Land der Streiks
Es ist, als ob die Franzosen den übrigen Europäern pünktlich zur Fußball-EM bestätigen wollten, dass das Klischee vom Land der Streiks und Revolutionen eben doch stimmt. Im Kampf gegen eine Arbeitsmarktreform lässt die Gewerkschaft CGT im ganzen Land Raffinerien blockieren, bald darauf geht manchen Tankstellen der Sprit aus. Diese Woche traf es die Eisenbahn und die Pariser Metro. Die entscheidende Frage lautet aber nicht, ob die Fans zu den Spielen gelangen werden. Sie lautet, ob Frankreich reformierbar ist – oder ob es den Populisten und Radikalen in die Hände fällt.
Dabei geht es auch um die Zukunft der EU, deren Kern bereits durch den drohenden Brexit gefährdet ist. Frankreich kann seine traditionelle Rolle als Motor der EU an der Seite der Deutschen seit Jahren nicht mehr ausfüllen, es ist wirtschaftlich und politisch zu schwach. Wenn es nun die Kraft zur Selbsterneuerung nicht findet, könnte es als entscheidende Stimme in Europa ganz verloren gehen.
Die aktuellen Bilder von brennenden Reifen, Tränengas und Tausenden Demonstranten sind Teil eines französischen Revolutionsnarrativs, das von 1789 über den Mai 1968 bis zu den Studentenprotesten in den Neunziger- und Nullerjahren reicht. Schon viele Regierungen sind unter dem Druck der Straße eingeknickt. Das Außergewöhnliche ist diesmal, dass der organisierte Widerstand eine Regierung der Sozialisten trifft.
Doch die martialischen Bilder verdecken, dass es sich um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Schwachen handelt. Auf der einen Seite steht die Regierung, die ein Gesetz verteidigt, das zwei Drittel der Franzosen ablehnen. Auf der anderen Seite kämpft eine Gewerkschaft, die sich zum Kommunismus bekennt, nur eine kleine Minderheit der Arbeitnehmer vertritt und gegen den eigenen Bedeutungsverlust ankämpft. 60 Prozent der Franzosen sprechen sich in jüngsten Umfragen gegen die Streiks aus.
Der Gegenstand der Auseinandersetzung hat die Aufregung eigentlich nicht verdient. Das Gesetz soll jenes starre Arbeitsrecht ein wenig lockern, das den Älteren unkündbare Verträge sichert und viele Junge in prekäre Arbeitsverträge zwingt, sofern sie überhaupt einen Job finden. Die Vergleiche mit Gerhard Schröders weitreichender Agenda 2010, die oft angestellt werden, haben keine Berechtigung.
Das eigentliche Problem ist die tiefe Vertrauenskrise zwischen Bürgern und Regierenden. Präsident Hollande hat es seit Amtsantritt nicht geschafft, den Franzosen zu erklären, was er mit dem Land eigentlich vorhat. Die ersten beiden Jahre seiner Amtszeit vergeudete er mit Nichtstun. Erst im letzten Drittel seiner Amtszeit ließ er zu, dass sein Premier Manuel Valls und Wirtschaftsminister Emmanuel Macron beherztere Reformen angingen. Diese mussten in einem undemokratischen Verfahren ohne Abstimmung durch das Parlament gepaukt werden – kein Wunder, dass die Bevölkerung ihnen misstraut.
Hollande kann im aktuellen Konflikt schon deshalb nicht zurückweichen, weil der kümmerliche Rest seiner Präsidentschaft dann endgültig in Trümmern läge. Aber er ist berüchtigt für seine Wankelmütigkeit. Laut einer aktuellen Umfrage würden nur 14 Prozent Hollande wählen, falls er nächstes Jahr überhaupt antritt. Halb so viele, wie sich für Marine Le Pen aussprechen, die Anführerin des Front National. Sie ist ebenfalls gegen das Arbeitsgesetz, was zeigt, wie wenig die alten Links-rechts-Muster noch taugen. In Frankreich, wie im Rest Europas, verläuft der Graben zwischen Populisten und Reformern, wachsenden Rändern und bedrängtem Establishment.
Die Populisten möchten den Franzosen einreden, dass sie außerhalb Europas und abgekoppelt von einer globalisierten Welt erfolgreicher wären. Wenn die Populisten die Auseinandersetzung gewännen und Marine Le Pen gestärkt in den Präsidentschaftswahlkampf zöge, müsste man mehr denn je um die Zukunft Europas fürchten. Die Gefahr wäre groß, dass das Land in larmoyanter Selbstbespiegelung verharrte und sich als Antwort auf das niedrige Wachstum und die hohen Arbeitslosenzahlen weiter einigelte. Das würde die Fliehkräfte auf dem Kontinent noch verstärken.
Hollande muss deshalb standfest bleiben. Wenigstens einmal sollte er den Bürgern glaubhaft erklären, warum es dem Land nutzt, wenn es sich verändert. Nur wenn die Reformer sich durchsetzen, kann Frankreich hoffen, den Teufelskreis aus minimalem Wachstum und hoher Arbeitslosigkeit zu durchbrechen und in Europa wieder ein starker Player zu werden, der auf Augenhöhe mit Deutschland agiert. Das ist auch für die EU eine Frage des Überlebens.