Sozialdumping Leben im Laster
Es ist Sonntagmittag, ein nasskalter Tag in den Niederlanden. Der unbefestigte Abstellplatz im Industriegebiet am Rande von Venlo scheint menschenleer. Nur Lkw stehen dicht an dicht. Und doch leben Menschen hier, man sieht sie nur nicht.
Menschen wie Gregor, ein schmaler, junger Mann von 25 Jahren, mit kurz geschoren Haaren. Wie andere Fahrer aus Osteuropa wartet er das Wochenende über in seinem Laster darauf, am Montag weiterfahren zu dürfen. Seit fast fünf Jahren arbeitet der Rumäne als Kraftfahrer, seit sieben Monaten für die rumänische Niederlassung der österreichischen Spedition Hödlmayr. Das Familienunternehmen hat sich auf Fahrzeugtransporte spezialisiert.
Gregor hat keine festen Touren. Er transportiert die Fahrzeuge nicht nur von einem Ort zum anderen. Er fährt sie auch auf seinen Transporter und wieder runter. Damit er die erlaubte Arbeitszeit von zehn Stunden täglich nicht überschreitet, drückt er den Tacho oft auf Pause, während er den Lkw belädt. Mit Wartezeiten kommt er so auf bis zu 15 Stunden Schichtzeit am Tag, sagt er.
Am Montag hat er im niederländischen Born im Regen Autos auf den Transporter geladen, ein paar Kilometer zu einem anderen Platz gefahren und abgeladen. Immer wieder. Hin und her. Insgesamt 25 Stück. Er hat sich dabei erkältet, er fühlt sich krank, er friert. Und doch wird er morgen wieder fahren. "Wenn ich nicht fahre", sagt er, "verdiene ich kein Geld."
Fernfahrer wie Gregor leben nicht für Tage, sondern für Wochen und Monate in ihrem Lkw, ihre Arbeitsbedingungen sind miserabel, typisch für eine Branche, die wie kaum eine andere als Synonym für die Globalisierung, den europäischen Binnenmarkt und die Freizügigkeit in Europa steht. Mit der Öffnung der Grenzen, vor allem in Osteuropa, erlebte auch das europäische Transportgewerbe einen Aufschwung. Millionen Menschen verdienen in Europa ihren Unterhalt als Berufskraftfahrer, ihre Zahl kennt niemand genau. Im vergangenen Jahr wurden allein in Deutschland mehr als 3,5 Milliarden Tonnen Güter – gut drei Viertel des Gesamtaufkommens – auf Straßen transportiert.
Man könnte den Güterkraftverkehr als gelungenes Beispiel für die europäische Integration ansehen. Gäbe es nicht die andere Seite des Erfolgs: Soziale Mindeststandards existieren meistens nur auf dem Papier, ein Teil der osteuropäischen Arbeiter fahren für einen Hungerlohn.
Auf den Fernstraßen herrscht ein harter Wettbewerb. Der Druck wird von oben nach unten weitergereicht, von den Auftraggebern über die Speditionen, bis er schließlich im Fahrerhaus ankommt.
Bei Menschen wie Gregor.
Gregor heißt nicht Gregor. Aber sein Name ist so austauschbar wie der Mensch im Fahrerhaus. Sein Arbeitsvertrag gelte immer nur vier Wochen, dann erhalte er einen neuen, sagt Gregor.
Am Wochenende steigt er in seiner rumänischen Heimat mit anderen Fahrern in einen Kleinbus. 26 Stunden dauert dann die Fahrt nach Tongeren in Belgien. Dort übernachtet er im Fahrerhaus. Vier Wochen lang ist es sein Zuhause, er transportiert Autos durch die Niederlande, Belgien und Deutschland, bevor er mit dem Minibus zurückreist und nach zwei Wochen Heimaturlaub die nächste Tour beginnt.
Als Grundgehalt erhält Gregor den rumänischen Mindestlohn von 1050 Lei, rund 233 Euro. Dazu kommen Zulagen, sagt der Rumäne. Bis zu 9000 Kilometer fährt er im Monat und verdient dann 1400 bis 1500 Euro.
Sein Arbeitgeber Hödlmayr fährt für alle bekannten Autohersteller von Daimler über VW bis zu Hyundai. Die Spedition verfügt über ein weites Netz von Niederlassungen, von den Niederlanden bis ans Schwarze Meer in die Türkei und Georgien.
