere Entwicklungsbürokratie zu installieren.
Die Nord-Süd-Kommission einigte sich auch bei diesem Streit auf einen Kompromiß: Zu "überlegen" sei, heißt es nun unverfänglich, ob eine neue internationale Finanzierungsinstitution geschaffen werden sollte -- "als Ergänzung" bestehender Organisationen.
Dieser weltweite Fonds könnte jene internationale Steuer einsammeln und verteilen, die vielen Staaten der Dritten Welt wie auch der Brandt-Kommission als künftiges Modell der Entwicklungsfinanzierung vorschwebt.
Selbst Helmut Schmidt, den Brandt ("Ich will mich doch nicht nach vorne wagen, und nachher holzen die mir alles ab") ständig über die Kommissionsarbeit auf dem laufenden hielt, scheint, wie Vertraute berichten, einem solchen Modell nicht abgeneigt.
Der Brandt-Report schlägt eine weltweite Abgabe vor, zu der sich, ihrem Pro-Kopf-Einkommen entsprechend, alle Staaten mit Ausnahme der rund 30 ärmsten Länder verpflichten müßten.
Der Vorteil einer solchen, etwa auf den internationalen Handel erhobenen Steuer: Die Entwicklungsländer, die stärker als der industrialisierte Norden dem Auf und Ab der Weltkonjunktur unterworfen sind, würden von der nationalen Haushaltspolitik der Geberländer unabhängiger, die Hilfeleistungen nicht mehr wie Almosen wirken. "Wir kämen", formuliert ein Brandt-Vertrauter, "endlich von der Bettelei weg zur Rente."
Durch frühere Erfahrungen gewitzt, ahnten die Autoren, daß ihre Zukunftsmodelle über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in internationalen Konferenzen diskutiert, aber nicht verwirklicht werden.
Auch der Nord-Süd-Report des ehemaligen kanadischen Premiers Lester Pearson, 1969 erstellt, war zwar jahrelang ein Nachschlagewerk für Entwicklungspolitiker: Etliche seiner Forderungen, etwa "weichere" Kreditbedingungen für die ärmsten Länder oder der Anstieg multilateraler Entwicklungshilfe, sind inzwischen durchgesetzt.
Doch auf weitreichende Forderungen der Dritten Welt reagierten die Industrieländer hinhaltend.
Da war wohl -- wie bei Kanzler Helmut Schmidt -- zähneknirschend die Rede von "Opfern", die gebracht werden müßten; da fehlte es aber auch nicht an Warnungen an die Dritte Welt, die "Industrieländer nicht zu überfordern". Für den Nord-Süd-Reporter Willy Brandt war''s "weithin ein Dialog von Tauben oder von solchen, die aneinander vorbeigeredet haben".
Deshalb schlägt die Brandt-Kommission ein "Dringlichkeitsprogramm" vor. Denn: "Die Aussichten für die Zukunft", S.97 befindet der Report mit Blick auf die ärmsten Länder, "sind alarmierend."
Ein Nahrungsmittelprogramm, großzügige Schuldenregelungen, höhere Überweisungen und eine garantierte Energieversorgung -- das hält der Brandt-Report in den nächsten fünf Jahren für die dringlichsten Aufgaben auf dem langen Marsch zu einer "größeren internationalen Gerechtigkeit".
Auch die ölexportierenden Länder sollen ihren Beitrag leisten, um Preise und Versorgung stabil zu halten. "Während sie sich der internationalen Verantwortung bewußt sind, ihre Produktion nicht plötzlich einzuschränken", lobt Kommissionschef Brandt die Rolle der Ölstaaten, "nimmt bei ihnen der Wunsch zu, das Öl für die lange Übergangsphase zu einer breiter angelegten Wirtschaftsentwicklung zu konservieren."
Ihre Hoffnung, daß die Opec-Länder zur konstruktiven Mitarbeit bereit sein werden, schöpft die Kommission aus dem Verhalten der drei Opec-Vertreter in der Brandt-Runde: Sie zeigten sich beim Streit um eine "Neue Weltwirtschaftsordnung" solidarisch mit den armen Entwicklungsländern.
Hingegen kam keine Illusion über die Beteiligung der sozialistischen Industrieländer am Nord-Süd-Ausgleich auf: Aus dem Osten seien, so der Bericht, künftig eher Waffen denn Traktoren für die Dritte Welt zu erwarten. Der Report zitiert die Sowjets mit der Ausflucht, sie könnten "ihrer notwendigen Militärausgaben wegen" nicht mehr Rubel für Entwicklungshilfe abzweigen.
Anders als die Pearson-Kommission vor zehn Jahren wollte das Brandt-Team, ermuntert durch entsprechende Forderungen des Südens nach einer "aktiveren Rolle" der Staatshandelsländer, die kommunistischen Länder in den Dialog mit der Dritten Welt einbinden. Aber Brandts Emissäre mußten sich auf ihren Reisen in den Ostblock mit der Entschuldigung abfertigen lassen, man habe im eigenen Machtbereich genug "Entwicklungsarbeit" zu leisten, auch wenn man sich unter Kommunisten der Probleme "voll bewußt" sei.
Die westlichen Länder können so auch künftig, und sei es zur Tarnung eigener Versäumnisse, den mangelnden Opferwillen der Ost-Länder anprangern.
Willy Brandt ("Schnelle Lösungen sind eine Illusion") hat derweil bereits prüfen lassen, welche Chancen es gibt, möglichst bald eine Gipfelkonferenz von "etwa 25 führenden Staatsmännern" zustande zu bringen. Im persönlichen Gespräch, ohne Experten-Delegation, sollen die Gipfel-Teilnehmer aus Nord und Süd den notwendigen politischen Willen für die Lösung der "dringendsten Probleme" (Brandt) aufbringen. Als Textbuch und Leitlinie bietet sich, meinen seine Autoren, der Brandt-Report geradezu an.
Doch der Kundschafter des Kommissionschefs, Österreichs Kanzler Bruno Kreisky, der den exklusiven Gipfel gern nach Wien holen würde, brachte in der vergangenen Woche schlechte Nachricht von seiner Asien-Reise mit: Die Weltlage, berichtete Kreisky seinem Freund Brandt bei der Tagung der Sozialistischen Internationale in Wien, habe bei seinen Gesprächspartnern die Begeisterung für ein solches Unternehmen in naher Zukunft nicht eben begünstigt.