Ratschläge im Zustand des Zermürbens
Am Morgen des 15. Juni 1938 schoß sich der deutsche Maler Ernst Ludwig Kirchner in seinem Schweizer Exil Davos-Wildboden eine Kugel ins Herz. Er starb als "ein Narr, ein übler Geselle", einer, dem es an "Takt" und "Würde" fehlte und der "stufenweise" ins "Rohe und Gemeine" abgeglitten war.
So dunkle, ja wirre Bezichtigungen hatte der Künstler kurz vor seinem Freitod selber gegen sich erhoben. Sie stehen in einem unvollendeten und bisher der Öffentlichkeit unbekannten Abschiedsbrief, den Kirchners Lebensgefährtin bald nach der Schreckenstat "beim Aufräumen" fand und dem Mann übersandte, an den er gerichtet war: dem Schweizer Architekten und Bildhauer Erwin Friedrich Baumann.
Sowenig wie dieser Brief jedoch, so kommt auch nur sein Adressat in der Kirchner-Literatur bis heute vor. Dabei muß Baumann, der Anfang dieses Jahres fast 90jährig in Bern verstorben ist, über lange Zeit und recht eng mit dem Deutschen befreundet gewesen sein.
Bewiesen wird das vor allem durch ein Schriftwechsel-Konvolut, das ein Baumann-Sohn in Zürich verwahrt und das außer den von Witwe Erna Kirchner gefundenen "letzten Zeilen" noch 36 weitere Briefe und zehn Postkarten Kirchners umfaßt. Der SPIEGEL druckt erstmals die aufschlußreichsten Passagen ab (siehe Seite 235).
Das bedeutet neues Material über einen Mann, der zu den wichtigsten deutschen Künstlern der Moderne zählt und der zu seinem 100. Geburtstag am Dienstag dieser Woche bereits seit Monaten durch eine kaum überschaubare Zahl von Ausstellungen gewürdigt wird. Die größte, zunächst in Berlin und München gezeigt, hat nun die Kölner Kunsthalle erreicht
( Bis 8. Juni. Katalog 320 Seiten; 28 ) ( Mark. )
und wird später noch nach Zürich gehen.
Kirchner, das wird bei solcher Gelegenheit bekräftigt, war das zweifellos überragende Talent der expressionistischen "Brücke"-Gruppe in Dresden. Einsamer geworden, stellte er sich dann in der Schweiz rund zwei Jahrzehnte lang dem eigenen hohen Anspruch, fundamental "neue Erscheinungen der Dinge" zu schaffen.
Die Bergwelt bot Kirchner eine Zuflucht, seit er nach kurzer Militärzeit mit einer durch Schlafmittel und Morphium verschlimmerten Nervenkrise zusammengebrochen war. Heilung suchend und nach wie vor in "quälender Angst, noch einmal als Soldat eingezogen zu werden", kam er zuerst 1917 in den Kurort Davos. Von 1918 an wohnte er ständig da, ab 1923 in einem gemieteten Bauernhaus der Flur Wildboden.
Auch Baumann kam als Kranker, mit einem Lungenleiden, nach Davos. Er arbeitete dort, zunächst zwischen 1915 und 1920, mehrfach für ein Architekturbüro, so an der Anlage jenes Waldfriedhofs Wildboden, auf dem Kirchner dann 1938 begraben wurde. Den von Baumann entworfenen Friedhofseingang S.235 hat Kirchner 1935 auf einem Aquarell abgebildet.
Vor 1921 waren beide Männer, einer Baumann-Notiz zufolge, "Freunde geworden" und hatten "mehrmals zusammen ausgestellt". Und als Baumann danach auf Reisen ging, wurden "öfters Briefe gewechselt". Der älteste erhaltene Kirchner-Brief an Baumann stammt allerdings erst von 1924.
Damals (und bis 1929) lebte Baumann in Kalifornien. Zuvor aber hatte Kirchner, "damit ich ihm nicht wieder so ungeahnt durchbrennen könnte", den Freund auf einer Radierung ("Architekt B.") porträtiert. Nach Rückkehr aus den USA hielt sich Baumann mal in Bern, mal in Davos auf; Briefwechsel-Perioden wechselten mit Zeiten des direkten Kontakts.