Im internationalen Fernverkehr ist Sozialdumping alltäglich. Niederländische, belgische, dänische oder immer häufiger auch deutsche Spediteure verlagern Teile ihrer Flotte über Tochterfirmen nach Osteuropa, um damit die westeuropäischen Sozialstandards und Löhne zu umgehen. Briefkastenfirmen von Speditionen überziehen Europa.
Gezahlt wird den osteuropäischen Fahrern häufig der heimatliche Mindestlohn von wenigen Hundert Euro und dazu Spesen oder Zulagen, auch wenn sie fast nur durch Westeuropa fahren. Sie leben vom Grundgehalt, ihre Familien ernähren sie mit dem Geld, das eigentlich für die Verpflegung der Fahrer auf den Touren gedacht ist. So gewährt etwa ein vorliegender Arbeitsvertrag eines moldawischen Fahrers mit dem dortigen Tochterunternehmen einer niederländischen Spedition in Chișinău einen Monatslohn von 100 Euro netto. Plus rund 30 Euro Spesen für jeden Tag im Lkw, die aber nicht vertraglich fixiert sind.
Ein Teil der Fahrer lebt über Monate auf ihren Touren durch Westeuropa im Fahrerhaus, nachts abgestellt am Straßenrand auf Parkplätzen und in Gewerbegebieten. Wie viele unter solch menschenunwürdigen Umständen arbeiten, weiß niemand. Sicher ist nur, dass es keine bedauerlichen Einzelfälle sind.
Jahrzehntelang waren die Transportmärkte in Europa geschützte Reservate. Doch mit dem Ausbau des europäischen Binnenmarktes zerbröselten auch die nationalen Regulierungen. Mit der Erweiterung der EU 2004 und dem anschließenden Einzug der Dienstleistungsfreiheit in der gesamten EU setzte sich nach und nach auch der Wettbewerb im Transportgewerbe durch.
Eine Studie im Auftrag des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des EU-Parlaments beschreibt die Arbeitsbedingungen im internationalen Kraftverkehr. "Der Güterkraftverkehr hat sich zu einer Art Labor für innovative Beschäftigungsformen entwickelt", heißt es in der Studie. "Aber viele dieser Praktiken kann man als Sozialdumping definieren, weil sie die ungleichen Arbeits- und Lohnkosten zwischen den unterschiedlichen Regionen der EU ausnutzen."
Die Frage, wie es um das Wohl von Schweinen auf ihrem Transport vom Mastbetrieb zum Schlachthof bestellt ist, beschäftigt so manchen Bürger. Die Arbeitsbedingungen des Fahrers vorn im Fahrerhaus interessieren weniger.
Edwin Atema kümmert sich um sie, er ist vom niederländischen Venlo knapp hundert Kilometer nach Tongeren in Belgien gefahren. Nun steht der Niederländer in einem Gewerbegebiet am Rande der ältesten Stadt Belgiens. Der 36-jährige Gewerkschafter hat die Kapuzen seines lilafarbenen Hoodies und der grauen Sweatshirt-Jacke über die kurz geschorenen Haare gezogen, um sich vor dem Regen zu schützen. Mit 18 machte er seine Berufskraftfahrerlizenz, zehn Jahre saß er auf einem Lkw. Nebenher studierte er Jura. Dann bekam er einen Halbtagsjob der niederländischen Transportgewerkschaft FNV.
Seit 2012 ist Atema Vollzeitgewerkschafter und hat eine Mission: den Kampf gegen die Ausbeutung im internationalen Fernverkehr. "Es hilft nichts, wenn wir uns nur um unsere niederländischen Fahrer kümmern", sagt Atema. "Wir müssen uns auch um die osteuropäischen Fahrer kümmern, die überwiegend in unseren Ländern arbeiten."
Atema hat sich für den Straßenkampf entschieden. Ihn in seinem Büro erreichen zu wollen, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. In den vergangenen zwölf Monaten fuhr er 90 000 Kilometer mit seinem roten Seat Leon, Wasserflaschen auf der Rückbank, ein zerschrammtes Notebook auf dem Boden, im Kofferraum Flyer in verschiedenen osteuropäischen Sprachen, in denen die Fahrer über ihre Rechte aufgeklärt werden.
