HESSEN Macht der Liebe
Der Versammlungsort war schon gut gewählt. Zu ihrem Landesparteitag kamen die hessischen Freien Demokraten nach Darmstadt, wo laut Verkehrsamt "wagemutige Experimentierfreudigkeit" zu Hause ist, ins "Luisen-Center", ein Kongreßgebäude, dem der Prospekt "flexible Nutzungsmöglichkeiten" nachsagt.
Ein Experiment, das behende Wendigkeit erforderte, wurde denn auch daraus. Am "Tag der Deutschen Einheit", am Donnerstag voriger Woche, fiel die Hessen-FDP in zwei Lager auseinander und entschied sich mit knapper Mehrheit, die politische Richtung zu wechseln.
Statt der SPD, mit der sie in der Landeshauptstadt Wiesbaden seit zwölf Jahren anstandslos die Regierung betreibt, bot sich die liberale Partei vor der Landtagswahl am 26. September der CDU des Alfred Dregger als Partner an - 169 Delegierte folgten diesem Leitantrag ihres Vorstands, der sich am Vorabend auch nur mit 14 gegen zehn Stimmen entschieden hatte; immerhin 129 wollten auf dem bisherigen Kurs bleiben und waren dagegen.
Die Entscheidung, anderntags in westdeutschen Blättern als "Kamikaze" und "Taktik am Abgrund" eingestuft, traf Hessens sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Holger Börner nicht gerade unvorbereitet. Schon gleich nach dem Hamburger Wahldesaster von Anfang des Monats hatte der hessische FDP-Chef und Innenminister Ekkehard Gries, der sich sonst "immer als Sozialliberaler verstanden" hatte, auf dem Absatz kehrtgemacht: "Der Trend ist jetzt klar" (siehe Interview Seite 22).
Damit war die letzte SPD/FDP-Koalition in einem Bundesland am Ende, und schon die Eröffnungsrede von Gries in Darmstadt machte klar, daß dem Parteitag nur eine taktische, keine programmatische Anstrengung abverlangt wurde, vor allem keine, die etwas mit hessischer Politik zu tun haben würde.
Zwar behauptete Gries namens der Mehrheit des Landesvorstands: "Für die Fortsetzung einer Koalition mit der SPD in Hessen fehlt das Vertrauen in die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Sozialdemokraten." Doch Belege dafür konnte er nicht nennen. Vergeblich fragte Andreas von Schoeler, Parlamentarischer Bonner Staatssekretär und stellvertretender hessischer FDP-Vorsitzender, seit wann denn das gelte - seit zehn Jahren, zehn Monaten oder den zehn Tagen seit Hamburg.
Was Gries statt dessen nannte, war die "Bewältigung der schwierigen wirtschafts- und S.22 gesellschaftspolitischen Entscheidungen der achtziger Jahre", Fragen also, die nicht in Wiesbaden, sondern in Bonn zu beantworten sind. Jedoch, was Bonn angeht, erhob die Gries-Mehrheit der hessischen FDP die "unverzichtbare Forderung", daß eine CDU/FDP-Koalition in Wiesbaden "die von der FDP mitgetragene Bundesregierung auch im Bundesrat unterstützt" - mit Alfred Dregger für Helmut Schmidt, ein Gries-Gram, wer daran nicht glaubt.
Wo es wirklich langgeht mit den hessischen Liberalen, machte Klaus-Jürgen Hoffie klar, der seit einem Jahr im hessischen Kabinett als Wirtschaftsminister fungiert und dem die ganze Richtung schon seit 1977 nicht mehr paßt. Damals ging den Sozialdemokraten die Metropole Frankfurt an die CDU verloren, und Hoffie sah voraus, daß dies womöglich der Anfang vom Ende einer SPD-Ära war, die unter dem Motto "Hessen vorn" gestanden hatte.
Für ihn galt von da an, daß wenigstens die FDP vorn und dran bleibt, und es war seine konservative Truppe, die dafür stand, daß erst einmal kommunale Koalitionen mit der CDU geknüpft wurden, wo immer es ging. In Darmstadt ließ Hoffie vergangene Woche nicht ein gutes Haar am sozialdemokratischen Partner, dem er einen Rückfall in die Zeit "vor Godesberg" vorwarf: "Da läßt die sozialistische Klamottenkiste grüßen."
Aus welcher Kiste Dregger grüßen läßt, der den hessischen Liberalen nachsagt, sie hätten gemeinsam mit der SPD die "übelste, niederträchtigste, hinterhältigste und schädlichste Politik" beispielsweise im Bildungswesen betrieben, umschrieb Hoffie mit einem selbstgefertigten Aphorismus: "Die CDU ist keine Macht der Liebe, sie wird durch die Liebe zur Macht getrieben" - jedwede Macht aber "soll gebrochen bleiben".
Da half der Hinweis des sozialliberalen Schoeler, das bedeute doch wohl, "den Wahlkampf gegen uns selbst zu führen", nur noch wenig. Zwar fand Schoeler, er habe "mindestens zehn Delegierte umgedreht", doch blieb die Mehrheit dabei, daß "die Wahl Dreggers die geschickteste Form der Verhinderung seiner Politik" darstellt, wie Jurist Schoeler ironisch formulierte.
Die hessischen "Jungen Liberalen" sind sich da schon sicher. Für sie "eröffnet gerade das rechte Image von Dregger der FDP die Chance, Profil als ausgleichende Kraft und als die einzige Verfechterin des Liberalismus zu gewinnen". Und: "Dieser Gesichtspunkt könnte zu einem wichtigen Wahlmotiv zugunsten der FDP werden."
Einmal auf den rechten Trab gebracht, fanden immer mehr Parteitagsredner ein Argument für diesen Wechselkurs. Sogar die französischen Sozialisten mußten dafür herhalten, daß mit den Sozialdemokraten in Hessen nichts mehr anzufangen ist. Einer kannte auch schon den massenpsychologischen Effekt der Kehrtwendung: Dadurch, endlich, "werden die Wähler wieder auf die FDP aufmerksam".
Bei der Diskussion um "die weitere Existenz und die Gestaltungsmöglichkeit der Partei", so Gries, war nur noch von der Existenz die Rede; Gestaltung, Programm und politische Position blieben Nebensache.
Die Delegierten diskutierten, bis sie schwarz wurden und trafen nach sechs Stunden eine Entscheidung, die schier "von Angst diktiert" war, die FDP-Generalsekretär Günter Verheugen schon vorab definiert hatte - die Angst, daß mit der SPD zusammen derzeit Wahlen nicht zu gewinnen sind.