Diskussionsstoff bot immer wieder die Bildhauerkunst. Kirchner war zwar als Maler bekannt geworden, hatte aber schon früh auch charaktervoll-kantige Skulpturen hervorgebracht. In Davos schnitzte er -- neben freien Bildwerken -- fast sein ganzes Mobiliar aus Arvenholz. Er schmückte, auch unter dem Eindruck bäuerlicher Kunst, Stühle, Tische und Betten mit Aktfiguren und Tiergestalten. Noch 1952 barg Rita Baumann, die Frau des Briefe-Empfängers, eine hölzerne Katze als Fragment eines solchen Möbels aus einem Schuppen nahe dem einstigen Kirchner-Haus. Andere Stücke blieben zum Verheizen zurück.
Baumann seinerseits schwankte zeitlebens zwischen der Architektur als Brotberuf und dem Gefühl, zum freien Bildhauer berufen zu sein. Seine auffälligste hinterlassene Arbeit ist halb Bauwerk, halb Skulptur: ein aus Granitblöcken gemauerter zehn Meter hoher Adler am Simplon-Paß (1944).
Dem "Zustand des Zermürbens" bei dem zehn Jahre Jüngeren suchte Kirchner nach Kräften abzuhelfen -- mit ausführlichen, ebenso lehrhaften wie engagierten Darlegungen. Einmal erteilte er genaue Ratschläge für das Werkstück, an dem Baumann gerade arbeitete, und korrigierte es mit gezeichneten Skizzen im Brief. Dann wieder drängte er zur grundsätzlichen Entscheidung.
Kirchner hat damit zugleich eine bemerkenswerte Selbstdarstellung gegeben. Er machte seine Auffassung vom Künstlerberuf klar, umriß seinen Begriff von Skulptur und benannte hellsichtig die entscheidenden zeitgenössischen Bildhauer. Während er Deutsche wie Ernst Barlach und Georg Kolbe als unmodern abtat, verwies er Baumann -- auch von heute aus gesehen richtig -- auf Constantin Brancusi und Alberto Giacometti.
Baumann offenbarte sich auf seine Weise: Er gab dem Freund ein autobiographisches Romanfragment zu lesen, das er geschrieben hatte (und in dessen späterer Fortsetzung Kirchner selbst als "Bildhauer Ewald" vorkommt). 1937 führte er seine Braut bei Kirchner ein, was dieser mit privaten Ratschlägen quittierte.
Inzwischen waren tiefe Schatten auf Kirchners Existenz gefallen. Die Verfemung seiner Arbeit in Nazi-Deutschland traf ihn schwer, verschlechterte seine materielle Lage und seine ohnehin stets labile Gesundheit. Heimlich versuchte Baumann 1938, Kirchner jedenfalls in die Schweizer Künstler-Gesellschaft zu lancieren, doch der Verband winkte ab: Der Deutsche habe sich früher "sehr abschätzig" über die Schweizer Kunst geäußert.
Zuletzt sah der Künstler "überall Gespenster und Spione", so zitierte Baumann Erna Kirchner, als er am 12. Juni 1938 von seinem "letzten Gang zu Kirchner" zurück war. Unter "nervösem Zucken", berichtete er seiner Braut, habe Kirchner ihm vorgeworfen, ihn "so spöttisch angeschaut" und seine bescheidene Behausung "anstößig" gefunden zu haben. "Ganz freundlich", so Kirchner, sei Baumann ja gewesen, habe sich aber "nie mitgeteilt". "Alle Schweizer Kunstkreise seien nationalsozialistisch, auch ich."
Einen Tag später erschien Kirchner bei Baumann in Davos, um sich zu entschuldigen: "Er sei nicht mehr Herr über sich selber." Kaum zweifelhaft, daß diese Zerrüttung durch Drogen mitverschuldet war; vor dem Haus vergraben und im Keller wurden später "in recht großer Anzahl" leere Ampullen eines Morphin-Derivats gefunden.
( Eberhard W. Kornfeld: "Ernst Ludwig ) ( Kirchner, Nachzeichnung seines Lebens". ) ( Verlag Kornfeld & Co., Bern; 388 ) ( Seiten; 168 Mark. )
Auch der verworrene Abschiedsbrief, in dem Kirchner den Kettenraucher Baumann vor "giftigem Weihrauch" warnt, ist insoweit klar.
Dennoch mag Baumann wesentlich recht gehabt haben, als er in Kirchner "ein Opfer des Nationalsozialismus" beklagte. Weil in Deutschland "der nackte urwaldgermanische Stumpfsinn ans Ruder geraten" sei, müßten die "geistigen Deutschen untergehen".