An den Verladestationen und auf den Rastplätzen spricht Atema die Fahrer an, er protokolliert ihre Aussagen und versucht, an Dokumente heranzukommen, an Arbeitsverträge, Frachtpapiere, Einsatzpläne. Über Monate hält Atema Kontakt zu den Fahrern. Wenn sie für osteuropäische Tochterfirmen von niederländischen Spediteuren zu Ostkonditionen hauptsächlich nationale Transporte im Westen durchführen, versucht er die Fahrer davon zu überzeugen, vor Gerichten den niederländischen Tariflohn einzufordern. Er hat damit bereits Erfolge erzielt.
"Unsere beste Waffe ist die Öffentlichkeit", sagt Atema. Er will das Elend sichtbar machen, auf das er trifft. Er kann viele Geschichten erzählen. Wie die von dem bulgarischen Fahrer im Hafen von Rotterdam, der dort ein Jahr lang ununterbrochen in seinem Lkw lebte und ausschließlich Transporte in den Niederlanden fuhr.
Atema reist kreuz und quer durch Europa, nach Deutschland, Bulgarien oder Rumänien. Er glaubt aber, dass es nicht reicht, allein an die Arbeitgeber der Logistikbranche heranzugehen. Er will Druck auf ihre Auftraggeber ausüben. Die großen Konzerne, die von den günstigen Transportkosten profitieren, sollen sich auch für die Arbeitsbedingungen ihrer Speditionen verantwortlich fühlen.
Mittlerweile arbeiten neun Leute in seinem Team im Auftrag der FNV. Atema hat ein Netzwerk von Kontakten mit Gewerkschaftskollegen in Ost- und Westeuropa aufgezogen, die kooperieren. An diesem Wochenende sind Gewerkschafter aus Rumänien und Polen mit ihm unterwegs. Seit Monaten hält das Team von Atema nun schon Kontakt zu Fahrern von Hödlmayr, dem Spediteur der Automobilindustrie.
Laut einer Studie des französischen Forschungsinstituts Comité National Routier entfielen 2014 ein Viertel aller internationalen Transporte in der EU auf Polen. Auf Platz drei liegt Deutschland mit Verlusten, dahinter Rumänien, Litauen und Ungarn mit deutlichen Zuwächsen.
Doch wie aussagekräftig ist eine solche Statistik?
Die Nummernschilder an den Lkw sagen nur noch bedingt etwas darüber aus, in welchem Land die tatsächlichen Eigentümer sitzen. Die Schriftzüge auf den Planen verraten nicht immer, wer tatsächlich den Anhänger zieht. Logistikfirmen wie DHL oder DB Schenker, die führenden Firmen im europäischen Landverkehr, vergeben viele Aufträge komplett oder in Teilen an Spediteure und sogenannte Frachtführer, die sie in ihrem Namen ausführen.
Zugleich entstanden in Osteuropa aber auch große Transportfirmen, die vor allem die westeuropäischen Märkte bedienen. Der ungarische Spediteur Waberer's gehört mit 3500 Lkw und über 500 Millionen Euro Jahresumsatz zu den Großen in Europa. 80 Prozent seiner Touren wickelt der Konzern auf westeuropäischen Frachtmärkten ab. Warum die ehemalige Staatsspedition seit 2009 rasant wuchs und andere europäische Firmen nicht, erklärte Inhaber György Waberer vergangenes Jahr in einem Interview so: "Ich vermute, dass viele Transportunternehmen in Europa zu lange beim Senken der Löhne ihrer Mitarbeiter gezögert haben."
40 Prozent der Fahrleistung, die die deutsche Mautstatistik erfasst, werden mittlerweile von ausländischen Lkw erbracht, drei Viertel davon aus Osteuropa. Die Umsatzrenditen der gut 50 000 deutschen, meist mittelständischen Unternehmen stagnieren seit Jahren ebenso wie die Löhne der fast 500 000 Fahrer im gewerblichen Güterverkehr. Die Branche klagt über Fahrermangel, die Belegschaften sind überaltert, die Arbeitsbedingungen hart. Weil die Firmen für internationale Touren häufig zu teuer sind, ziehen sich viele auf den nationalen Transportmarkt zurück, der noch immer den Großteil des Geschäfts ausmacht.
Wer die Schuld für die Misere bei den osteuropäischen Fahrern sucht, verwechselt Ursache und Wirkung. "Es liegt an der Mentalität einer Gesellschaft, in der bei Bürgern und Unternehmen nur noch der niedrigste Preis zählt", sagt ein Transportunternehmer aus dem Raum Köln, der namentlich nicht genannt werden will. Nach 40 Jahren Zusammenarbeit hat er gerade einen Kunden verloren, weil ihn ein Konkurrent aus Belgien mit in Rumänien zugelassenen Fahrzeugen um 50 Cent pro Tonne Fracht unterboten hat.
Rund um die große Halle im Gewerbegebiet von Tongeren stehen die Sattelzüge aufgereiht, beladen mit Kleinwagen, Luxuslimousinen und Kleintransportern. Hier kommen auch Fahrer von Hödlmayr aus Rumänien am Wochenende an, wie sie sagen, um am Montagmorgen mit den Lkw weiterzufahren.
Ein Standardcontainer an der Hallenwand, 13,9 Quadratmeter groß, dient als Aufenthaltsraum. Um einen weißen Tisch sitzen mehr als ein halbes Dutzend Männer auf abgewetzten Stühlen, als Edwin Atema eintritt. Schnell füllt sich der Raum, schließlich sind 18 rumänische Fahrer anwesend. Atema befragt sie zu ihren Arbeitsbedingungen und notiert die Antworten auf einem Fragebogen.
"In welchen Ländern üben Sie Ihre Arbeit aus?"
"Belgien, Niederlande, Dänemark, 80 Prozent in Deutschland."
Ein Fahrer arbeitet seit 14 Jahren bei Hödlmayr, die meisten sind seit ein bis sieben Jahren dabei. Einige haben feste Verträge, andere sagen, sie bekämen jeden Monat einen neuen Kontrakt. Bezahlt würde Mindestlohn und nach Kilometern. Wenn sie beim Beladen ein Fahrzeug beschädigten, übernähme die Firma die Kosten bis zu 1000 Euro, sagen sie. Lägen die Kosten des Schadens höher, werde ihnen zehn Prozent davon vom Lohn abgezogen.
Ein vorliegender Arbeitsvertrag eines rumänischen Fahrers mit Hödlmayr-Lazar Romania aus dem Sommer 2015 läuft auf genau vier Wochen. Als Grundgehalt sind 1050 Lei brutto im Monat vereinbart. Auf einer dazugehörigen Seite mit dem Titel "Informationen" sind die Rubriken Entschädigungen und weitere Zulagen nicht ausgefüllt. Der Fahrer hat eine Probezeit von fünf Tagen, die Kündigungsfrist beträgt 20 Tage, und garantiert ist ein Urlaubsanspruch von 21 Arbeitstagen im Jahr.
Nach 20 Tagen wurde der Vertrag mit einem einseitigen Dokument um einen weiteren Monat verlängert.
In einem weiteren "Garantievertrag" hat sich der Fahrer verpflichtet, von seinem Grundgehalt in Höhe von umgerechnet rund 233 Euro monatlich 100 Euro auf ein Sonderkonto zugunsten der Firma zu zahlen – bis sich dort ein Betrag von maximal 1000 Euro angesammelt hat. Davon sollen Schäden, die der Mitarbeiter eventuell verursacht, bezahlt werden. Scheidet er aus dem Unternehmen aus, bekommt er das Geld mit Zinsen zurückgezahlt. Er hat auch eine strikte Vertraulichkeitserklärung unterschrieben, die bei ihrem Bruch fristlose Kündigung androht.
Die Behauptung, dass die rumänische Tochter von Hödlmayr Fahrer mit Arbeitsverträgen von vier Wochen Laufzeit beschäftige, "ist nicht zutreffend", sagt das Unternehmen. Man verfolge an allen Standorten des Konzerns die Strategie, die Mitarbeiter langfristig an das Unternehmen zu binden.
Hödlmayr zahle "deutlich höhere Gehälter" als den rumänischen Mindestlohn: "Dazu kommen noch Prämien für Schadensvermeidung, geringen Dieselverbrauch und im Falle von Auslandseinsätzen Tagesdiäten." Man halte sich strikt an alle Richtlinien. "Eine Zulage für gefahrene Kilometer wird nicht bezahlt", sagt Hödlmayr. Überprüfungen durch Behörden hätten nie zu Beanstandungen geführt.
Dass rumänische Fahrer in Minibussen nach Tongeren gefahren würden, um dort Lkw zu übernehmen, träfe "definitiv nicht zu", so Hödlmayr: "In Ausnahmefällen wie bei geplanten Urlauben oder bei Feiertagen wird ein Bustransfer von Westeuropa nach Rumänien angeboten." Abhängig von der Auftragslage für Rücktransporte könnten auch Touren von vier Wochen vorkommen. In der Regel führten die Fahrer einen Transport nach Westeuropa durch und kämen mit einem weiteren Transport wieder zurück nach Rumänien.
Es treffe auch "definitiv nicht zu", dass Fahrer bei Schadenssummen über tausend Euro mit zehn Prozent beteiligt würden. "Der Fahrer erleidet nur Einbußen bei der Zulage für Schadensfreiheit. Dies erfolgt unabhängig von der verursachten Schadenshöhe", heißt es in der Stellungnahme.
Natürlich geben alle großen Autokonzerne ihren Lieferanten und Geschäftspartnern Verhaltensregeln auf. Bei der Daimler AG heißt die Broschüre: "Anständige Geschäfte. Unsere gemeinsame Verantwortung." Natürlich verlangen sie von ihren Partnern bestmögliche Arbeitsbedingungen, die Einhaltung von "Fairness bei Löhnen, Arbeitszeiten und Sozialleistungen". Nur im wirklichen Leben spielt das kaum eine Rolle. "Wenn wir bei BMW oder Mercedes laden, wird darauf geachtet, dass der Transporter nur nicht überladen wird. Nach unseren Arbeitsbedingungen fragt keiner", sagen die Fahrer.
Die Ladeberichte von Mercedes für Hödlmayr-Lkw, die für den Konzern fahren, enthalten viele Fragen zum Zustand des Sattelzugs und darüber, wie er geladen wird. Ist der Autotransporter schmutzig oder rostig? Gibt es im Ladebereich scharfe Kanten? Werden die Fahrzeuge im richtigen Abstand draufgestellt und die Radkeile ordnungsgemäß befestigt? Ausgefranste Spanngurte oder beschädigte Scheinwerfer an der Zugmaschine werden mit Detailfotos dokumentiert.
Genau fünf Fragen beschäftigen sich mit den Fahrern: Tragen sie Arbeitskleidung? Ist sie sauber? Ist das Schuhwerk korrekt? Benutzen sie Handschuhe, wenn sie am Lkw hantieren? Tragen sie Schmuck, Uhr oder Ringe? Die könnten die wertvollen Limousinen zerkratzen.
"Wir überprüfen Lieferanten und Auftragnehmer regelmäßig", sagt die Daimler AG. Dabei würden auch Themen wie Arbeitsbedingungen, Bezahlung oder illegale Beschäftigung geprüft. Der Konzern gehe jedem Hinweis auf Fehlverhalten systematisch nach und stelle jeden Missbrauch, den man finde, ab.
Eine Umfrage des Bundesamtes für Güterverkehr unter Fernfahrern ergab, dass 47 Prozent der rumänischen Fahrer seltener als einmal im Monat zu Hause sind, von ihren bulgarischen Kollegen waren es 42 Prozent.
Im Belgien leitet Raymond Lausberg eine 18-köpfige Schwerlastkontrollgruppe der Autobahnpolizei in Battice. Der Hauptinspektor kämpft seit Jahren gegen die schlechten Arbeitsbedingungen der Fernfahrer. Mit einer Kontrollsoftware auf dem Laptop liest er die digitalen Tachos der Lkw aus. Auf einen Blick kann er sehen, wie lange und wo die Fahrer unterwegs waren. Immer wieder stoppt Lausberg osteuropäische Fahrer, die zwei, drei Monate lang am Stück in Westeuropa unterwegs sind. "Mein Spitzenreiter hat sechs Monate ununterbrochen im Lkw gelebt."
Wenn es auf einem Rastplatz keine Toiletten gibt, müssen Büsche als Ersatz herhalten. Und wenn es Toiletten gibt, ist ihre regelmäßige Benutzung für die Fahrer oft zu teuer. Aus dem gleichen Grund ersetzen Wasserkanister auf den Ladekanten die Duschen in den Rasthöfen.
Artikel 31 der Charta der Grundrechte garantiert den EU-Bürgern: "Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen."
Die Verordnung 561 aus dem Jahr 2006 etwa verbietet die Bezahlung von Fernfahrern nach Kilometern, weil es die Verkehrssicherheit gefährdet. Sie regelt in vielen Paragrafen Lenkzeiten und Lenkdauer, Fahrtunterbrechungen, Ruhepausen und Ruhezeiten, täglich und wöchentlich, regelmäßig und reduziert. Die Regeln sollen nicht nur die Fahrer schützen, sondern auch für Sicherheit auf den Straßen in der gesamten EU sorgen.
Sollen – die Praxis sieht anders aus: Jeden Werktag gibt es mehrere schwere Lkw-Unfälle auf deutschen Autobahnen. Dabei sind nicht einmal übermüdete Fahrer, die ihre Lenkzeiten überschritten haben, das größte Risiko. Es ist die fatale Mischung aus übervollen Straßen, dem Zeitdruck der Fahrer und der Unaufmerksamkeit an einem Arbeitsplatz, der zugleich Wohnzimmer und Schlafplatz ist. Anfang März führte ein Fahrertausch während voller Fahrt auf der A 71 bei Erfurt zu einem Unfall mit Schwerverletzten. Ein 58 Jahre alter rumänischer Fahrer eines Sattelzuges und sein 46 Jahre alter Beifahrer hatten während der Fahrt die Plätze getauscht.
Die EU konnte sich bisher nicht einmal auf eine verbindliche Definition für den Begriff "Sozialdumping" einigen. Zudem muss, was die EU nicht erlaubt, in den Mitgliedstaaten nicht zwingend bestraft werden, denn sie sind für die Kontrolle und Sanktionierung der Verstöße zuständig. Am Ende ist vieles vage genug, um es zur Auslegungssache zu erklären. Warum sollten Staaten – im Westen wie im Osten – bekämpfen, was der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Transportunternehmen dient?
Und hinzu kommt das Lohngefälle: Laut dem europäischen Statistikamt Eurostat verdient ein Fahrer bei einem mittelgroßen deutschen Unternehmen im Schnitt rund 2300 Euro im Monat, sein Kollege in Finnland etwa 2800 Euro, ein Däne sogar gut 4000 Euro. Auf der anderen Seite stehen die Osteuropäer. Ein vergleichbarer Fahrer erhält in Polen rund 740 Euro. Für einen Kollegen in Bulgarien weist die Statistik 395 Euro Monatslohn aus.
Anfang März verkündete die EU-Kommission, dass sie den Kampf gegen Sozialdumping und Billiglöhne in Europa aufnehmen werde. Eine Woche später schob sie nach, dass der Transportsektor "wegen besonderer rechtlicher Fragen und Schwierigkeiten" dabei erst einmal außen vor bleibt. Der deutsche Mindestlohn, der auch für ausländische Lastwagenfahrer gelten sollte, ist in diesem Bereich ausgesetzt. In Brüssel durchläuft er gerade ein EU-Vertragsverletzungsverfahren.
Doch auch in Deutschland halten sich die Kontrollen im Rahmen. Rund 500 000 Lastwagen wurden im vergangenen Jahr durch das Bundesamt für Güterverkehr überprüft. Das klingt viel. Aber Hunderttausende Lkw rauschen an nur einem Tag durch Deutschland.
Geholfen wäre den Fahrern schon, wenn die bestehenden Sozialvorschriften europaweit einheitlich interpretiert und umgesetzt würden. So ist seit Jahren umstritten, ob die entsprechende EU-Verordnung zulässt, dass die vorgeschriebene regelmäßige wöchentliche Ruhezeit von 45 Stunden überhaupt in der Fahrerkabine verbracht werden darf – wie es heute bei den osteuropäischen Fahrern üblich ist.
Vergangene Woche forderten die Verkehrsexperten aller Bundestagsfraktionen Verkehrsminister Alexander Dobrindt auf, in den kommenden fünf Wochen einen Regelungsvorschlag für ein entsprechendes nationales Verbot vorzulegen. Bisher setzt Dobrindt auf eine europäische Lösung, die allerdings in weiter Ferne ist.
Raymond Lausberg, der Hauptinspektor aus dem belgischen Battice, ging das Problem im Alleingang an. Vor drei Jahren begann er Bußgelder gegen Firmen zu verhängen, deren Fahrer ihre 45-Stunden-Ruhezeit im Lkw verbrachten. Ein Jahr später wurde das Verbot in Belgien nationales Recht, mittlerweile folgten auch Frankreich und die Niederlande dem Beispiel. Die EU-Kommission billigte das Vorgehen.
Nun sind die Parkplätze in Belgien am Wochenende leer, dafür aber ein paar Kilometer weiter, auf der deutschen Seite der Grenze, überfüllt. Für die Zögerlichkeit der Deutschen hat Lausberg kein Verständnis. Denn für die schlimmsten Auswüchse, denen er in seinen Kontrollen begegnet, hat er nur einen Satz: "Das ist die Rückkehr der Sklaverei in Europa."